Alexandra Keiner | Rezension |

Über Macht, Gewalt und Technologie

Rezension zu „The Walls Have Eyes. Surviving Migration in the Age of Artificial Intelligence“ von Petra Molnar

Abbildung Buchcover The Walls Have Eyes von Molnar

Petra Molnar:
The Walls Have Eyes. Surviving Migration in the Age of Artificial Intelligence
Mit einem Vorwort von E. Tendayi Achiume
USA
New York 2024: The New Press
304 S., 28,99 USD
ISBN 978-1-620-97836-8

Kaum ein Thema hat in den vergangenen zwei Jahren so viel Aufmerksamkeit erfahren wie Künstliche Intelligenz. Bisher war der Diskurs häufig von visionären Zukunftsszenarien und wirtschaftlichen Potenzialen geprägt, mittlerweile geraten auch die konkreten Anwendungsfelder der Technologien in den Blick. In ihrem Buch The Walls Have Eyes. Surviving Migration in the Age of Artificial Intelligence widmet sich Petra Molnar einem solchen Anwendungsfeld: dem Einsatz von KI und anderen modernen Technologien zur Grenzüberwachung und Migrationskontrolle. Die kanadische Anthropologin und Juristin zeigt, wie Technologien an Grenzen und Checkpoints sowie in Geflüchtetencamps und Asylverfahren eingesetzt werden, welche verheerenden Auswirkungen dies für die betroffenen Menschen hat und wie technologische Grenzsicherung zu einem lukrativen Geschäft für westliche Staaten und große Unternehmen avancierte.

In acht Kapiteln gelingt es Molnar, mit akribisch recherchierten Informationen und persönlichen Berichten ein eindrückliches Bild der technologisierten Grenzrealitäten zu zeichnen. Jedes Kapitel erzählt „stories from the ground“ (S. 6) an so verschiedenen Orten wie der Sonora-Wüste in den USA, der griechischen Insel Samos, Nairobi in Kenia, dem besetzten Teil der palästinensischen Stadt Hebron und den Wäldern zwischen Polen und Belarus. Dabei schreibt Molnar neben den Grenztechnologien auch über die Menschen, denen sie an diesen Orten begegnet ist. Weil die Kapitel so aufgebaut sind, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können, ist auch ein gezieltes Eintauchen in einzelne Themenbereiche möglich.

‚Smarte‘ Grenzen, tödliche Realität

Im ersten Kapitel begleitet Molnar Aktivist:innen, die in der Sonora-Wüste an der Grenze zwischen Mexiko und den USA Wasserflaschen verteilen, Menschen auf der Flucht mit Essen und Medikamenten versorgen oder die Leichen derer bergen, die auf ihrer Flucht gestorben sind. Den Grenzübergang, der als einer der gefährlichsten und lebensfeindlichsten Orte der Welt gilt, markiere längst nicht mehr nur eine hohe, rostige Mauer, sondern auch technologiegestützte Überwachung: etwa Türme mit KI-basierten Bewegungssensoren, Drohnen, die das Gelände aus der Luft kontrollieren, und sogenannte Robodogs – vierbeinige Militärroboter, die mit hochauflösenden Kameras in der Wüste patrouillieren, Personen identifizieren und Videobilder in Echtzeit übertragen.

Das zweite Kapitel beleuchtet die europäischen Außengrenzen. Molnar widmet sich hier vor allem der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, die in den letzten Jahren mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet wurde, um sich technologisch aufzurüsten. Im Rahmen von Programmen wie Horizon 2020 investierte die EU Milliarden in die Entwicklung und den Einsatz entsprechender Hard- und Software. Die Autorin beschreibt ein immer umfangreicheres Überwachungsarsenal, das Roboter, Drohnen, Luftschiffe, 360-Grad-Kameras, Schiffsradare, Sensoren und biometrische Datenbanken umfasst. Die COVID-19-Pandemie habe den „appetite for technological solutions at the border“ (S. 61) verstärkt und Frontex als Legitimation für den weiteren Ausbau dieser Infrastruktur gedient.

Regierungen und Behörden stellen, Molnar zufolge, sogenannte smart borders – also den Einsatz vermeintlich intelligenter Technologien an Grenzen wie denen zwischen den USA und Mexiko oder zwischen Griechenland und der Türkei – als humanere und zugleich effizientere Alternative zu alten Methoden des Grenzschutzes dar. Die Realität an den Grenzen sehe aber anders aus: Die technologische Aufrüstung habe nicht zu weniger Migration geführt, vielmehr seien Menschen auf der Flucht dazu gezwungen, immer gefährlichere und unberechenbarere Routen zu wählen, um den umfassenden Überwachungssystemen zu entgehen. Zugleich kämen die eingesetzten Technologien nur selten den Schutzsuchenden zugute. Statt Hilfe zu leisten oder Schutzbedürftige zu lokalisieren, würden die Überwachungsdaten beispielsweise dazu genutzt, gewaltsame Pushbacks zu koordinieren. Das Ergebnis sei eine humanitäre Katastrophe: Noch nie seien so viele Menschen bei dem Versuch gestorben, die europäischen Außengrenzen oder die Grenze zwischen den USA und Mexiko zu überqueren, so Molnar.

Techno-Solutionismus

Die Kapitel 3 und 4 zeigen, wie Grenztechnologien über den unmittelbaren Grenzraum hinaus wirksam sind – in griechischen Geflüchtetencamps oder in Visavergabe- und Asylverfahren. Molnar bezeichnet die Geflüchtetencamps, die sie in Griechenland besucht hat, als „digital prisons” (S. 71): Kameras und Sensoren der Hochsicherheitszäune erfassen jede Bewegung, mit den Daten werden „Riskscores“ für die Bewohner:innen erstellt. Wie wichtig – und zugleich absurd – die technologische Infrastruktur ist, zeigt sich besonders am Beispiel eines Camps auf der Insel Samos, in dem biometrische Überwachungssysteme einsatzbereit waren, noch bevor es fließendes Wasser gab. Die EU verfolge hier, so Molnar, einen „containment-oriented approach to migration management“ (S. 83), der darauf abziele, Menschen von der Einreise in die EU abzuschrecken und diejenigen, die es bereits nach Europa geschafft haben, in Hochsicherheitscamps zu isolieren und von den Städten fernzuhalten.

Im vierten Kapitel beschreibt Molnar ausführlicher, welche Rolle die Technologien bei der Visavergabe und bei Asylanträgen spielen. Dazu zählen etwa „[v]isa-triaging algorithms“ (S. 100) von Microsoft, die in Kanada automatisiert über Visaanträge entscheiden, oder elektronische Fußfesseln, die den Aufenthaltsort von Asylsuchenden in Echtzeit übermitteln. Auch Spracherkennungssoftware zur Identifizierung von Personen und Lügendetektoren, die anhand von Gefühlsanalysen überprüfen sollen, ob Menschen über ihre Einreisegründe oder bezüglich persönlicher Daten die Wahrheit sagen, gehören in dieses Repertoire.

Auch geht Molnar in diesem Zusammenhang auf die Digitalisierungsagenda des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Deutschland ein, die unter anderem die Auswertung von Handydaten, die automatische Transliteration arabischer Namen sowie Dialekterkennungssoftware umfasst. Diese Technologien, kritisiert Molnar, seien nicht nur teuer und griffen massiv in die Privatsphäre der überwachten Menschen ein, sie wiesen zudem oft hohe Fehlerquoten auf oder funktionierten gar nicht. Dennoch würden sie weiter eingesetzt – ein blindes Vertrauen in technische Lösungen, das Molnar als „techno-solutionism“ (S. 59) bezeichnet. Die „hubris of big tech and the allure of quick fixes” (S. 3) suggeriere, man könne so komplexe soziale und politische Probleme wie Migration, Fluchtursachen oder Schmuggel mit Technologien lösen.

„A global multibillion-dollar border industrial complex”

Ein zentrales Argument des Buches lautet, dass mit ebendieser Wahrnehmung von Migration als technologisch lösbares Problem ein lukratives Geschäftsfeld entstanden ist. Molnar spricht von einem wachsenden „global multibillion-dollar border industrial complex“ (S. 160), zu dem große Technologieunternehmen wie Palantir, Clearview AI, Google, Microsoft und Amazon gehören. Der Begriff des „industrial complex“ verweist – analog zum Militär-[1] und Gefängnissystem[2] – auch bei der Grenzüberwachung auf enge „public-private partnerships“ (S. 33): Sowohl staatliche Behörden als auch private Unternehmen hätten ein Interesse daran, die Nachfrage nach neuen Grenztechnologien hochzuhalten – unabhängig davon, ob sie tatsächlich notwendig oder effektiv sind.

Molnar verdeutlicht die Mechanismen am Beispiel der systematischen Datafizierung von Geflüchteten in Kenia (Kap. 5), wo Hunderttausende Geflüchtete aus Somalia und dem Südsudan leben. Dort erfassen humanitäre Organisationen wie das UNHCR zunehmend biometrische und persönliche Daten, über die der Zugang der Geflüchteten zu grundlegenden Leistungen wie Arbeitserlaubnis, medizinischer Versorgung oder Unterkunft geregelt sei. Die Autorin greift hier die gängige Analogie von Daten als „new oil“ (S. 117) auf, das politische Macht und wirtschaftlichen Profit sicherstelle. Als Beispiel nennt sie die US-Firma Palantir, die die UN mit dem Datenmanagement ihres World Food Programme beauftragt habe.

Wie Unternehmen die Grenz- und Migrationskontrolle als „testing grounds“ (S. 2) für ihre neuen Technologien nutzen, zeigt Molnar in Kapitel 6 am Beispiel israelischer Sicherheitsfirmen, die ihre Überwachungstechnologien an der Grenze zum Gazastreifen und in den besetzten palästinensischen Gebieten einsetzen, um sie dann als „battle tested“ (S. 153) auf dem internationalen Markt zu bewerben. So wurden etwa die Überwachungstürme in der Sonora-Wüste zuvor an der Grenze zum Gazastreifen getestet. Auch der besetzte Teil der palästinensischen Stadt Hebron sei, so ein ehemaliger israelischer Soldat, zu einem „laboratory for technology but also the laboratory for violence“ (S. 139) geworden, in dem Firmen wie Pegasus oder Cellebrite Überwachungs- und Verhörtechnologien testen, die später von Frontex oder deutschen Migrationsbehörden eingesetzt werden.

Im siebten Kapitel analysiert Molnar das politische Narrativ, das den Einsatz von „military-grade technology against the most vulnerable“ (S. 21) legitimiert. Dabei verweist sie auf verschiedene Theorien, die sich mit der Entstehung einer Politik der „exclusion and fear“ und mit der Unterscheidung zwischen erwünschter und unerwünschter Migration befassen. Während manche Menschen die Grenzen trotz – oder wegen – deren technologischer Aufrüstung relativ ungehindert passieren könnten, würden andere bereits aufgrund der Tatsache, dass sie migrieren oder flüchten, kriminalisiert. Diese „profound fear of mobility“ (S. 174) speise sich, so Molnar, aus rassistischen Ressentiments und dem Wunsch nach nationaler Souveränität.

„Storytelling as a form of resistance”

Im letzten Kapitel widmet sich Molnar der Frage, welche „strategies of resistance“ (S. 191) es angesichts der zunehmenden Kriminalisierung von Migrant:innen und der fortschreitenden Technologisierung der Grenzen geben kann. Dabei zeigt sie verschiedene Ansätze auf: Zum einen könnte bestehendes Recht genutzt oder verändert werden, um die „legal black holes“ (S. 65) rund um Grenztechnologien zu schließen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Reform des „Act to Regulate Artificial Intelligence“ (AI Act) der EU, der KI-Technologien, die existenzielle Folgen für Menschen auf der Flucht haben können, explizit verbieten sollte. Zum anderen sieht Molnar die Möglichkeit, digitale Technologien im Sinne der Migrant:innen einzusetzen – etwa durch „technologies of assistance“ (S. 201), die bei Asylanträgen unterstützen oder psychosoziale Hilfe zugänglich machen.

Molnar betont zudem die Bedeutung individueller Widerstandsformen und berichtet von Menschen, die auf unterschiedliche Weise Widerstand gegen Grenztechnologien und -politiken leisten, darunter Journalist:innen, Rechtsanwält:innen oder Aktivist:innen wie Jaime, der in der Sonora-Wüste täglich Wasser an Migrant:innen verteilt, oder Igor, der an der polnisch-belarussischen Grenze sein Haus den von Pushbacks bedrohten Geflüchteten als Zufluchtsort anbietet. Sie reflektiert kritisch ihre eigene Rolle als Wissenschaftlerin, deren Arbeit „on the trauma of others“ (S. 207) basiere, und schildert ihre persönlichen Erfahrungen als Anwältin und Aktivistin – etwa als sie selbst einen Jungen über die Grenze von Nordmazedonien nach Griechenland begleitete, um ihn vor einem gewaltsamen Pushback zu schützen. Damit habe sie sich in eine rechtliche Grauzone begeben, da dies in Griechenland als Menschenschmuggel gilt und strafrechtlich verfolgt werden könnte.

Zugleich versteht Molnar ihr Schreiben selbst als eine Form des Widerstands – ein „small step in the global journey to combat the violence of these new technologies“ (S. 10). Dazu dokumentiert sie die Geschichten von Menschen, sieht sie aber nicht nur als Forschungsobjekte, sondern als „active participants, collaborators and co-conspirators“ (S. 207). Deutlich wird diese Herangehensweise in ihrer sensiblen Erzählweise, mit der sie die Rolle von Technologie bei der Verschärfung von Gewalt und in den Mechanismen der Dehumanisierung sichtbar macht – allerdings ohne die Betroffenen auf ihrem vermeintlichen Opferstatus zu reduzieren. Statt von pauschalisierenden Kategorien wie Migrant:innen oder Geflüchteten spricht sie von „people on the move“ oder „people crossing borders“ (S. XIX).

Bereits am Anfang des Buches formuliert Molnar ihr zentrales Ziel: eine „global story of power, violence, and technology“ (S. XVII) zu erzählen – dies gelingt ihr, indem sie globale Zusammenhänge, politische Machtverhältnisse und wirtschaftliche Interessen mit persönlichen Geschichten über Gewalt, Überwachung und Widerstand verknüpft. Dadurch bleibt sie nah an den Menschen, deren Erlebnisse sie dokumentiert, und zeigt, wie individuelle Erfahrungen, strukturelle Gewalt und technologische Entwicklungen ineinandergreifen. Die dargestellte Komplexität erschwert allerdings stellenweise die Orientierung beim Lesen.

Molnar erweitert mit ihrem Buch bisherige Ansätze zum „border industrial complex“[3] oder „immigration industrial complex“,[4] indem sie wirtschaftliche Interessen nicht auf die Profite aus der Inhaftierung und Abschiebung von Migrant:innen beschränkt. Sie zeigt, dass privatwirtschaftliche Interessen in nahezu allen Bereichen des Migrationsmanagements eine Rolle spielen – von der biometrischen Datenerfassung bis hin zur Entwicklung und Vermarktung neuer Überwachungstechnologien. Dabei erzielen die Technologieunternehmen nicht nur finanzielle Gewinne, sie prägen vor allem auch globale Standards und Praktiken.

The Walls Have Eyes ist eine wichtige Ergänzung zur soziologischen Auseinandersetzung mit den globalen Migrations- und Grenzregimen. Ähnlich wie Zygmunt Bauman[5] oder Saskia Sassen[6] zeigt Molnar die Paradoxie globaler Mobilitätsregime auf: Während sich die Bewegungsfreiheit für bestimmte Gruppen vergrößert, wird sie für andere zunehmend eingeschränkt. Der Technologieeinsatz an Grenzen spiegelt diese Entwicklung nicht nur wider, er bedingt sie maßgeblich.[7]

  1. Siehe Stephen Cobb, Defense Spending and Defense Voting in the House. An Empirical Study of an Aspect of the Military-Industrial Complex Thesis, in: The American Journal of Sociology 82 (1976), 1, S. 163–182.
  2. Siehe Angela Davis, Masked Racism. Reflections on the Prison Industrial Complex, in: Indigenous Law Bulletin 4 (2000), 27, S. 4–7.
  3. Tanya Golash-Boza, The Immigration Industrial Complex. Why We Enforce Immigration Policies Destined to Fail [6.3.2025], in: Sociology Compass 3 (2009), 2, S. 295–309.
  4. Siehe Karen Manges Douglas / Rogelio Sáenz, The Criminalization of Immigrants and the Immigration-Industrial Complex [6.3.2025], in: Daedalus 142 (2013), 3, S. 199–227.
  5. Zygmunt Bauman, Globalization. The Human Consequences, New York 2002.
  6. Saskia Sassen, Globalization and Its Discontents. Essays on the New Mobility of People and Money, New York 1999.
  7. Dies macht auch Steffen Mau deutlich, siehe ders., Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Gewalt Globalisierung / Weltgesellschaft Macht Migration / Flucht / Integration Technik

Abbildung Profilbild Alexandra Keiner

Alexandra Keiner

Alexandra Keiner ist Doktorandin in der Forschungsgruppe „Normsetzung und Entscheidungsverfahren“ am Weizenbaum-Institut. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Zahlungsinfrastrukturen, Plattformökonomie, Migration und Regulierung von Internetpornografie.

Alle Artikel

Empfehlungen

Felicitas Hillmann

Räumliche Definitionsmacht

Rezension zu „Flucht- und Flüchtlingsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium“ von Tabea Scharrer, Birgit Glorius, J. Olaf Kleist und Marcel Berlinghoff (Hg.)

Artikel lesen

Klaus Schlichte

Die Schließung der Welt

Rezension zu „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ von Steffen Mau

Artikel lesen

Mechthild Bereswill

Ein Vorschlag zur Reparatur der Welt

Rezension zu „Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation“ von Sabine Hark

Artikel lesen

Newsletter