Nina Franz | Rezension | 17.03.2021
Ungehorsame Bildbetrachtung
Rezension zu „Schauen und Strafen. Nach 9/11“ von Linda Hentschel
In Schauen und Strafen. Nach 9/11, dem ersten Teil ihres mehrbändigen Projekts, möchte die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Linda Hentschel der westlichen „Medienpolitik der Immunisierung“ (S. 33) eine „Ethik der Verletzbarkeit“ (S. 129) entgegensetzen, die sich durch eine Praxis des „ungehorsamen Sehens“ realisieren lasse. In vier Essays, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können, untersucht Hentschel, unter welchen Umständen Bilder von Folter und anderen Formen grausamer Gewalt selbst als Bestandteile von Folter- und Tötungspraktiken zu verstehen sind, wie sich die gezeigten Erniedrigungen durch das Anschauen der Bilder fortsetzen und wie der bildvermittelten Gewalt mittels einer verantwortungsvollen, kritischen Praxis des Betrachtens Einhalt geboten werden könnte. Von anderen in der deutschsprachigen Bildwissenschaft verorteten Studien der letzten Jahre, die einen ähnlichen Fokus auf die Bildpolitiken des Terrorismus gelegt haben,[1] hebt sich Hentschel ab, indem sie statt der Umstände der Bildproduktion und der als Handlungen begriffenen „Bildoperationen“ die „Gegentechniken der Bildrezeption“ (S. 17) in den Blick nimmt. Zudem wählt sie einen dezidiert philosophischen Zugang, mit dem sie eher an französische Bildtheorien anknüpft.
Mit Jacques Derrida, Michel Foucault, Judith Butler und Emmanuel Levinas stützt sich jedes der vier Kapitel auf die theoretische Position eine*r Denker*in. Bei Derrida findet Hentschel eine Theorie des Schurken, die das vermeintlich klare Verhältnis zwischen dem hegemonialen, westlichen Freiheitsbegriff und seinem „schurkischen“ Gegenüber verkompliziert. Derrida zufolge verhalten sich die westlichen Staaten selbst wie Schurken, da sie auf einem identitären „Recht des Stärkeren“ gründen und ein „Recht auf Differenz“ suspendieren (S. 44). Seine „Ethik der Verantwortung“ möchte Hentschel in eine kritische Bildpraxis überführen, die „jenseits einer naiven Schaulust, eines autoritären Blickverbots durch Zensur oder einer selbsterhaltenden Schuld“ (S. 155) liegt und dabei offen bleibt für jene Widerständigkeiten, „Paradoxien, Lücken, Kontraste“, die eine narzisstische und selbstimmunisierende Rezeption unterbrechen (S. 160). Wie könnte eine Ethik des Visuellen formuliert werden, die dem Anspruch gerecht wird, sich nicht dermaßen visuell regieren zu lassen, wie Hentschel in Anlehnung an Foucault formuliert?
Hentschels sorgfältig durchdachte Fallstudien zeichnen nach, wie sich infolge der Terroranschläge des 11. Septembers 2001 zahlreiche Straf- und Folterpraktiken im Medium des (digitalen) Bildes herausbildeten, die als neue Form der asymmetrischen Kriegführung gelten können. Die Umsicht, mit der das amerikanische Militär etwa durch embedded journalism buchstäblich das Bild eines gerechten Kriegs zu wahren suchte, wurde schon bald durch eine schwer kontrollierbare Flut global proliferierender Bilder konterkariert, von der Gruppen wie Al-Qaida im Kampf gegen die technologisch weit überlegene Weltmacht profitierten. Verstärkt durch digitale Zirkulationslogiken wurden die medialen Erzeugnisse der Schläge und Gegenschläge des retributiven US-amerikanischen War on Terror – von den abgetrennten Köpfen der Söhne Saddam Husseins, auf die die Terrororganisation Al-Qaida mit einem neuen Genre des Enthauptungsvideos reagierte, bis hin zu den auf unzähligen privaten Fotografien dokumentierten Kriegsverbrechen von Abu Ghraib – Objekte einer grauenerregenden Bilderschlacht.
Hentschel rekonstruiert die kleinteiligen Hintergründe der bildlichen Gewaltexzesse, ihrer Täter*innen, Opfer und Rezipient*innen. Viele Zusammenhänge dürften den Leser*innen noch nicht bekannt sein, obwohl einige der diskutierten Ereignisse, wie die Inszenierung der Tötung Osama bin Ladens im Situation Room der Obama-Regierung oder die sexualisierten Erniedrigungen irakischer Häftlinge durch US-amerikanische Söldner*innen und Soldat*innen in Abu Ghraib, bereits eine kritische mediale und bildtheoretische Reflexion erfahren haben. Neben den Hintergründen problematisiert Hentschel aber auch die affizierende Wirkung der Bilder, die im Buch kleinformatig und in Schwarz-Weiß abgedruckt wurden. Dass die Autorin sich selbst in dieser Publikation keiner Bildzensur unterwirft, ist kritisiert worden.[2] Im dritten Kapitel nimmt Hentschel allerdings eine solche Kritik vorweg, indem sie sich klar von Positionen wie der von Horst Bredekamp abgrenzt, der im Jahr 2004 in Reaktion auf den medialisierten Terror zum Boykott der Bilder aufgerufen hatte. In dieser „Blickverweigerung“ erkennt Hentschel eine „bildmagische, Angst abwehrende Geste“ (127), die sich unfreiwillig „zum Komplizen konservativer, nationalistischer und autoritärer Stimmen“ (128) mache. Hentschel dagegen ruft dazu auf, die Phantasmen der Dominanz von Bildern hinter sich zu lassen und stattdessen deren Existenzbedingungen zu reflektieren. Der Logik der Immunisierung und Sicherheitsprävention sowohl durch Schauverbote als auch Schauzwang setzt sie bewusst die Anerkennung der „grundsätzlichen Gefährdetheit des Lebens“ (S. 129) entgegen. Ihre Leser*innen adressiert sie folglich immer auch als Betrachter*innen, deren eigene Affizierung durch die gezeigten Bilder sie schreibend begleitet.
Damit unterscheidet sich Schauen und Strafen von Butlers Studie Frames of War aus dem Jahr 2009, die ansonsten einen wichtigen Referenzpunkt darstellt. Hentschels eigener Ansatz liest sich dabei als Auseinandersetzung mit dem zentralen Kapitel in Butlers Buch über „Folter und die Ethik der Fotografie“, das als Dialog mit den von Susan Sontag in Reaktion auf die Ereignisse nach dem 11. September verfassten Essays Regarding the Pain of Others (2003) und „Regarding the Torture of Others“ (2004) angelegt ist. Dabei geht es Hentschel erklärtermaßen darum, Butlers „Neukonzeptionalisierung des Körpers im Feld der Politik“ um eine Setzung „der BetrachterInnen im Feld der Bilderpolitik“ (S. 153) zu ergänzen. Auf Sontags These, dass die Fotografie im Gegensatz zum sprachlichen Argument nur einen Affekt, aber keine Narration und daher auch keine Interpretation liefern könne, hatte Butler mit dem Konzept der Rahmung (frame) geantwortet: Durch den visuellen oder narrativen Rahmen, der bestimmte Normen visuell umsetze, liefere das Bild eine Interpretation – es argumentiere und überzeuge von der Sichtweise eines bestimmten regulatorischen Regimes. In der Sichtbarmachung und Kritik der Rahmung liegt für Butler folglich das Potenzial eines „ungehorsamen Sehens“. Daran schließt Hentschel an, indem sie erklärt, eine „kritische Rahmung” würde „nicht nur die Darstellung von Gewalt im Bild in Frage stellen, sondern die strukturelle Gewaltsamkeit des westlichen Repräsentationssystems selbst sichtbar machen“ (S. 153).
Wie Hentschel schon an anderer Stelle[3] beschrieben hat, würde ein solchermaßen „ungehorsames Sehen“ die unsichtbar gemachten Voraussetzungen eines visuellen Regimes aufdecken. Das könnte zum Beispiel heißen, einem Detail Beachtung zu schenken, das über das Bild hinausweist, gewissermaßen auf den Kontext seiner Herstellung deutet und damit die „unausgesprochenen Rahmenbedingungen“ sichtbar macht.[4] So besteht auch in der Änderung des Rahmens, im Zeigen des ganzen Bildausschnitts, Hentschels überzeugendster Versuch, eine kritische Bildpraxis in die Tat umzusetzen. Am Beispiel der Fotografien aus Abu Ghraib bedeutet dies, das ganze Foto zu zeigen, nicht nur den auf die Einzeltäter*in fixierten Bildausschnitt, sondern auch die am Bildrand stehenden Unbeteiligten, um damit der offiziellen Erzählung der wenigen Einzeltäter („few bad apples“) zu widersprechen. Damit möchte Hentschel nicht zuletzt durch normative und normalisierte Sehweisen produzierte Rollenverteilungen aufbrechen. Wiederum am Beispiel Abu Ghraibs macht sie deutlich, wie die offizielle Darstellung der Gewalttaten von Seiten des US-amerikanischen Militärs Schuld vom Typus des heroischen, weißen, männlichen Soldaten auf Ausnahmecharaktere abwälzt. So werde die aus der Unterschicht stammende, burschikos auftretende Lynndie England, die nicht dem Klischee amerikanischer Weiblichkeitsvorstellungen entspricht, in der offiziellen Erzählung zur zentralen Täterin: Auf den zirkulierten Bildern steht sie meist buchstäblich allein da, grinst in die Kamera, hält den Daumen hoch, während sie sich über einen zu Tode gefolterten Gefangenen beugt, deutet mit den zu einer Pistole geformten Fingern auf die Genitalien der in einer Reihe aufgestellten Folteropfer. Eine Vergrößerung des Bildausschnitts macht jedoch erkennbar, dass England nur eine von vielen Täter*innen war, dass viele der anwesenden Soldaten nicht einmal aufschauen, ganz so, als sei die Folter Teil des normalen Gefängnisalltags. Hentschels Schaupraktik legt damit nicht nur die Motivation der „Rahmung“ („framing“ bedeutet im Englischen auch „bezichtigen“) von England als Einzeltäterin offen, sondern auch das ganze Ausmaß der normalisierten, menschenverachtenden Praktiken der amerikanischen Besatzer, die sich, wie die Masse der Bilder ebenfalls zeigt, noch dazu völlig auf der Seite des Rechts wähnten.
Doch Hentschels Rahmenkritik gibt sich nicht mit forensischer Aufklärungsarbeit zufrieden. Vielmehr geht es ihr darum, die „Immunisierung“ und den „Trauerstau“ der Betrachter*innen zu unterlaufen. „Erst wenn die Anerkennung eigener Verletzbarkeit im Feld des Visuellen zur Darstellung kommen kann“, so Hentschel, „löst sich die Abstumpfung angesichts anderer Tode“ (144). Voraussetzung dafür sei eine spezifische Komplizenschaft mit dem „Angesicht“, das „mir die Voraussetzungen meiner Ansicht zeigt“ (145). Sowohl Butler als auch Hentschel berufen sich dabei auf die Ethik des Affekts von Emmanuel Levinas: Das „Angesicht“ der oder des Anderen rufe die Ambivalenz zwischen Verletzungswunsch und Trauer um den anderen auf dem Feld des Visuellen hervor (145). Das Angesicht stabilisiere nicht das eigene Leben (im Sinne der Immunität gegen den Anderen), sondern störe es, weil es ihm seine Ansprechbarkeit zurückgebe.
Butlers und Hentschels Versuch, mit Levinas eine visuelle Ethik der Verletzlichkeit zu entwickeln, setzt gewissermaßen das „Angesicht“ des Anderen an die Stelle des Bilds. Und tatsächlich befindet sich das Angesicht – als etwas, das gesehen wird – wie das Bild auf der Ebene der Visualität. Levinas als Kronzeuge einer Ethik des Bildersehens ist dennoch insofern überraschend, als er in seinem Werk eine eigene Bildtheorie entwickelte, die jede Form der bildlichen Darstellung entschieden von dem begrifflich als Angesicht oder Antlitz gefassten face abgrenzt.[5] Für Levinas ist die Erfahrung des Anderen an das Sprechen gebunden – sie ist eine sprachliche[6] und dezidiert keine rein visuelle Beziehung. Das Bild auf der anderen Seite ist für Levinas, der auf Grundlage der theologisch-philosophischen Tradition des jüdischen Bilderverbots argumentiert, lediglich ein „Schatten“ der Wirklichkeit und die Beziehung der Betrachtung gerade eine der Verantwortungslosigkeit[7] – und nicht, wie bei Hentschel, der Verantwortung. Hentschels Buch gibt Levinas implizit Recht: Nicht die Bilder argumentieren, sondern erst im Medium der Schrift gelingt es, in kleinteiliger, aufmerksamer Rekonstruktions- und Denkarbeit durch die Bilder hindurch die Umstände und Bedingungen hervorzukehren, die den Blick auf die oder den Andere*n, auf seine oder ihre Menschlichkeit und die eigene Verletzbarkeit verschleiern.
Hentschels Studie ist erfrischend wenig voraussetzungsvoll und eignet sich ausgezeichnet als Einführung für interessierte Leser*innen, die sich mit einigen der wichtigsten souveränitätskritischen (Bild-)Theorien der jüngeren Vergangenheit vertraut machen möchten. Zudem kann sie als wichtiger Beitrag zu der zeithistorischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen nach 9/11 gelten, als staatliche Regierungstechniken und asymmetrisch agierender Terrorismus vor den Augen der Welt um das Gewaltmonopol des global zirkulierenden Bildes rangen. Dieser grausame „Bilderkrieg“ stellte die Versprechen des Internetzeitalters radikal infrage und nahm jenen Katastrophismus vorweg, der mit dem Hereinbrechen der doppelten Realität von Klimakatastrophe und globaler Pandemie nach 2020 den westlichen Glauben an die eigene Unverwundbarkeit endgültig desavouierte. Hentschels entimmunisierende Bildbetrachtung hält diesen neuen Herausforderungen stand. Sie ist zuallererst als eine Einladung an Leser*innen zu verstehen, sich weder der Abstumpfung noch der Selbstüberschätzung hinzugeben, sondern sich vorsichtig und denkend auf die Suche nach einer neuen Ethik des Bildgebrauchs zu machen. Das Grauen, die Gewalt und die Erniedrigungen, die in den von Hentschel analysierten Bildern zu sehen sind, können so jedoch nicht gebannt werden. Vielmehr zeigt eine solche Ethik des Betrachtens, die man mit der französischen Philosophin Marie-José Mondzain, mit der Hentschel viel gemein hat, auch als „Erziehung des Blicks“[8] bezeichnen könnte, einen Weg, wie Betracher*innen dem Bilderkrieg, für den sie medial rekrutiert worden sind, den Gehorsam verweigern können. Dazu gilt es, wie Hentschel und Mondzain fordern, Betrachter*innen in die Lage zu versetzen, Abstand zum Bild zu gewinnen und so „innerhalb des emotionalen Funktionierens des Sichtbaren mit kritischer Freiheit zu reagieren“.[9]
Fußnoten
- So zum Beispiel Charlotte Klonk, Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt am Main 2017; oder Verena Straubs Dissertation, Bezeugen - Erzeugen - Überzeugen. Das Selbstmordattentat im Bild, die im Herbst dieses Jahres im Transcript-Verlag erscheinen wird.
- Steffen Siegel, Sehen müssen. Linda Hentschel über Bilder von Gewalt und Grausamkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.9.2020, S. 10.
- Siehe: Linda Hentschel, „Auf der Suche nach einem ‚ungehorsamen Sehen‘“, in: kritische berichte 37 (2009), 4, S. 64–73.
- Ebd., S. 71.
- Hierzu siehe: Pascal Delhom, „Emmanuel Levinas“, in: Iris Därmann / Kathrin Busch (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München, 2011.
- Siehe: Iris Därmann, Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München, 1995, S. 588 f.
- Emmanuel Levinas, Die Wirklichkeit und ihr Schatten [1948], in: Emmanuel Alloa (Hg.), Bildtheorien aus Frankreich, München, 2011, S. 82.
- Marie-José Mondzain, Können Bilder töten?, Zürich/Berlin 2006, S. 39.
- Ebd., S. 36.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers.
Kategorien: Gewalt Kunst / Ästhetik Medien
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