Antoinette Maget Dominicé | Rezension | 24.05.2022
Über Nostalgie und den Umgang mit der Vergangenheit
Rezension zu „Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie“ von Sophie Schönberger
Der hier besprochene Band gehört zu den ersten einer neuen, von der Stiftung Mercator in Zusammenarbeit mit dem Verlag C.H.Beck lancierten Reihe, die darauf abzielt, „Expertenwissen zur Aufklärung über unsere Gegenwart [zu] mobilisieren“, um „kompetent zu informieren und zugleich neue Aspekte in die öffentliche Debatte einzubringen“.[1] Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, befasst sich in ihrem Buch mit der Restitution von Kulturgütern und unternimmt den Versuch, auf wenigen Seiten die Komplexität dreier, sehr unterschiedlicher Kontexte vergleichend darzustellen. Ganz nach dem Motto der neuen Reihe „Mut zu Kontroversen“[2] bietet die Autorin einen Überblick über die drei zentralen Unrechtskontexte, die heutzutage besonders eng im Zusammenhang mit Restitutions(an)fragen und -anklagen stehen: (1) die NS-Zeit, (2) der Kolonialismus und (3) die Staatensukzessionen, wenn diese in Verbindung mit Vermögensverteilung und -entziehung stehen. Diese Triade entspricht unter anderem der aktuellen Gewichtung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK), welches seit 2015 als Förderinstanz und Kontaktadresse für Fragen zu unrechtmäßig entzogenen Kulturgütern fungiert. Diese Stiftung des Bundes, aller Länder und der drei kommunalen Spitzenverbände fördert Forschungsprojekte zur Provenienz von Objektkonvoluten und strebt Transparenz sowie Zusammenarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene an. Die entsprechend vorgenommene Ausdifferenzierung spiegelt sich in vielen der bisherigen Projekte und Veröffentlichungen des DZK wider, die sich mit Restitution auseinandersetzen und den Fokus zumeist auf einen der drei Kontexte legen. Eine solche wissenschaftsstrukturelle Trennung der Schwerpunkte mag ihre Vorteile haben, in erster Linie erschwert sie jedoch eine systematische, holistische Forschung und eine gegenseitige methodologische Bereicherung unterschiedlicher Arbeiten.[3]
Schon mit dem gewählten Titel signalisiert die Autorin, es gehe in der Frage nach Restitution viel weniger um das (Eigentums-)Recht als um einen wehmütigen, gegenwärtigen Umgang mit der Vergangenheit: Sowohl die Verwendung des moralgeprägten Modalverbs sollen wie auch die Rede von einer selbsterklärten nostalgischen Zeit lassen erahnen, in welchem diskursiven Rahmen Restitutionen und Rückgaben hier ihren Platz finden. Diese Feststellung lässt sich weiter in den Überschriften der acht sehr unterschiedlich langen Kapitel beobachten. Der Einstieg in das Thema und die Erläuterung der methodischen Vorgehensweise der Autorin erfolgen im ersten Kapitel, das mit Von Bildern, Bibeln, Burgen: Dinge, die zurücksollen (S. 7–29) überschrieben ist. Der Titel des Kapitels weckt Assoziationen zu den politisch motivierten Architekturumsetzungen einzelner Herrscher:innen im frühen 19. Jahrhundert. So wollte etwa Friedrich Wilhelm IV. das Zentrum Berlins nicht nur als Ausübungsstätte von politischer und religiöser Macht, sondern vielmehr auch als „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ etablieren.[4] Hierfür ließ er Museum, Dom und Schloss in unmittelbarer Nähe auf der Spreeinsel er- und umbauen.[5] Dieser historische Bezug bildet sogleich den konzeptuellen Rahmen, in dem Schönberger ihre Thesen aufstellen will: Es geht hauptsächlich um den Umgang der westlichen Zurückgebenden mit Rückgabeanforderungen. In dem darauffolgenden Kapitel Von Vergangenheit und Gegenwart, oder: Drei Arten der Nostalgie (S. 30–39) führt die Autorin die von Svetlana Boym – im ganzen Band fälschlicherweise als „Boyme“ bezeichnet – vorgenommene Unterscheidung zwischen reflektiver und restaurativer Nostalgie ein und ergänzt diese um ein eigenes, drittes Konzept, das der reparativen Nostalgie (S. 34 ff.). Im dritten Kapitel steht das „Unrecht“ im Fokus der Betrachtung, wobei Schönberger den engen Zusammenhang von staatlichen und politischen Systemwechseln betont. So führt sie an, dass „nur in den seltenen Fällen offenen Staatsterrors nicht zumindest de[r] Versuch unternommen wird, das staatliche Handeln, das später als Unrecht wiedergutgemacht werden soll, als legitime Form der Herrschaftsausübung“ (S. 42) darzustellen und erläutert ihre These an einem Fallbeispiel aus dem kolonialen Kontext (S. 43). Ähnlich verhält es sich der Autorin zufolge mit nationalsozialistischen Rechtsvorschriften, die von den Alliierten für die Zukunft außer Kraft gesetzt wurden, aber mit wenigen Ausnahmen nur in „besonders eklatanten Fällen der Unrechtsherrschaft […] die Eigenschaft als Recht abgesprochen“ (S. 52) bekommen haben. Im vierten (Vergangenheit), fünften (Objekte) und sechsten (Geschichtsfabriken) Kapitel geht die Autorin der diskursiven Thematisierung und Gestaltung vergangener, traumatischer Ereignisse nach, den zahlreichen Dimensionen und Zuschreibungen von Kulturgütern sowie der Rolle einer bestimmten Gedächtniseinrichtung – dem Museum. Das siebte Kapitel (S. 118–131) ist der Präsentation von vier Aspekten einer angestrebten Gerechtigkeit gewidmet und bietet dem abschließenden Aufruf, „einen wertgebundenen Umgang mit der Vergangenheit zu finden“ (S. 134), eine Grundlage. Das letzte Kapitel trägt den Titel Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und fungiert auf seinen gerade mal drei Seiten als appellierender Ausblick: Schönberger ruft zu Recht dazu auf, die Restitution von Kulturgütern als politisches Projekt zu betrachten und nicht als Festlegung unverhandelbarer historischer Wahrheiten. Ergänzt wird der Text durch 24 Abbildungen, die es Leser:innen ermöglichen sollen, sich eine grobe Vorstellung von den besprochenen Kulturgütern, präsentierten Personen, genannten Bauwerken und bestimmten Ereignissen zu machen.
Restitution ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem heißdiskutierten kulturpolitischen Thema geworden. In jüngerer Vergangenheit sorgte die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im November 2017 im westafrikanischen Ouagadougou für Aufsehen. Er kündigte an, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen für die zeitweise oder gar endgültige Restitution von afrikanischen, in französischem Besitz befindlichen Kulturgütern zu schaffen. Doch schon deutlich früher und nicht weniger bedeutsam war bereits 1998 mit den Washingtoner Prinzipien[6] erstmals ein rechtlich zwar nicht bindender, aber dennoch in Bezug auf NS-bedingt entzogene Kulturgüter wegweisender Grundsatz zur Suche nach fairen und gerechten Lösungen erarbeitet worden. Seitdem sind viele Monografien und Aufsätze veröffentlicht und zahlreiche Forschungsprojekte gefördert worden, deren Präsentation den Rahmen dieser Rezension sprengen würden. Zugleich verdeutlicht ihre Erwähnung die Brisanz des Themas und zeigt, dass ein überblickbietender Band wie derjenige Schönbergers zum richtigen Zeitpunkt kommt.
Um die Komplexität der Fragestellung zu vergegenwärtigen, die vielmehr im Diskursiven als im Juristischen verankert ist, hat sich die Autorin dafür entschieden, sich beispielhaft auf drei von ihr als „Konvolutschwerpunkte“ bezeichnete Bezugsrahmen zu konzentrieren: (1) Kunstwerke, die NS-bedingt entzogen wurden, (2) wenige ausgewählte Kulturgüter aus kolonialen Kontexten und (3) die Entschädigungsforderungen der abgedankten preußischen Königs- und Kaiserfamilie der Hohenzollern. Diese Beispiele nimmt Schönberger vergleichend über den gesamten Text hinweg unter die Lupe und betont bei jedem Fallkonstrukt, welche Elemente zu welchem der von ihr ausgewählten Komplexe gehören. Diese Vorgehensweise ermöglicht es den Leser:innen, sich die Komplexität der Lösungsfindung in ihrer Gesamtheit zu erschließen und Ähnlichkeiten wie auch Dissonanzen auszumachen. Zugleich führt ein solches Vorgehen zu sich wiederholenden Inhalten, die auf so wenigen Seiten zum einen dessen Zielführung in Frage stellen, und zum anderen Lücken in einzelnen Kapiteln aufdecken. Darüber hinaus gelingt der methodisch ausgewählte fächerübergreifende Ansatz der Autorin nicht immer. Während sie ihre Thesen mit einem rechtswissenschaftlichen Ansatz kritischer hinterfragt und vertiefend diskutiert, werden Fachrichtungen wie Anthropologie (S. 77 f.), Geschichtswissenschaften (S. 95 f.) oder die so genannten Museum Studies (S. 98 f.) nur blitzlichtartig gestreift. 2015 stellte etwa Lucas Lixinski, Professor für Internationales Recht an der University of Sidney, fest, welche Gratwanderung die Arbeit zu Fragestellungen rund um das kulturelle Erbe zwischen den Rechts-, Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt, die grundsätzlich erst mit orthodoxer Fachmethodologie sicher zu umgehen sei.[7]
Auch wenn Schönberger über den Band hinweg immer wieder auf die drei genannten Schwerpunkte der Restitution und der dazugehörigen Forschung Bezug nimmt, werden dennoch unterschiedliche Gewichtungen offenbar: Beispielsweise stellt sie die Forderungen von Georg Friedrich Prinz von Preußen sehr viel präziser dar als die Itinerare der im Buch thematisierten „Witbooi-Objekte“. Zwar spiegelt dies die bisherige Haltung deutscher Politik wider, die es bislang scheinbar vorzog, sich eher mit innerstaatlichen Anforderungen (S. 54 ff.) auseinanderzusetzen als mit Restitutionsanfragen aus kolonialen Kontexten. Doch das von der Autorin angestrebte Vorhaben, die Komplexität des Umgangs mit dem Kulturerbe und den damit in Verbindung stehenden Restitutionsanfragen neu einzuordnen, gelingt nur bedingt. Eine stärkere Kontextualisierung dieser Fragen in den juristischen Bezugsrahmen sowie ein Rückgriff auf grundlegende Arbeiten aus anderen Forschungsbereichen wären wünschenswert gewesen. Vergeblich werden Leser:innen beispielsweise nach Bezügen zu Museumstheorien suchen, die ihren Platz im sechsten Kapitel (S. 94 ff.) hätten finden können. Stattdessen führt Schönberger eigene Zitate aus vorherigen Veröffentlichungen an oder nutzt Referenzen zum Forschungsfeld der materiellen Kultur im fünften Kapitel (insbesondere S. 77 f.). Im Gegensatz dazu wird im dritten Kapitel die Möglichkeit der Naturalrestitution (S. 40 ff.) in einer sehr präzisen und gleichzeitig zugänglichen Art und Weise vorgestellt.
In ebenso unterschiedlicher Weise wird der Blick auf andere Länder gerichtet und nach Vergleichsfällen gesucht. So erwähnt Schönberger an mehreren Stellen die Internationalität des Umgangs mit „NS-Raubkunst“. Im Falle der Verhandlungen mit der Familie Hohenzollern sucht sie jedoch keinen Vergleich jenseits deutscher Grenzen, obwohl ähnlich gelagerte langjährige Diskussionen etwa nach dem Sturz Napoleons III. geführt worden sind.[8] Neben derartigen Auslassungen, die weiterführende Vergleiche und Überlegungen seitens der Leser:innen erschweren oder gar verhindern, beeinträchtigen auch einige sprachliche Mängel den Lesefluss. So sind zum einen zwischen den Themenschwerpunkten irritierende Satzbaustrukturen festzustellen, die in den Passagen zu den Hohenzollern eher einem wissenschaftlichen Text entsprechen, während die Stellen zur Nostalgie eher mündlichen Sprachformen zuzuordnen sind. Am stärksten fallen jedoch die zum Teil unscharfen Begrifflichkeiten ins Gewicht. So ist an mehreren Stellen von „NS-Raubkunst“ die Rede statt von „NS-bedingt entzogenen Kulturgütern“ oder von „kolonialen Objekten“ statt „Objekten aus kolonialen Kontexten“.
Schönberger schließt ihr Buch mit der Feststellung, „Gerechtigkeit entsteh[e] nicht aus der Vergangenheit, sondern aus dem Hier und Jetzt und für die Zukunft“ (S. 133). Ihr Appell und die von ihr angeführten Beispiele und Vergleiche, welche es den Leser:innen ermöglichen sollen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sind angesichts der aktuellen Entwicklungen von höchster Brisanz. Denn in den vergangenen vier Jahren hat sich die Diskussion um die Restitution von Kulturgütern in der Öffentlichkeit etabliert. Hier kann als aktuelles Beispiel die differenzierte Kritik anlässlich der Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin genannt werden, aber auch die Einrichtung von Institutionen wie etwa der Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag kommt der Notwendigkeit zur Aufarbeitung von vergangenen Unrechtskontexten und der damit verbundenen Rückgabe von Kulturgütern eine zentrale Rolle zu.[9]
Diese enge Verwobenheit von Geschichte und Gegenwartspolitik ist als roter Faden durch Schönbergers Ausführungen zu erkennen. Bereits auf den ersten Seiten betont die Autorin, dass weit über die tatsächlichen Kunstobjekte hinaus „die erhofften Rückgabeprozesse durch dieselben Paramater geprägt [werden], die das Zurückgeben determinieren und mit Sinn aufladen“ (S. 39) – und zwar durch das Verhältnis zum begangenen Unrecht, die Rolle des Museums und die Gewichtung von Identitätsfragen in diesem Kontext. Als schnell gelesene (und wahrscheinlich auch geschriebene) Übersichtslektüre entspricht der Band dem Anspruch, den die neue Verlagsreihe verfolgt, nämlich mutig neue Aspekte in eine öffentliche Debatte einzubringen und sich darin zu positionieren. Hier sei insbesondere Schönbergers pragmatische Vorgehensweise und ihre Distanzierung von einigen Stimmen, die die Restitution als eigenständiges Verfahren fernab von politischen Zwecken erachten und deren Realisierung idealisieren, positiv hervorgehoben.
Fußnoten
- Vgl. https://www.chbeck.de/buehnen/edition-mercator/.
- Ebd.
- Larissa Förster, Plea for a more systematic, comparative, international and long-term approach to restitution, provenance research and the historiography of collections, in: Museumskunde 18 (2016), S. 49–54, hier S. 52.
- Eva Börsch-Supan, Die geistige Mitte Berlins gestalten. Friedrich Wilhelms IV. Pläne zum Dom, zur Schlosskapelle und zur Museumsinsel, in: Jörg Meiner / Jan Werquet (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Politik – Kunst – Ideal, Berlin 2014, S. 47–62, hier S. 47.
- Bärbel Holtz, Nationale Museumspolitik unter preußischen Königen? in: Constanze Breuer / Bärbel Holtz / Paul Kahl (Hg.), Die Musealisierung der Nation. Ein kulturpolitisches Gestaltungsmodell des 19. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 57–75, hier S. 63 f.
- Hierbei handelt es sich um im Rahmen der Washingtoner Konferenz beschlossene Grundsätze in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden. Die Grundsätze können beispielsweise hier eingesehen werden: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/Washingtoner-Prinzipien/Index.html.
- Lucas Lixinski, Between orthodoxy and heterodoxy: the troubled relationships between heritage studies and heritage law, in: International Journal of Heritage Studies 21 (2015), 3, S. 203–214.
- Catherine Granger, L’Empereur et les Arts : La liste civile de Napoléon III, Paris 2005, S. 369–443.
- Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP, 10.12.2021, insb. S. 124–126.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Erinnerung Geschichte Gewalt Kolonialismus / Postkolonialismus Kultur Kunst / Ästhetik
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