Christopher Schlembach | Essay |

Uta Gerhardt (*1938)

Von der geisteswissenschaftlichen Begründung der Medizinsoziologie zum Denken der Demokratie

Uta Gerhardt
Uta Gerhardt, Zeichnung von Nicole Holzhauser

Uta Gerhardt wurde 1938 geboren, fast genau drei Monate nachdem das nationalsozialistische Deutschland Österreich okkupiert hatte. In ihrer Kindheit und noch während des Krieges, so erzählte sie einmal, lief sie im Sommer die Straße vor ihrem Elternhaus hinunter und hörte, dass bei den Nachbarn der Volksempfänger laut aufgedreht war. Doch sah sie niemanden, der ihm zuhörte. Mit dieser Anekdote wollte Gerhardt ein Phänomen einer anomischen Gesellschaft verdeutlichen, in der die soziale Interaktion tief gestört war. Denn die Volksempfänger liefen möglichst laut, um vor der restlichen Nachbarschaft die Fassade aufrecht zu erhalten, man messe den Worten des Führers Bedeutung bei. Derartige Erfahrungen nutzte Gerhardt, um den Zusammenhang der von ihr vertretenen geisteswissenschaftlichen Soziologie mit der modernen (demokratischen) Gesellschaft zu erfassen und begrifflich auszuarbeiten. Dabei orientierte sie sich an einer Haltung, die man mit einem Zitat Sigmund Freuds prägnant ausdrücken kann: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzähligen oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“[1]

In diesem Sinne suchte Gerhardt nicht das grelle Rampenlicht soziologischer Zeitdiagnosen. Vielmehr führt sie beispielhaft vor, wie eine präzise Arbeitsweise in den Kontexten empirischer Forschung, soziologischer Theoriebildung und historischer Rekonstruktion der analytischen Reflexion der Gesellschaft und ihrer Geschichte gerecht werden kann.

Der vorliegende Beitrag stellt einige „Sinnlinien“ zu einem intellektuellen Porträt Uta Gerhardts vor, mit dem ich ihre Leistungen zur Entwicklung der Soziologie würdigen möchte. Ihre Arbeiten zur soziologischen Theorie, zur empirischen Sozialforschung und zur Geschichte der Soziologie drehen sich um Fragen adäquater Begriffsbildung sowie methodischer Vorgehensweisen der Soziologie gegenüber der Wirklichkeit von Gesellschaft und Geschichte.

Wie sie in ihrer Auseinandersetzung mit der Biografie von Talcott Parsons[2] betont, verschränken sich in der Werkgeschichte von Soziolog:innen die Biografie eines Individuums mit der Gesellschaftsgeschichte. So ist es auch bei Gerhardt: Setzt man sich mit ihren Arbeiten auseinander, müssen Gesellschaftsgeschichte und individueller biografischer Verlauf zusammengedacht werden. Gerhardt hat die Entwicklung einer modernen Demokratie in Deutschland genauso erlebt wie deren Zusammenbruch im Totalitarismus einer paranoiden und genozidalen Gesellschaft. Daraus entwickelte sie ein spezifisches Problembewusstsein, das sich an ihren Themen – etwa Gesundheit und Krankheit, Familienmodelle oder methodologische Reflexionen über die Grundlegung moderner Soziologie – festmachen lässt.

Die folgende Darstellung ist in drei Schritten aufgebaut. Zuerst wird Gerhardts Zugang zu einer geisteswissenschaftlich begründeten Soziologie anhand ihrer Habilitation zur Rollentheorie skizziert. Im zweiten Schritt gehe ich auf Gerhardts medizinsoziologische Arbeiten ein, in denen Krankheit und Gesundheit zu Themen biografischer Orientierung werden. In diesem Zusammenhang entsteht ihre Weiterentwicklung des Idealtypus-Gedankens zu einer empirischen Forschungsmethode sowie ihre ideengeschichtliche Rekonstruktion des Idealtypus. Im dritten Schritt stelle ich ihre Beiträge zur Geschichte der Soziologie, im Speziellen der Medizinsoziologie heraus. Auf der einen Seite steht die intensive Auseinandersetzung mit der Soziologie Talcott Parsons, in der sich eine wichtige Verbindung von Medizinsoziologie und gesellschaftlicher Transformation Deutschlands nach dem Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus findet. Auf der anderen Seite begreift Gerhardt die Geschichte der Soziologie insbesondere Deutschlands in ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Uta Gerhardt erscheint vor diesem Hintergrund als eine hoch aktuelle Denkerin, die das methodologische Denken der geisteswissenschaftliche Soziologie und Gesellschaftsanalyse ins Zentrum stellt und sich dabei an den Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft orientiert.

Von den soziologischen Aprioris zur Rollentheorie

Gerhardt studierte Soziologie, Philosophie und Geschichte in Frankfurt am Main und Berlin; sie habilitierte sich mit der Arbeit Rollentheorie als kritische Soziologie[3]. In diesem Buch werden wichtige Aspekte ihrer Soziologie deutlich, von denen zwei herausgehoben werden sollen: Zum einen knüpft sie an die Geisteswissenschaften Diltheys[4] an. An Dilthey stellt Gerhardt die Kategorie des Lebens heraus, das in seinen Formen mittels methodisch kontrollierten Verstehens als historisch gewordene Sinnstruktur untersucht werden kann. In dieser Perspektive sieht Gerhardt zum anderen die Soziologie Georg Simmels, in deren Zentrum der Rollenbegriff als „Wirklichkeitskategorie“[5] steht. Gerhardt arbeitete zunächst die drei soziologische Apriori Simmels heraus, in denen die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft zur Bedingung der Möglichkeit von Soziologie werden: Erstens findet Interaktion immer in typisch verallgemeinerten Formen (etwa als Mann, Arbeitnehmer:in) statt, die auf das Rollenapriori verweisen. Zweitens muss diese Verallgemeinerung um Individualitätsapriori ergänzt werden. Ein Individuum geht nie gänzlich in dem Bereich des Vergesellschafteten auf. Drittens verweist das Strukturapriori auf das vorgegebene gesellschaftliche Gefüge als Ausgangspunkt von Typisierungen im sozialen Handeln. Vor diesem Hintergrund konzipiert Gerhardt Rollen als interpretative Typisierungsschemata, mit denen sich Interaktionspartner:innen in strukturellen Kontexten aufeinander beziehen können. Die strukturellen Kontexte werden grob entlang dreier Abstraktionsebenen unterschieden, die sich auf drei Stufen der Standardisierung von Handeln beziehen. Mit der Situation wird die unmittelbare Handlungsumwelt Bezugspunkt der Interpretation des strukturellen Kontexts und der dazugehörigen Situationsrolle (zum Beispiel als Verkehrsteilnehmer:in); bei der Position geht es um die Gruppe oder die Organisation als Bezugsebene der Interpretation. Damit sind in erster Linie die Berufsrollen gemeint. Der Status hebt auf Gesellschaft als Ganzes ab und verweist auf Statusrollen, etwa auf die relativ übergreifenden status-relevanten Personenmerkmale (etwa Alter, Geschlecht) oder die Schichtzugehörigkeit. Die von Gerhardt entwickelte Rollentheorie bezog die ganze Breite der damals relevanten Theorieansätze ein: das struktur-funktionale Denken (Integrationstheorie), die Konflikttheorie und den symbolischen Interaktionismus (Interaktionstheorie). Sie argumentierte, dass diese Ansätze sich nicht widersprechen, sondern lediglich jeweils einen anderen Kontext, nämlich Situation, Position oder Status in den Mittelpunkt stellen würden.

Medizinsoziologie und idealtypisch begründete qualitative Sozialforschung

Im Jahr 1973 erhielt Gerhardt einen Ruf der Universität Aachen, sie entschied sich jedoch dagegen und ging mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft an die University of California in San Diego, um an der Weiterentwicklung qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung zu arbeiten. In den USA lernte sie zunächst Aaron Cicourel und wenig später Harold Garfinkel und Anselm Strauss kennen. Diese Wissenschaftler lieferten wichtige Impulse für die qualitative Wende in der Sozialforschung, die Gerhardt mit ihrem Interesse an der methodischen Umsetzung verstehender Soziologie verbinden konnte.

In den USA standen medizinsoziologische Themen im Zentrum ihres Forschungsinteresses, die sie in ihrer Lehrtätigkeit an der University of London Mitte bis Ende der 1970er-Jahre und ab 1979 als ordentliche Professorin an der Universität Giessen fortsetzte, wo sie im Fachbereich Humanmedizin die Abteilung für Medizinische Soziologie leitete. Dabei ging es ihr wie schon in der Rollentheorie um einen verstehenden Zugang zu Krankheit und Gesundheit, wenn sie beispielsweise Stress-Coping-Zusammenhänge im Lebenslauf, wie sie im Life-Event-Approach untersucht wurden, als soziales Handeln konzipierte. Gerhardt betonte, Coping-Handlungen müssten in der Beziehung zwischen der individuellen sozialen Existenz gegenüber ökonomischen und politischen Strukturen gedacht werden.[6]

In den 1980er-Jahren entwickelte sie den medizinsoziologischen Life-Event-Approach zu einem Forschungsprogramm des gesundheitsbezogenen biografischen Entscheidens weiter. In diesen empirischen Arbeiten ging sie auf die Grundlegung der verstehenden Soziologie durch Weber zurück und griff das Konzept des Idealtypus auf, das durch Alfred Schütz[7] um die (biografische) Zeitperspektive erweitert und vertieft wurde.

Da weder Weber noch Schütz im Sinne empirischer Sozialforschung mit Idealtypen gearbeitet hatten, musste dieser Ansatz aber überhaupt erst entwickelt werden. So erarbeitete Gerhardt Idealtypen als empirische Forschungsmethode in einem Projekt zu Patientenkarrieren mit chronischer Niereninsuffizienz.[8] Ein weiteres großes Projekt, das an einer Klinik in London zu biografischen Entscheidungen hinsichtlich einer Rückkehr ins Berufsleben oder einer Frühberentung von Patienten (es handelte sich ausschließlich um Männer) nach einer koronaren Bypass-Operation durchgeführt wurde, lieferte Gerhardt das empirische Material, um den Zusammenhang von Herz und Handlungsrationalität[9] mit den Mitteln qualitativer Sozialforschung zu untersuchen. Der medizinische Kontext eignete sich für die Anwendung von Idealtypen besonders gut, da es sich aus soziologischer Sicht bei Krankheit und Gesundheit um Individualphänomene handelt, deren Beziehung zur Sozialstruktur verstehend erklärt werden sollte. Durch die Anwendung der Idealtypen konnte Gerhardt im schrittweisen Fallvergleich die immer nur individuell getroffenen biografischen Entscheidungen über generalisierte (typische) Begriffe auf einer analytischen Ebene zugänglich und mit Blick auf die strukturellen Gegebenheiten erklärbar machen. Es wurde deutlich, dass im Alltag Rationalität herrscht und dass beide Wege, sowohl die Berufsrückkehr bei ungünstiger Prognose wie auch die Frühberentung bei günstiger Prognose rational waren.

Im Jahr 2001 veröffentlichte Gerhardt ihre Einsichten zur Theoriegenese des Idealtypus-Gedankens, wie er der Methodenentwicklung zugrunde lag.[10] In werkgetreuen Rekonstruktionen, also der „leisen Stimme der Vernunft“ im Gegensatz zu den zahlreichen Polemiken gegenüber Simmel und Weber, zeichnete Gerhardt nach, wie die moderne verstehende Soziologie von der „Tatsache des Du“[11] ihren Ausgang nimmt. Weder im Alltag noch in der Wissenschaft ist der subjektive Sinn, mit dem sich Handelnde in der Welt orientieren, direkt und vollständig zugänglich. Stattdessen muss er im Ausgang von der Tatsache, dass Fremdverstehen möglich ist, wenn Handelnde versuchen, sich in kommunikativer Absicht wechselseitig zu verstehen, soweit rekonstruiert werden, dass die jeweils unterschiedlichen Anforderungen des Alltags oder der wissenschaftlichen Erkenntnis erfüllt werden. Die im Alltag gebildeten Idealtypen, in denen alter ego und sein Verhalten als sinnhaftes Handeln und damit als Basis für Interaktion verstanden werden können, müssen auf einer begrifflichen Ebene umgeformt und vor dem Hintergrund von Fragestellung und Erkenntnisinteresse rekonstruiert werden. In diesem Übergang sind nach Max Weber[12] zwei Imperative intellektueller Rechtschaffenheit leitend: Objektivität und Wertfreiheit. Sie sind das A und O moderner Soziologie. Eine solche Soziologie, die mit begrifflichem (objektivem) Verstehen arbeitet, hat, so argumentiert Gerhardt, ihren Ausgangspunkt bei Simmel und Weber und wurde in den Arbeiten von Schütz und Parsons weiterentwickelt.

Soziologiegeschichte und adäquate Klassikerrezeption

Mit Gerhardts Berufung als ordentliche Professorin an die Universität Heidelberg 1993 geraten neben soziologischer Theoriebildung zusehends Themen der Soziologiegeschichte in den Fokus ihrer Forschungsinteressen. Ihre Arbeiten zur Demokratisierung Westdeutschlands durch die amerikanische Militärregierung und zu den Anfängen der Zivilgesellschaft in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg sind besonders hervorzuheben.[13] Diese Studien anschaulichen, wie eine kontrollierte gesellschaftliche Transformation im Rahmen der Besatzung Deutschlands durch das amerikanische Militär geplant und umgesetzt wurde. Handlungsleitend für die Besatzungsplanung der so genannten „Nullphase“ unmittelbar nach Kriegsende war die Handlungslogik der Übergangsrituale (rites de passage[14]). Gerhardt kam es darauf an, die Rationalität des Handelns der Militärregierung nachzuweisen. Sie arbeitete heraus, dass die Militärregierung analog zu einer psychiatrischen Behandlung vorging und wie psychiatrische Ideen, die in den USA der 1940er-Jahren entwickelt wurden, auf Deutschland angewandt wurden – ein Vorgang, der den Grundstein für die Reeducation der deutschen Bevölkerung legte.[15] Diese Forschungen wurden durch Gerhardts intensive Auseinandersetzung mit der Soziologie von Talcott Parsons vorbereitet und ergänzt, die sie während einer Reihe von Forschungsaufenthalten an der Universität Harvard in der akribischen Aufbereitung von Archivdokumenten rekonstruierte.

Parsons ist für Gerhardt eine Schlüsselfigur, auf die sie in ihren soziologiegeschichtlichen Arbeiten genauso Bezug nahm wie in ihrer Medizinsoziologie und in ihrer politischen Ideengeschichte medizinsoziologischer Konzepte. Ihr Buch Ideas about Illness[16] trägt die theoretischen Ansätze im Bereich der Medizinsoziologie bis in die 1980er-Jahre zusammen und erklärt sie aus ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang heraus. Ausgangspunkt bilden dabei die beiden Modelle, mit denen Parsons Krankheit analysierte: Erstens als Unvermögen, Rollen im Alltag adäquat auszuführen (capacity model) und zweitens als motiviertes deviantes Verhalten (deviancy model). Gerhardt arbeitet hier auch heraus, wie diese soziologischen Konzepte trotz heftiger Kritik in den 1960er-Jahren auf die Analyse von Faschismus und Anti-Semitismus angewendet und umgeformt wurden. So erläutert Gerhardt, wie aus symbolisch-interaktionistischer Perspektive das Krisenmodell des Labeling-Ansatzes entstand, das Krankheit von einer temporären Rolle zu einem dauerhaft zugeschriebenen und verinnerlichten Teil der Identität macht. Sie rekonstruiert die Genese des Aushandlungsmodells, das Patient:innen als aktive Partner:innen der medizinischen Interaktion denkt neben dem phänomenologischen Modell des „In Schwierigkeiten Geratens“ (trouble model). Schließlich zeichnete sie zwei Ansätze der Konflikttheorie nach, in denen es weniger um Stigmatisierung denn um die Bewältigung von Stress geht. Die Ansätze beziehen sich entweder auf individuelle Biografien (loss model) oder auf die unterschiedliche Verteilung von Krankheitsraten in der Sozialstruktur (domination-deprivation model). Die Leistung Gerhardts besteht vor allem darin, die Vielzahl an Publikationen – die Medizinsoziologie war zu dieser Zeit der größte empirische Forschungsbereich innerhalb des Faches – in sieben paradigmatischen Modellen zu bündeln und sie in die gesellschaftlichen Debatten der Zeit einzubetten.

Was Gerhardt schon in Ideas about Illness herausgearbeitet hatte, dass es nämlich im Werk von Parsons eine Verbindung zwischen Medizinsoziologie und der Konzeption gesellschaftlicher Transformation von einer devianten in eine integrierte und demokratische Gesellschaft gab, machte sie in den 1990er-Jahren mit der Herausgabe von Parsons Schriften zum Nationalsozialismus noch einmal explizit zum Thema.[17] Das Buch schlug „wie eine Bombe ein“, erzählte sie später. Denn damals wurde Parsons als abstrakter Systemtheoretiker kritisiert, der einem politischen Konservativismus Vorschub leisten würde. Gerhardt hingegen entlarvte solche Vorwürfe als wenig substanziell und vertrat eine gänzlich andere Auffassung: Für sie war Parsons kein von der sozialen Wirklichkeit losgelöster, abstrakter Theoretiker, sondern ein eminent politischer Denker, der in einer unabhängigen, wertfreien und objektiven Soziologie eine wichtige Kraft sah, von der die Entwicklung und Verteidigung sowie der Wiederaufbau demokratischer Gesellschaft profitieren könnte.

Ihrer Auseinandersetzung mit Parsons widmete Gerhardt zwei weitere Bücher: Talcott Parsons. An Intellectual Biography[18] und The Social Thought of Talcott Parsons[19]. In der Intellectual Biography zeigt sie eindringlich, wie der Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland und der des Faschismus in Italien das Erkenntnisinteresse von Parsons bestimmen. In ihrer Rekonstruktion von The Structure of Social Action[20] sieht Gerhardt[21] den Gegensatz von Demokratie in Amerika und Diktatur in Deutschland wie Italien zu einer doppelten Struktur sozialen Handelns verdichtet. Insgesamt kann man Gerhardts Rekonstruktionen der Parsons‘schen Soziologie als Beitrag dafür ansehen, dass er heute angemessen, nämlich als Fürsprecher einer offenen und demokratischen Gesellschaft, interpretiert werden kann.

In ihren späteren Arbeiten zur Soziologiegeschichte Deutschlands[22] setzt Gerhardt die Untersuchung des Verhältnisses von Soziologie und Geschichte fort, wie sie es am Beispiel Parsons erarbeitet hatte. Sie argumentierte, dass es in Deutschland keine kontinuierliche Entwicklung der Soziologie geben konnte, weil die Geschichte von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet war. Die Soziologie musste angesichts einer veränderten Wirklichkeit immer wieder neu ansetzen. Insgesamt unterteilt Gerhardt sechs Phasen der Gesellschaftsgeschichte: (1) das Wilhelminische Reich, (2) die Weimarer Republik, (3) die Verbrechensherrschaft des Nationalsozialismus, in der wissenschaftliche (objektive und wertfreie) Soziologie nur mehr im Exil möglich war, (4) das Gesellschaftsregime der Übergangsphase unter US-Amerikanischer Militärherrschaft, (5) die Bundesrepublik und schließlich (6) das wiedervereinigte Deutschland nach 1989.

Wie die Soziologie in den unterschiedlichen Phasen zu Neuansätzen fand, erläutert Gerhardt[23] anhand der soziologischen Debatten und Kontroversen der jeweiligen Zeit. Für die Wilhelminische Zeit, einer sich rasch modernisierenden Gesellschaft, rückte sie den ersten deutschen Soziologentag ins Zentrum ihrer Überlegungen. Auf der Konferenz hatte Max Weber die damals noch als wissenschaftlich geltende Rassentheorie in einer Replik auf den Vortrag des Rassenhygienikers Alfred Plötz entschieden zurückgewiesen – als einziger Teilnehmer. Stattdessen, so Webers Forderung, sollte die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft auf der Basis begriffsgeleiteten Verstehens begründet werden. Gerhardt verdeutlicht, wie dieser Ansatz in der Weimarer Republik von Autoren wie Othmar Spann als Individualismus missverstanden und von Freyer verfremdet wurde. Die Wirklichkeitswissenschaft Soziologie wurde zum Sprachrohr eines politischen Projekts umgebogen, das beispielsweise der Realisierung eines „Ständestaats“ dienen sollte. Die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft im Sinne Webers wurde aber, so zeigt Gerhardt, in den USA durch den jungen Talcott Parsons rezipiert und zu einem tragfähigen Ansatz des Sozialdenkens gemacht, der sich ebenso wie Weber gegen den Sozialdarwinismus richtete.

In der Auseinandersetzung mit dem Verbrechensregime des Nationalsozialismus geht es Gerhardt vor allem um eine These, die in der neueren Forschung lautstark durch Zygmunt Bauman vertreten wurde: Der Nationalsozialismus und seine genozidale Aggression seien ein gesellschaftliches Merkmal der Moderne. Demgegenüber entfaltete sie die sachlich möglicherweise angemessenere, aber weniger laute These, dass man analytisch zwischen moderner Gesellschaft und ihrem Zusammenbruch, also einer Anti-Moderne, unterscheiden müsse. Gerhardt arbeitet heraus, wie dieser Gedanke auf der Basis der Herrschaftssoziologie Webers in ihrer Rezeption durch Parsons begründet werden kann.

Die Soziologie der Bundesrepublik diskutiert sie an zwei kontroversen Themen. Zum einen geht es ihr um die Frage, ob die Surveyforschung einen Import aus den Vereinigten Staaten darstellte oder in der Kontinuität zur Forschung der NS-Zeit zu sehen sei – Gerhardt legt überzeugend dar, warum sie als amerikanischer Import verstanden werden muss. Für die bundesrepublikanische Soziologie der 1960er-Jahre schildert sie, wie sich die Ansätze beispielsweise von Habermas, Luhmann oder Berger und Luckmann gegen den dominanten Strukturfunktionalismus wandten, ohne aber der in dieser Tradition entwickelten Grundlegung einer geisteswissenschaftlichen Soziologie gerecht zu werden. Wenn man Gerhardts Rekonstruktion des Idealtypus-Gedankens genau zuhört – ein sehr schönes Beispiel für die leise Stimme des Intellekts – kommt man womöglich zu dem Schluss, dass man nicht unbedingt der Schütz-Interpretation folgen muss, wie sie Berger und Luckmann[24] einst vorgelegt haben.

Fazit: Die leise Stimme des Intellekts

Ich möchte die Sinnlinien, mit denen Gerhardts intellektueller Werdegang in diesem Portrait skizziert wurden, nochmals zusammenführen. Durch ihr ganzes Werk zieht sich der rote Faden einer geisteswissenschaftlich begründeten Soziologie, die das Verstehen sozialer Strukturen und Prozesse auf der Basis der immer nur individuell gegebenen sozialen Handlungen ins Zentrum stellt. Dieser Gedanke wird in der Auseinandersetzung mit der Rollentheorie entwickelt und später anhand von biografischen Entscheidungen im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Strukturen vertieft. Er findet sich aber auch in Gerhardts Verortung soziologischer Theorien gegenüber der geschichtlichen Welt. Über die Auseinandersetzung mit den Klassikern der Soziologie, insbesondere mit Parsons, wurde ihr zusehends die Bedeutung medizinsoziologischer Themen für den Erhalt und den Zusammenbruch moderner (demokratischer) Gesellschaften bewusst. So fokussierten viele ihrer Arbeiten zur Geschichte der Soziologie auf diese Verbindungslinien von Medizin und Gesellschaft. Den lauten Thesen zum Holocaust als Teil der Moderne, wie sie etwa Bauman vertrat, stellte sie eine leisere, aber umso sorgfältiger begründete Interpretation der gesellschaftlichen und historischen Vorgänge gegenüber.

Gerhardts Soziologie ist weitaus vielfältiger als sie durch die Konturen dieses Porträts erscheint. Aber es sollte deutlich geworden sein, dass sie als eine Vertreterin der leisen Stimme des Intellekts gelten kann. Sie hat ihr Denken auf unermüdliche empirische Arbeit und auf die sorgfältigen Rekonstruktion der theoretischen Argumente von klassischen Autor:innen gestützt und entsprechend formuliert. Diese Stimme musste von jeher und muss noch immer im Alltag gehört und in der Wissenschaft verteidigt werden. Damit hatte Gerhardt es in der männlich dominierten Soziologie Deutschlands nicht immer leicht. Aber sie war davon überzeugt, dass eine geisteswissenschaftlich begründete Soziologie in methodischer wie theoretischer Hinsicht erkenntnisreiche Zugänge zur Wirklichkeit der Gesellschaft und ihrer Geschichte ermöglicht. Sie eröffnet durch sorgfältige Rekonstruktionen einen erfrischend neuen und aktuell relevanten Zugang zum klassischen soziologischen Denken, in dessen Kanon Uta Gerhardt ebenso aufgenommen gehört.

  1. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: ders., Gesammelte Werke XIV, London 1948, S. 333–380, hier S. 377.
  2. Uta Gerhardt, Doing the Intellectual Biography of Talcott Parsons, in: The American Sociologist 38 (2007), 4, S. 330–332.
  3. Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie, Neuwied und Berlin 1971.
  4. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1883.
  5. Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie, Neuwied und Berlin 1971.
  6. Uta Gerhardt, Coping and Social Action: Theoretical Reconstruction of the Life-Event Approach, in: Sociology of Health and Illness 1 (1979), 2, S. 195–225.
  7. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932.
  8. Uta Gerhardt, Patientenkarrieren. Eine medizinsoziologische Studie, Frankfurt am Main 1986.
  9. Uta Gerhardt, Herz und Handlungsrationalität. Biographische Verläufe nach koronarer Bypass-Operation zwischen Beruf und Berentung. Eine idealtypenanalytische Studie, Frankfurt am Main 1990.
  10. Ute Gerhardt, Idealtypus. Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie. Frankfurt am Main 2001.
  11. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 30.
  12. Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 146–214.
  13. siehe etwa Uta Gerhardt, Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944–1945/1946, Frankfurt am Main 2005; Uta Gerhardt / Gösta Gantner, Ritualprozess Entnazifizierung. Eine These zur gesellschaftlichen Transformation der Nachkriegszeit, Forum Ritualdynamik. Diskussionsbeiträge des SFB 619 „Ritualdynamik” der Ruprechts-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg 2004.
  14. Arnold Van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909.
  15. Uta Gerhardt, Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes. Vier Abhandlungen, Stuttgart 2007.
  16. Uta Gerhardt, Ideas about illness. An intellectual and political history of medical sociology, London 1989.
  17. Talcott Parsons, On National Socialism, herausgegeben von Uta Gerhardt, New York 1993.
  18. Uta Gerhardt, Talcott Parsons. An Intellectual Biography, Cambridge, MA 2002.
  19. Uta Gerhardt, The Social Thought of Talcott Parsons. Methodology and American Ethos, Farnham 2011.
  20. Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York 1937.
  21. Uta Gerhardt, Talcott Parsons. An Intellectual Biography, Cambridge, MA 2002.
  22. Uta Gerhardt, Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland, Stuttgart 2009.
  23. Ebd.
  24. Peter Berger / Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality, London 1967.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nicole Holzhauser, Stephanie Kappacher.

Kategorien: Demokratie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Gesundheit / Medizin Methoden / Forschung Moderne / Postmoderne

Christopher Schlembach

Christopher Schlembach ist Leiter für Forschung und Entwicklung bei MAKAM Research sowie Lektor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Geschichte der Soziologie, gesellschaftliche Teilnahme vulnerabler Gruppen und qualitative Forschungsmethoden.

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