Renate Kreile | Rezension |

Umkämpfte Erinnerungslandschaften

Rezension zu „Embattled Dreamlands. The Politics of Contesting Armenian, Kurdish and Turkish Memory“ von David Leupold

David Leupold:
Embattled Dreamlands. The Politics of Contesting Armenian, Kurdish and Turkish Memory
USA
New York 2020: Routledge
248 S., £ 34,99
ISBN 9780367361440

Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um den „schwarzen Garten“[1] Nagorny Karabach im Südkaukasus[2] wie auch im Kurdenkonflikt[3] im Osten der Türkei spielen konfligierende Erinnerungspolitiken und antagonistische Geschichtsdeutungen fortdauernd eine prägende und die bestehenden Antagonismen unaufhörlich befeuernde Rolle. Dabei nutzen die Konfliktparteien exkludierende nationale Mythen, historische Traumata und unversöhnliche Leiderfahrungen zur politischen Mobilisierung und Legitimierung ihrer territorialen und machtpolitischen Ansprüche.[4] In diesen geschichtspolitisch aufgeladenen und transnational verflochtenen Konfliktdynamiken wirken dramatisch und traumatisch die politischen Beben fort, die vor über einem Jahrhundert die „shatterzone of empires“,[5] die Grenzregionen zwischen Russischem und Osmanischem Reich, fundamental erschütterten, indem sie sie demografisch tiefgreifend veränderten und „gewaltsam entmischten“.[6] Auf beiden Seiten der hermetisch geschlossenen Grenze zwischen der heutigen Republik Armenien und der Türkei hallen insbesondere die historischen Geschehnisse in den „Killing Fields“[7] Anatoliens während der Jahre 1915/16 erinnerungspolitisch nach, begründen fixierte Täter-Opfer-Narrative und legitimieren unvereinbare Geltungsansprüche. In diesen Prozess mit einbegriffen ist auch die kurdische Erinnerungskultur.[8]

Postimperiale Erinnerungskämpfe

David Leupold taucht in seiner brillanten Studie Embattled Dreamlands. The Politics of Contesting Armenian, Kurdish and Turkish Memory tief ein in diese vielschichtigen und leidenschaftlich umkämpften Erinnerungslandschaften, die in der Region um den Van-See im Südosten der Türkei ihren zentralen Bezugsort finden. Hier überlagern sich die von der Politik der damaligen jungtürkischen Regierung und ihrer kurdischen „partners in crime“ (S. 3) hervorgebrachten historischen Gewalterfahrungen der christlichen Bevölkerung einerseits und die Repressionen durch die moderne türkische Republik, unter denen die kurdische Bevölkerung bis in die Gegenwart leidet, andererseits (S. 2).

Als Antidot gegen die homogenisierenden und essentialisierenden Nationalnarrative mit ihren fixierten Täter-Opfer-Konstruktionen und Feindbildern, die die gewaltsamen Konflikte befeuern, richtet sich David Leupolds Erkenntnisinteresse auf die verschwiegenen oder zum Schweigen gebrachten Erinnerungen von unten.

Theoretisch orientiert an kritisch-konstruktivistischen Ansätzen (Benedict Anderson, Eric Hobsbawm, Anthony D. Smith, S. 33) untersucht David Leupold die konfligierenden armenischen, kurdischen und türkischen Erinnerungskulturen, die „verhängnisvoll“ (S. 2) miteinander verflochten und fortdauernd politisch bedeutsam sind. Er will zeigen, mittels welcher Strategien und Funktionsmechanismen die konkurrierenden Nationalnarrative politisch hergestellt und dauerhaft im kollektiven Bewusstsein verankert werden (S. 112), um territoriale Ansprüche auf dasselbe Gebiet, Osttürkei – Westarmenien – Nordkurdistan, diskursiv zu untermauern und erinnerungspolitisch zu legitimieren. (S. 3) Als Antidot gegen die homogenisierenden und essentialisierenden Nationalnarrative mit ihren fixierten Täter-Opfer-Konstruktionen und Feindbildern, die die gewaltsamen Konflikte befeuern, richtet sich David Leupolds Erkenntnisinteresse zudem auf die verschwiegenen oder zum Schweigen gebrachten Erinnerungen von unten, auf Gegen-Narrative (S. 9), die es ins Bewusstsein zu rufen und zu erhellen gilt. (S. 7)

Die Studie bedient sich souverän und interdisziplinär versiert eines reichen Fundus soziologischer, politikwissenschaftlicher, historischer und anthropologischer Forschungen (S. 71 ff.) und überzeugt durch eine systematisch und argumentativ ausgesprochen schlüssige Strukturierung. Die beiden ersten Kapitel (S. 14–69) rekonstruieren die historisch-strukturellen Bedingungszusammenhänge von grenzüberschreitenden Vertreibungen, Fluchtbewegungen und „kollektiver Gewalt, die von den Gebirgen des Kaukasus bis zum Balkan und den Ebenen des anatolischen Hochlandes“ (S. 15) reichten. Eine Politik, die darauf abzielte, aus religiös und ethnisch gemischten Bevölkerungen, einen demografisch homogenen Nationalstaat zu formen (S. 25), fand demnach ihren staatlich orchestrierten katastrophalen „Tiefpunkt“ (S. 15) im Genozid an der armenisch-christlichen Bevölkerung Anatoliens. Das „nationale Erwachen“ (S. 62) in der osmanischen Bevölkerung und die Formierung von Nationalbewegungen entlang ethnisch-religiöser Trennlinien sei Resultat „gescheiterter Reformen, imperialer Machtpolitik und einer globalen Radikalisierung politischer Ideologien.“ (ebd.) Als Architekten der armenischen, kurdischen und türkischen Nationalbewegungen identifiziert Leupold die jeweiligen intellektuellen Eliten, die zunächst gemeinsam eine Reform des Reiches in der Krise hätten erreichen wollen, bevor sie sich mit Ausbruch des ersten Weltkrieges politisch separiert und zu Verfechtern rivalisierender Nationalstaatsprojekte entwickelt hätten. (ebd.)

In vergleichender Perspektive untersucht Leupold anschließend im langen dritten Kapitel die Repräsentationen der historischen Ereignisse in den jeweiligen nationalen Narrativen der Gegenwart (S. 70–124). Mit welchen Inhalten und auf welche Weise fabrizieren armenische, türkische und kurdische staatliche und nationalistische Akteure konkurrierende Geschichtsdeutungen, die jeweils als ‚historische Wahrheiten‘ Geltung beanspruchen? Zur Analyse des umfangreichen erinnerungspolitischen Quellenmaterials[9] entwickelt Leupold ein ausgefeiltes vierdimensionales Konzept mit den Kategorien narrating, silencing, performing und mapping. Gemeint ist damit neben selektivem Erzählen ein strategisches Ver- und Beschweigen von Bedingungen, Ereignissen und Zusammenhängen, eine performative Verinnerlichung des jeweiligen Nationalnarrativs etwa durch Rituale wie Gedenktage sowie dessen lokale geografische Verankerung beispielsweise durch Änderungen von Ortsnamen,[10] Zerstörungen von Kirchen, Moscheen, Friedhöfen. Besonders erhellend ist hier der an den Soziologen Bernhard Forchtner[11] angelehnte Hinweis auf die strukturellen Ähnlichkeiten aller drei Nationalnarrative mit der literarischen Gattung des Melodramas, die ein moralisches Universum (re)etabliere, in dem Gut und Böse klar markierte Pole seien, Ambiguitäten systematisch vermieden und Gewissheiten dauerhaft hergestellt würden.[12] (S. 72)

Um den jeweiligen nationalen Mythos in seiner „heroischen Klarheit“ (ebd.) nicht zu erschüttern, sei das Verschweigen, Ausblenden oder Leugnen von Tatsachen, die der eigenen Geschichtsdeutung widersprächen (S. 113), die auf Grauzonen und Brüche (S. 73) oder auch auf Untaten und Täter aus dem ‚eigenen‘ Kollektiv (S. 24 f.) verwiesen, von konstitutiver strategischer Bedeutung: „While exploring what is told in national narratives, what is not told is of equal importance.“ (S. 89) Die einschlägigen „Erinnerungslücken“ könnten gleichwohl in konkurrierenden Erzählungen enthüllt und aufgeklärt werden. (S. 114)

Postheroische Gegenerzählungen

Auf der Suche nach den Gegen-Erzählungen, die die „silenced memories“ (S. 90) zur Sprache bringen und transnationale Perspektiven aufscheinen lassen, führt Leupold in der Region um den Van-See in Südostanatolien, dem geografischen Raum, wo die armenischen, kurdischen und türkischen Nationalnarrative kollidieren, aufwendige Feldforschungen durch. (Kapitel 4 und 5, S. 125–223) Anschaulich und methodologisch reflektiert beschreibt er die zahlreichen Herausforderungen, die sich ihm als einem ausländischen Wissenschaftler mit türkischem Universitätsabschluss stellten, der in einem politisch hochsensiblen Umfeld auf beiden Seiten der militarisierten türkisch-armenischen Grenze biografisch-narrative Interviews mit Nachkommen sowohl der Vertriebenen wie auch der Gebliebenen führen will: „I needed to acquire sufficient language proficiency in either Russian or Armenian as an essential prerequisite to avoid ending up conducting research with a cohort of foreign-educated, perfect English speaking elites at the expense of the country’s majority.“ (S. 131) Die Interviews auf Armenisch, Türkisch, Russisch und Kurdisch (S. 136) zielen methodisch darauf ab, die subjektiven Sinndimensionen der erzählten Ereignisse und Lebensgeschichten zu erschließen (S. 135 f.), in denen es um emotional und identitätspolitisch so hochgradig aufgeladene Themen wie „belonging, homeland and collective violence“ geht (S. 136).

Die aus den Interviews gewonnenen Erzählungen und Erfahrungen enthüllen eine auffällige Diskrepanz zwischen offiziell anerkanntem Erinnerungsdiskurs einerseits und den lokalen Erinnerungen, dem Umgang mit Gegenständen und Manifestationen andererseits, Orten und Objekten, in denen „‚die verschwundenen Anderen‘ immer noch omnipräsent zu sein schienen“ (S. 142), sei es in den Ruinen verlassener armenischer Kirchen, in kurdischen dengbej-Liedern oder in den handschriftlichen Karten von Schatzjägern auf der Suche nach dem legendären „armenischen Gold“ (S. 142).[13] Bisweilen bricht sich die untergründig überlieferte Erinnerung an das ‚Unsagbare‘, das Grauen des Genozids, in surrealen Geschichten Bahn, die von mysteriösen Besucher*innen auf dem „Friedhof der Ungläubigen“ berichten. (S. 144)

„While exploring what is told in national narratives, what is not told is of equal importance.“

Oftmals transzendieren oder konterkarieren die lokalen Erinnerungen die engstirnigen armenischen, türkischen und kurdischen Nationalnarrative. Sie machen überzeugend deutlich, dass der Blick auf die Vergangenheit von einer Vielzahl von fließenden Identifikationen und Affiliationen jenseits ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten geprägt ist. Dazu gehören etwa soziale, generationelle, familiäre Zugehörigkeiten, geschlechtsspezifische Erfahrungen, ideologisch-politische Orientierungen, interreligiöse Familiengeschichten, interethnische Solidaritäten usw.[14] (S. 170–214) Die Interviewpartner*innen konstruieren ihre ‚persönliche Geschichte‘ innerhalb eines Spannungsfelds aus diversen und bisweilen konfligierenden kollektiven Narrativen (S. 171). Souverän und einfühlsam lässt Leupold Gesprächspartner*innen mit höchst unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Orientierungen zu Wort kommen, wie etwa sunnitische Islamist*innen, Nationalist*innen, Personen, die politisch der PKK nahestehen, Humanist*innen, Sozialist*innen. (S. 192–214)

David Leupold gelingt es durch seine Feldforschung überzeugend, die Multiperspektivität der lokalen Erinnerungen zum Vorschein zu bringen, die politischen Entwicklungen und Akteur*innen konsequent in ihrem historisch-sozialstrukturellen Kontext zu verorten und dabei intergenerationelle Dynamiken umfassend zu berücksichtigen. Damit vermag er essenzialisierende Zuschreibungen wie „der Türke bleibt immer der Türke“ (S. 233) und dämonisierende Stereotype eindrücklich zu dekonstruieren und somit einem ahistorischen Einfrieren von Täter-Opfer-Kollektiven rigoros den Boden zu entziehen.

Die politische Relevanz seiner Überlegungen verdeutlicht Leupold exemplarisch im Blick auf den gewaltsamen Konflikt um die Region Nagorny-Karabach, der 2020 in einem viermonatigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eine neue Eskalationsstufe erreichte. Wo die ethnonationalen Träume der Gegenwart von den Albträumen der Vergangenheit befeuert würden, seien Dialog, Kompromiss und Koexistenz schwer vorstellbar: „If the Turkic-speaking Azerbaijanis of today were to represent the pure historical evil – the genocide perpetrators of a century ago – then any attempts of restoring fragile historical bonds must be bound to fail at the very outset.“ (S. 226) In Abgrenzung von den trennenden ethnonationalistischen Identifikationen plädiert er für eine gemeinsame Erinnerungskultur, die „nicht mit dem Unterdrücker, sondern mit den Unterdrückten mitfühlt“ (S. 227) und für ein „understanding of history that allows us to embrace the quest for historical justice as a joined case that unites rather than divides the descendants of victim and the perpetrator.“ (S. 238)

Für eine postnationale Erinnerungskultur

Mit seiner innovativen und faszinierenden Arbeit gehört Leupold zu einer jüngeren Generation von Wissenschaftler*innen, die die ausgetretenen Pfade der bisher dominierenden Ansätze der Regionalwissenschaften, die eine fixe politisch-kulturelle Dreiteilung in Armenian, Turkish and Kurdish Studies als selbstverständlich voraussetzen,[15] entschlossen hinter sich lassen und in postnationalistischer Perspektive die „shared histories“ aller Bevölkerungsgruppen der Region in den Blick nehmen.[16] In neueren Forschungen geraten zudem auch die Konflikte um Enteignungen[17] und unrechtmäßige Aneignungen[18] durch die staatlich orchestrierte kollektive Gewalt in den sozialwissenschaftlichen Fokus,[19] Realitäten und Praktiken, die in der Öffentlichkeit der Türkischen Republik weithin verschwiegen und geleugnet werden,[20] obwohl oder gerade weil in ihnen historisch gewachsenes Unrecht fortgeführt wird.

„No restitution would entail the perpetuation of a colossal injustice, whereas material restitution could cause new injustices.“

An dieser Stelle ergibt sich aus meiner Sicht die offene Frage, wie über eine moralisch-ideelle und symbolische Anerkennung der Leid- und Verlusterfahrungen der ‚Anderen‘ hinaus Formen der strukturell-materiellen Entschädigung geschaffen und durchgesetzt werden könnten. Gerade auch für eine herrschaftskritische Erinnerungspolitik, wie Leupold sie vorschlägt (S. 227), stellt sich das komplexe und weithin ungelöste Problem, was „historische Gerechtigkeit“ (S. 238) etwa im Blick auf Forderungen nach Rückgabe von geraubtem Eigentum (beispielsweise religiöse Stiftungen) oder im Blick auf Ansprüche auf Entschädigungen[21] konkret bedeuten könnte.[22] Nicht zuletzt im Südosten der Türkei sind erinnerungspolitisch aufgeladene Konflikte etwa um Landbesitz zwischen christlichen Klöstern, kurdischen Dörfern und dem Staat höchst virulent.[23] Üngör und Polatel bemerken: „The dilemma is complex: no restitution would entail the perpetuation of a colossal injustice, whereas material restitution could cause new injustices.“[24]

David Leupold leistet mit seinem Buch einen wegweisenden Beitrag zur Erhellung der komplizierten Erinnerungsdynamiken in einer gewaltsam umkämpften Region. Seine multiperspektivische und multimethodologische Untersuchung wagt sich mutig in wenig erforschtes und politisch vielfach vermintes Gelände vor und scheut dabei vor nationalistischen Tabu-Themen auf allen Seiten nicht zurück. Embattled Dreamlands verbindet eine komplexe Analyse der konkurrierenden armenischen, türkischen und kurdischen Erinnerungspolitiken und Nationalnarrative mit einer empirisch aufschlussreichen, einfühlsamen und außergewöhnlich polyglotten Feldstudie, die die Vielstimmigkeit lokaler Erinnerungen und Gegen-Narrative enthüllt und transnational verbindende Gemeinsamkeiten aufscheinen lässt. Die Studie ermöglicht historisch fundierte Einsichten in die vielschichtig grenzüberschreitend verflochtenen Gewaltkonflikte in der Türkei und dem Südkaukasus jenseits ahistorischer antagonistischer Stereotypisierungen und ist somit von hochaktueller politischer Bedeutung.

  1. Thomas de Waal, Black Garden. Armenia and Azerbaijan through Peace and War, New York / London 2003, S. xv.
  2. Eva-Maria Auch, Berg Karabach – Krieg um den „schwarzen Garten“. In Marie-Carin von Gumppenberg / Udo Steinbach (Hg.), Der Kaukasus. Geschichte – Kultur – Politik, 3., neubearbeitete Auflage, München 2018, S. 123–136.
  3. Zerrin Özlem Biner, States of Dispossession. Violence and Precarious Coexistence in Southeast Turkey, Philadelphia, PA 2020, S. 8–14.
  4. Die Türkei unterstützt das turksprachige ‚Bruderland‘ Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien nach der Doktrin „Eine Nation, zwei Staaten“ politisch und militärisch, vgl. Uwe Halbach, Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, SWP Aktuell Nr. 71, 2020, S. 7, https://www.ecoi.net/de/dokument/2037817.html (10.6.2021).
  5. Omer Bartov / Eric D. Weitz, Introduction, in: dies. (Hg.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington, IN / Indianapolis, IN 2013, S. 1–20.
  6. Ebd., S. 13; Charles King, Ghost of Freedom. A History of the Caucasus, Oxford 2008, S. 159.
  7. Bruce Clark, Turkey’s Killing Fields, in: New York Times, 23.4.2019.
  8. Vgl. Adnan Çelik, The Armenian Genocide in Kurdish Collective Memory, in: Middle East Report Online, 4.8.2020, https://merip.org/2020/08/the-armenian-genocide-in-kurdish-collective-memory/ (10.6.2021).
  9. Als Quellen werden primär Schulbücher, offiziell autorisierte Reden (Mustafa Kemal), politische Manifeste (Abdullah Öcalan), staatliche Museen und Gedenkstätten untersucht. (S. 75)
  10. Im Rahmen einer staatlichen Politik, die darauf abzielte, sämtliche nicht-türkische Spuren in Anatolien unwiderruflich zu löschen, wurden beispielsweise in der Türkei bis 1981 in 12211 Fällen die Namen von Dörfern und Städten geändert. (S. 107)
  11. Bernhard Forchtner, Lessons from the Past. Memory, Narrativity and Subjectivity, London 2016, S. 2.
  12. „The Armenian ethno-nationalist narrative tells a history of violence stretching from the deserts of Deir-ez Zor to the mountains of Nagorno Karabakh, guided by one slogan: ,the Turk always remains the Turk‘“ (S. 202). Das türkische Nationalnarrativ oszilliert Leupold zufolge zwischen dem „smokescreen“ (S. 226) eines kriegsbedingten ‚beiderseitigen Leides‘ und der Rechtfertigungsideologie, wonach die ‚verräterischen‘ Armenier dem Reich in der Stunde der äußeren Bedrohung in den Rücken gefallen seien („Dolchstoßlegende“) und deshalb aus den Grenzregionen hätten umgesiedelt werden müssen. (S. 84 f.) Die nationalistische kurdische Version verschleiere kurdische Komplizenschaft beim Genozid, indem die „kapitalistische Modernisierung“ (S. 87) verantwortlich gemacht werde oder transtemporal die gemeinsamen Unterdrückungserfahrungen durch den türkischen Staat betont würden. Ein von allen Seiten beschwiegenes Tabu stelle die Beteiligung von Mitgliedern des eigenen nationalen Kollektivs an genozidalen Verbrechen und ethnischen ‚Säuberungen‘ dar. (S. 90) Im Hinblick auf die lokale Komplizenschaft von Kurden als Täter und Nutznießer vgl. Mehmet Polatel, The State, Local Actors and Mass Violence in Bitlis Province, in: Hans Lukas Kieser u. a. (Hg.), The End of the Ottomans. The Genocide of 1915 and the Politics of Turkish Nationalism, London u. a. 2019, S. 119–140.
  13. Vgl. dazu die faszinierende Studie: Alice von Bieberstein, Treasure/Fetish/Gift. Hunting for ‚Armenian Gold‘ in Post-Genocide Turkish Kurdistan, in: Subjectivity 10 (2017), 2, S. 170–189.
  14. Erhellend verweist beispielsweise auch Hrag Papazian auf die intersektionalen Identifikationen und Subjektivitäten der linken armenischen Gruppierung Nor Zartonk (= Neues Erwachen) in Istanbul, vgl. ders., Between Gezi Park and Kamp Armen. The Intersectional Activism of Leftist Armenian Youths in Istanbul, in: Turkish Studies 18 (2017), 1, S. 56–76.
  15. Yaşar Tolga Cora / Dzovinar Derderian / Ali Sipahi, Introduction. Ottoman Historiography’s Black Hole, in: dies. (Hg.), The Ottoman East in the Nineteenth Century. Societies, Identities and Politics, London / New York 2016, S. 1–15, hier S. 5.
  16. Janet Klein, Epilogue. Contributions, Opportunities, and Dilemmas Faced by Scholars of the Ottoman East, in: Cora / Derderian / Sipahi (Hg.), The Ottoman East, S. 291–298, hier S. 292.
  17. Uğur Ümit Üngör / Mehmet Polatel, Confiscation and Destruction. The Young Turk Seizure of Armenian Property, London / New York 2011.
  18. Zu möglichen affektiven Effekten unrechtmäßiger Aneignungen bemerkt Yael Navaro-Yashin: „The melancholy experienced, via the everyday presence of objects belonging to others […] is a loss of a sense of moral integrity.“ In: dies., Affective Spaces, Melancholic Objects. Ruination and the Production of Anthropological Knowledge, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 15 (2009), 1, S. 1–18. hier S. 16.
  19. Zu den vielschichtigen Erfahrungen kollektiver Gewalt, Enteignungen und sedimentierter Zerstörung, wie sie sich in Erinnerungen, Erzählungen und Artefakten niederschlagen, vgl. Anoush Tamar Suni, Palimpsests of Violence. Ruination and the Politics of Memory in Anatolia, Diss., UCLA 2019; Seda Altuğ, Sectarianism in the Syrian Jazira. Community, Land and Violence in the Memories of World War I and the French Mandate (1915–1939), Diss., Universität Utrecht 2011; Biner, States of Dispossession.
  20. Fatma Müge Göçek, Denial of Violence. Ottoman Past, Turkish Present, and Collective Violence against the Armenians 1789–2009, Oxford 2015, S. ix–xiv und 8–40.
  21. Armenische Ansprüche auf Restitution reichen von symbolischen und kleinen Formen der Kompensation bis hin zu maximalistischen Forderungen nach einer Rückkehr zum Vertrag von Sèvres. Ein interessantes Beispiel bot der armenisch-amerikanische Genozid-Forscher Vahakn Dadrian mit seiner Haltung, dass er seine Ansprüche auf das Land seiner Vorfahren in der Provinz Ankara aufzugeben bereit sei, wenn die Türkei den Genozid anerkenne. Vgl. Üngör/Polatel, Confiscation and Destruction, S. 171.
  22. Schlaglichtartig zeigte sich dies in den Kontroversen innerhalb der Gezi-Park-Protestbewegung, wie politisch mit der gesellschaftlich weithin beschwiegenen historischen Tatsache umzugehen sei, dass auf dem Gebiet des Parks ehemals ein armenischer Friedhof existierte, der in den 1930er Jahren konfisziert und zerstört wurde und dessen Grabsteine teilweise für die Stufen des Parks verbaut wurden. Im Blick auf die armenischen Leidtragenden staatlicher Enteignungspolitik einerseits und fortdauernd nutznießende und strukturell privilegierte „citizens, who can claim Turkish ethnicity“, andererseits, notieren Parla und Özgül pointiert: „Perhaps all critical historiography and anticapitalist occupy movements in Turkey have to (re)start in the graveyards.“ In: Ayşe Parla / Ceren Özgül, Property, Dispossession, and Citizenship in Turkey; or, the History of the Gezi Uprising Starts in the Surp Hagop Armenian Cemetery, in: Public Culture 28 (2016), 3, S. 617–653, hier S. 645.
  23. Vgl. Biner, States of Dispossession, 5, 29 und 131–148; Çelik, The Armenian Genocide. Ein prominentes Beispiel bieten etwa die komplizierten Landkonflikte und Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Kloster Mor Gabriel, kurdischen Dörfern und türkischem Staat, die bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangten. Vgl. Biner, States of Dispossession, S. 131–148; Susanne Güsten, A Farewell to Tur Abdin, Istanbul Policy Center (IPC), August 2016, S. 17–19 und 22–25, https://syriacpress.com/blog/2020/08/23/a-farewell-to-tur-abdin-susanne-gusten/ (10.6.2021).
  24. Üngör/Polatel, Confiscation and Destruction, S. 172.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Affekte / Emotionen Anthropologie / Ethnologie Erinnerung Gewalt

Renate Kreile

Renate Kreile ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Transformationsprozesse im Nahen und Mittleren Osten, Geschlechterforschung, Türkei, Minderheiten, politischer Islam/ Islamismus.

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