Armin Nassehi | Interview |

Über befreiende Leseerlebnisse und unsägliche Bücher

Sieben Fragen an Armin Nassehi

Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein:e andere:r?

Das ist schwer zu sagen. Im Studium – ich habe 1979 ein Pädagogik-Studium begonnen, bin dann aber recht schnell in die Philosophie gewechselt und dann erst zusätzlich in die Soziologie – war für mich über mehrere Jahre die Lektüre von Martin Heideggers Sein und Zeit sehr wichtig. Ob ich dadurch ein anderer geworden bin? Das lässt sich mangels Vergleichsfall schwer sagen, aber geprägt hat mich daran ohne Zweifel die methodisch kontrollierte Form der Argumentation und die radikale Attitüde. Ich behaupte damit nicht, ein Heidegger-Experte (geworden) zu sein oder dieses Buch (das ja ein Fragment ist) bis heute richtig verstanden zu haben. Aber es hat mich gerade wegen seiner methodischen Strenge und radikalen Attitüde sehr geprägt.

Etwas später habe ich dann ähnliche Erfahrungen mit der Kritik der reinen Vernunft gemacht, dessen methodische Strenge noch extremer ist und das für mich insofern prägend war, als in diesem Buch das Verhältnis von Problem und Lösung so unglaublich transparent wird. Es wird nicht gesagt, was ist, sondern nur (sic!) darüber nachgedacht, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um etwas denken zu können, wie also eine Setzung, die Bedingung des Denkens ist, selbst gedacht werden muss, um denken zu können. Das mag weit von der Soziologie entfernt erscheinen, die erst zum Ende meines Studiums für mich relevant geworden ist. Aber diese Erfahrung ist für mich genau genommen bis heute die Grunderfahrung dafür, wie soziologische Theoriebildung an sich die Möglichkeitsbedingung ihrer selbst und der Gegenstandskonstitution zugleich voraussetzen und entwickeln muss. Dafür gibt es derzeit leider kaum einen Sensus.

In einem sozialwissenschaftlichen Studium meiner Generation habe ich natürlich all jene Lektüren absolviert, die sich in „kritischer“ Absicht und milieubedingter Selbstverständlichkeit wie auch Geschlossenheit so ergaben. Erinnerlich ist mir dabei als einer der frühesten Texte vor allem eine, ich würde sagen: romantische oder romantisierende Lektüre von Marx‘ Frühschriften, die auf einen 19-, 20-Jährigen einen ziemlichen Eindruck machten. Mancher akademische Lehrer neigte sogar zu deklamierender Lektüre. All das hat mich ganz sicher zu einem anderen gemacht – es war ja immerhin ein Studium. Auf die für mich dann später sehr prägende und befreiende Lektüre der Systemtheorie kam ich erst ganz am Ende des Studiums. Hier spielten neben vielem anderen mehrere Lektüren von Soziale Systeme die für mich entscheidende Rolle. Die Grundlagen all dessen habe ich erst später systematisch erlernt.

Außer: Husserl. Ich habe neben anderem vor allem die von Heidegger herausgegebenen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins geradezu verschlungen, mir als Student sogar eine Erstausgabe (1928) gegönnt. Die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins war für mich der Hauptschlüssel für eine operative Denkweise. Eine Art Prozeduralisierung der Bewusstseinsphilosophie, gepaart mit einer ontologischen Bestimmung der für sich selbst unsichtbaren Urimpressionalität der Gegenwart bei gleichzeitiger phänomenologischer, darin aber durchaus empirischer Beschreibung der Prozesshaftigkeit allen Ordnungsaufbaus – das ist für mich bis heute die entscheidende Denkfigur, die eigentlich alles enthält, was mich interessiert – und zwar sowohl in der Theoriebildung als auch in der empirischen Forschung: wie sich durch ereignisbasierte Formen des Nacheinanders von Elementen bestimmte Pfadabhängigkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Selektivitäten ordnen. Dass das für den Bewusstseinsphilosophen Husserl nur Bewusstseinsereignisse, i.e. Phänomene sind und für einen systemtheoretischen Soziologen auch kommunikative Ereignisse, die nach derselben Logik fungieren, ergibt sich dann von selbst.

Ein nachgerade blitzendes Leseerlebnis war für mich dann, dass ich die Nähe der Luhmann‘schen Systemtheorie zu Husserls temporalisierter Ereignisphänomenologie erst allmählich entdeckt habe, obwohl es doch so explizit da steht. Eine parallele Lektüre war übrigens George Herbert Meads The Philosophy of the Present, die auch eine prozesshafte Temporalisierung des Ordnungsaufbaus zum Thema hat, ebenso übrigens Alfred North Whiteheads Ereignisphilosophie. Jedenfalls ist diese durchaus auch zufällige Koinzidenz unterschiedlicher Lektüren für mich eine Lektüre, die mich mehr geführt hat als ich sie durch bewusste Auswahl. Wenn es nicht so konstruiert wirken würde, würde ich fast behaupten, dass das eine Parabel auf die sich selbst nicht durch Beobachtung erreichbare Urimpressionalität der (Lese-)Gegenwart ist.

Welches war die beste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?

Meine Eltern besaßen eine vielbändige, ich glaube 30-bändige Ausgabe der Encyclopedia Britannica und eine 25-bändige von Meyers Enzyklopädischem Lexikon, beide aufwendig gebunden. Sie haben mir diese beiden Ausgaben irgendwann in mein Zimmer gestellt, was ich, wenn ich mich recht entsinne, zunächst ziemlich befremdlich fand und wohl eher als eine dekorative Maßnahme gedeutet habe. Ich dürfte so um die 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Das war eine merkwürdige Buchempfehlung, weil sie irgendwie nicht so recht in die Lebenswelt eines Jugendlichen passte, zudem unhandlich war, ziemlich altmodisch aussah und fremd. Als Jugendlicher las ich gerne Abenteuerberichte des Typs In Nacht und Eis von Fridtjof Nansen über seine Polarexpedition mit der Fram in den 1890er-Jahren. Die Lexika passten nicht dazu, aber ich erinnere mich gut, wie ich angefangen habe, Artikel zu lesen, manchmal gezielt, oft aber zufällig – und das Schöne war, dass sich daraus eine Art Hypertext-Erfahrung entwickelt hat. Ich habe das sehr lange gemacht. Man konnte von einem Lemma auf ein weiteres springen, das sich aus dem Text des vorherigen ergab, und man fand Dinge, die man nie zu suchen gewagt hätte, weil man nicht von selbst auf diese Fährte gekommen wäre. Das waren zum Teil stunden- und nächtelange Lektüren, ohne Sinn, ohne Plan, auch ohne Ergebnis, aber als Eintauchen in alles Mögliche. Ich bilde mir manchmal ein, von diesen Lektüren bis heute zu profitieren – und zumindest erinnert mich die Praxis des Lesens von Wikipedia-Artikeln bis heute an diese Verweisungsstruktur, für die es in den 1970er-Jahren noch keiner Links bedurfte. Diese gewissermaßen unausgesprochene, aber durch die Materialität von fast 60 Folianten beglaubigte Leseempfehlung war ziemlich intensiv – und den Meyers hatte ich in Buchform noch bis zu meinem letzten Umzug in München im Jahre 2017. Auf Ebay war dafür übrigens nur noch sehr wenig zu bekommen.

Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?

Das ist eine schwierige Frage, vielleicht sogar eine Fangfrage, weil die Antwort sehr unbescheiden daherkommen könnte. Wie auch immer, es gibt natürlich Bücher aus dem eigenen thematischen, theoretischen oder methodischen Umfeld, die man gerne geschrieben hätte, aber das wäre langweilig. Ich kann dennoch zwei Bücher nennen – und es sind Bücher, die ich vielleicht gerne geschrieben hätte, die ich aber niemals hätte schreiben können, weil sie so ganz anders sind als meine eigenen – theoretisch, methodisch und ästhetisch. Eines dieser Bücher ist Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne von Jan Philipp Reemtsma. Reemtsma gelingt es hier, den performativen Sinn von Gewalt darzustellen. Er zeigt, dass die faktisch stets mögliche, also potenzielle Gewaltdrohung nur dadurch ausgeschlossen werden kann, dass sie nicht einmal nicht thematisiert wird. Reemtsma spielt das an Situationen durch, in denen es tatsächlich thematisiert wird. Das „Gerede“ des Alltags oder auch des Theoretisierens am Schreibtisch suspendiert die Drohung, weil die Alltagspraxis immer weiter geht, trotz potenzieller, aber eben unsichtbarer Drohung. Im Falle einer manifesten Drohung aber ändert sich alles. Das Reden bekommt dann eine andere Bedeutung – nicht bloß, weil es auf einmal um alles geht, sondern weil das, was latent geblieben war, nun thematisch wird und damit letztlich jede Bedeutung ihrer möglichen Wahrheit entkleidet. Wahrheit, das impliziert Reemtsmas Text, ist nur dort möglich, wo ihre Bedingungen dadurch unsichtbar bleiben, dass man dem Gegenüber risikofrei widersprechen kann.

Das andere Buch ist Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten von Arlie Russell Hochschild. Das Buch könnte methodisch kaum weiter weg sein von der Art Soziologie, die ich betreibe. Aber es hat mich unglaublich fasziniert. Russell Hochschild, Soziologin aus dem kalifornischen Berkeley, begibt sich noch vor der Wahl Donald J. Trumps zum amerikanischen Präsidenten in völlig andere Gefilde – sozial von der liberalen Elite in republikanische und zu Tea-Party-Milieus, potenziellen, später sicher faktischen Wählerinnen und Wählern Trumps; geografisch von der Westküste in die US-Südstaaten wie Louisiana und Mississippi. Was Russel Hochschild interessiert, ist die merkwürdige Übersetzung ziemlich deutlicher politischer, ökonomischer und rechtlicher Konflikte und Defizite einer Gesellschaft mit nur wenigen institutionellen Arrangements zur Herstellung von kontinuierlichen Lebensformen in Identitäts- und Anerkennungsfragen. Die Wählerinnen und Wähler der amerikanischen Rechten – und das ist keine Splittergruppe, sondern offensichtlich die Hälfte der Wahlberechtigten – wählen keine Politik, die ihnen nach einem industriellen Strukturwandel (Abwanderung von Produktion ins Ausland, Umstellung auf digitale Technologien, Hinterlassenschaften radikaler ökologischer Folgen, Verödung ganzer Städte aufgrund der Schließung unrentabler Standorte, veraltete Infrastruktur usw.) Hilfen zur Kontinuierung ihrer Lebensläufe verspricht, sondern eher diejenigen, die das Geschäft des Abbaus von Strukturen weiter betreiben. Genau genommen hätten sie eher die Demokraten wählen müssen, weil es gerade die Republikaner waren, die ganz offenkundig eine Politik betreiben, die den Interessen der früher Gutsituierten, aber nun Gestrauchelten eher zuwiderlaufen. Russel Hochschild zeigt, dass dieser politische Konflikt fast ausschließlich zu einem Identitätskonflikt wird, der eher an Symbolen als am Materiellen hängt. Faszinierend an Russell Hochschilds Rekonstruktion ist, wie die funktionale Verschiebung von einem ökonomischen zu einem Identitätsproblem funktioniert und wie eine weiße Mittelschicht am Ende in dieselben Bedingungen rutscht, für die sie schwarze und andere unterprivilegierte Milieus zuvor verachtet hat.

Vielleicht hätte ich diese beiden Bücher nicht gerne selbst geschrieben, weil ich das auch gar nicht gekonnt hätte – aber beide sind so faszinierend, auch in ihrer Unterschiedlichkeit, dass ich daran ein wenig mitlesen kann, was mir selbst als Soziologe versagt geblieben ist. Reemtsmas analytische Distanz mit immer wieder durchscheinender persönlicher Betroffenheit und Russell Hochschilds sehr persönlicher, ihrem Gegenstand zugewandter Erzählstil sind sehr unterschiedlich – aber auf vergleichbare Weise role models.

Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?

Ich bin nicht leicht in Rage zu versetzen. Ich könnte hier viele Bücher anführen, die ich wirklich rasend gut und rasend schlecht finde, viele auch aus meinem eigenen Fach, durchaus auch von hochmögenden Kolleginnen und Kollegen. Aber in Rage würde mich ein Fachbuch oder ein Fachaufsatz niemals versetzen, weder positiv noch negativ. Ich habe mir deshalb vorgenommen, diese Frage nicht zu beantworten – aber es gibt dann doch eines, das hier genannt werden muss, das freilich kein Fachbuch im engeren Sinne ist, mich aber tatsächlich in Rage versetzt hat.

Es ist Sarrazins unsägliches Buch, das in Teilen im Gestus eines Fachbuches daherkommt und auch einen solchen Anspruch erhebt, das aber keines ist und dessen Namen ich gar nicht mehr memoriere (stimmt nicht, ist aber dramaturgisch schöner so). Ich habe meine Rage damals selbst publizistisch (etwa in der FAZ und in der Zeit) zum Ausdruck gebracht – sublimiert in Argumentation und Widerlegung. Und ich habe mit dem Autor in einer für mich unvergesslich bleibenden öffentlichen Veranstaltung in der Münchner Reithalle im Jahre 2010 diskutiert. Es habe damals, wie ein SZ-Kommentator meinte, „ein Hauch von Sportpalast“ geherrscht, was ein wenig übertrieben war. In Rage gerieten übrigens vor allem brave Münchner Bürgerinnen und Bürger, mutmaßlich mit Abitur und faktisch in feinem Tuch (es war eine Veranstaltung des ehrenwerten Münchner Literaturhauses), die gejohlt und mich sogar körperlich angegangen haben. Deren Rage war größer als meine, und das will etwas heißen. Die Diskussion mit dem Autor war unproduktiv bis unmöglich. Über die Inhalte muss man nichts sagen.

Und: Es gibt derzeit ein Buch (getarnt als „Essay“, um nicht zu zurechnungsfähig zu erscheinen), das ähnlich schlecht gemacht ist und auch mit autoritären Träumen aufwartet, fast noch schlimmer als Sarrazins, weil es sogar von einer (nominellen) Sozialwissenschaftlerin stammt, die mit der Autorität einer politikwissenschaftlichen Hochschullehrerin damit aufwartet, mit wem man nach der Pandemie „aufräumen“ muss, wer sich um wen „kümmern“ muss und dass man den staatskooperativen Intellektuellen „verzeihen“ solle, wenn sie nur ihre Lektüre umstellen. Die antisemitischen Stereotype gegen die Weltregierungspläne von Bill Gates (dem man wohl nur vorwerfen kann, dass er gar kein Jude ist) und die unfassbare Hannah-Arendt-Anspielung einer „Banalität des Guten“ tun ihr Übriges. Aber mehr will ich dazu nicht sagen. Schade ist, dass das Buch alle Vorurteile nährt, die manche von unseren Fächern haben – von theoretischer und methodischer Kontrolle, von der Unterscheidung von Seins- und Sollensaussagen und von einfachsten logischen Schlussverfahren keine Spur. Ich bin von einigen meiner naturwissenschaftlichen Freunde direkt darauf angesprochen worden, ob wir alle so arbeiten.

Welches verliehene Buch hätten Sie gern zurück?

Mir fällt kein verliehenes Buch ein, wohl aber ein gestohlenes, das ich sehr gerne zurückgehabt hätte. Mir ist Mitte der 1980er-Jahre, kurz nach Studienende, in Münster eine Büchertasche gestohlen worden, in der nicht nur meine Brieftasche mit Ausweis, Scheckkarte (ja, so hieß das damals noch) und einigen anderen Dokumenten waren. Es war darin neben anderen Büchern auch das Exemplar von Sein und Zeit, von dem ich oben schon berichtet habe. Das Buch war voller Notizen und Marginalien, vor allem aber bestückt mit eng beschriebenen Zetteln, die im Buch lagen und sein Volumen sicher um mindestens ein Viertel vergrößert haben. Es war voller Gebrauchsspuren, Narben geradezu, weil ich es so oft dabei hatte und weil ich immer wieder darin gearbeitet habe. Es war irgendwie der Ausgangspunkt systematischen Denkens/Studierens für mich – zumindest bilde ich mir das spätestens ein, seit es weg ist.

Dieses Buch hätte ich bis heute gerne zurück – weil es selbst die Prozesshaftigkeit des Arbeitens daran bezeugt. Es wäre natürlich kurios, wenn der Dieb von damals, es ist immerhin fast 40 Jahre her, dies hier läse. Ich würde mich über die Rückgabe freuen. Das Vergehen ist längst verjährt, so dass eine Strafverfolgung nicht mehr droht, höchstens noch moralische Verachtung, aber die wird einen solchen bösen Bücherdieb kaum treffen.

Welches Buch hat Ihnen in der Retrospektive besser gefallen als während des Lesens?

Eindeutig Sören Kierkegaards Das Tagebuch des Verführers. Ich habe das Buch unabhängig voneinander im Studium zweimal gelesen, einmal im Rahmen einer philosophischen und einmal im Rahmen einer pädagogischen Lehrveranstaltung – würde man das heute noch lesen? Es ist auf den ersten Blick eine patriarchale Don Giovanni-Geschichte. Der Erzähler Johannes (sic!) will das „reine“ Mädchen Cordelia verführen, ihre Unschuld brechen, und lenkt sie auf subtile Weise, bis dahin, ihr einen anderen Verehrer zuzuführen, der so schwach ist, dass Cordelia Johannes erst recht haben wollen könnte. Aber in dem Moment, in dem er Cordelia zur Verlobung verführt hat, verliert er das Interesse und bringt sie dazu, die Verlobung wieder zu lösen.

Ich muss gestehen, dass ich mit dem Buch nichts anfangen konnte. Es blieb mir fremd und war eben eines der zahlreichen Bücher, die man aus welchem Anlass auch immer einmal lesen musste. Dann habe ich es aber erst vor wenigen Jahren noch einmal in die Hand bekommen und war dann recht fasziniert. Denn dieses Buch ist eine subtile Analyse der Paradoxien authentischer Kommunikation – Johannes hat das „Ich liebe Dich“ so oft strategisch eingesetzt, dass es in Wirklichkeit nicht mehr gelten kann. Der starke Verführer ist der Schwächling, weil er am Ende nicht einmal von sich selbst wissen kann, ob er selbst spricht, wer da überhaupt spricht, während die Verführte nur vermeintlich schwach ist, weil sie den Knoten auflösen kann. Sie durchschaut das Spiel als Einzige, obwohl Johannes es ihr erklärt – also ein klassischer früher mansplaining-Fall. Kierkegaards Reflexion beschreibt einen Prozess, in dem sich Kommunikation gegen die Intentionen des Sprechers wendet und in dem Kommunikation als das dargestellt wird, was anspruchsvolle Kommunikationstheorien stets mitliefern: dass der Prozess des Nacheinanders von Ereignissen nicht nur Pfadabhängigkeiten produziert, sondern auch einen Eigensinn und eine Eigendynamik, die sich von den Sprechern entfernen. Diese sprechen zwar, werden aber zugleich ein Effekt der Kommunikation selbst.

Ihr literarischer guilty pleasure?

Üblicherweise gibt man hier wohl entweder Krimis an oder triviale Liebesliteratur. Oder Comics. Ich aber habe viel Schlimmeres zu gestehen. Zunächst gestehe ich, dass ich (wahrscheinlich abweichend von unserem Fachmilieu) sehr fasziniert bin von automobilen Oldtimern, insbesondere jenen der 1960er- und 1970er-Jahre. Und ich lese für mein Leben gerne Bücher oder Zeitschriften, die sich mit diesen Exponaten beschäftigen. Ich will nicht ins Detail gehen, weil womöglich jedes dieser Details gegen mich verwendet werden könnte, und ich versichere, dass ich das nur ganz selten mache – und dass die Lektüre selbst sogar CO2-neutral ist (auch weil ich solche Objekte des Lesens nicht in materieller Form besitze). Auf keinen Fall zugeben werde ich hier, dass ich tatsächlich schon einmal einen Text über die Ästhetik des Mercedes W 113 geschrieben habe, die sogenannte „Pagode“, gebaut von 1963 bis 1971, für das Feuilleton einer Tageszeitung. Ich habe die Ästhetik dieses Wagens in einen Zusammenhang mit Frei Ottos Dachkonstruktion des Münchner Olympiastadions von 1972 gestellt – solch eine These ist wohl die für einen Soziologen angemessene Form der intellektuellen Sublimierung der Lektüre entsprechender Literatur, die manchen womöglich tatsächlich als allzu guilty guilty pleasure erscheint.

Ich weiß nicht, ob in diese Kategorie auch Partituren oder wenigstens Klavierauszüge gehören, die ich beim Hören von Musik sehr gerne mitlese. Auch das ist manchmal etwas schräg, und ich weiß selbst gar nicht, wobei das eigentlich hilft, aber es regt mich beim Hören tatsächlich an. Das jedenfalls gehört auch zu den eher merkwürdigen Lektüren, die ich immer wieder pflege.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Bildung / Erziehung Kultur Medien Wissenschaft

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Armin Nassehi

Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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