Patrick Eiden-Offe | Essay |

Verdinglichung

Ein Begriffsschicksal

Carl Schmitt hat einmal die mangelnde „Leichtigkeit“ der Deutschen beklagt, „aus einem Wort eine handliche, einfache Bezeichnung“ zu machen, „wegen der man sich ohne große Umstände einigt“. Den Deutschen fehle es an einem praktischen Gefühl zur Prägung von Schlagworten, deren grundsätzliche Bedeutung allen sofort einsichtig werden müsse.[1]

Diese Kritik, so wird man festhalten dürfen, trifft Georg Lukács erwiesenermaßen nicht. Lukács‘ verfügte über ein ausgeprägtes begriffspolitisches Gespür und einen starken Sinn für die affektiven und polemischen Gehalte noch seiner technischsten Begriffsschöpfungen. Zu Lukács‘ handlichen, einfachen Bezeichnungen, die schnell in den allgemeinen Sprachgebrauch der theoretischen Selbstverständigung des 20. Jahrhunderts übergegangen sind, zählen etwa der „romantische Antikapitalismus“, die „transzendentale Obdachlosigkeit“, die „Zerstörung der Vernunft“, das „Grandhotel Abgrund“. Oder eben, aufs Äußerste verdichtet, die „Verdinglichung“.

Die Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts könnte ohne den Begriff der Verdinglichung kaum erzählt werden; die Kritische Theorie wie der gesamte Neo- oder „westliche“ Marxismus bauen auf ihm auf, und auch über den genuin linken Bereich hinaus lassen sich Auseinandersetzungen mit dem Begriff nachweisen, etwa in der Phänomenologie oder der Existenzialontologie Heideggers.[2]

Der Begriff der Verdinglichung ist – so möchte ich behaupten – als politisch-theoretisches Schlagwort so erfolgreich, weil er einerseits abstrakt genug bleibt, um fortgesetzte Diskussionen und immer genauere Bestimmungsversuche zu provozieren, dadurch aber andererseits nichts von seiner kritischen Stoßrichtig einbüßt. Doch gerade weil ein gewichtiger Teil der marxistischen Theoriedebatte der letzten einhundert Jahre sich immer auch um Gehalt und Reichweite des Begriffs der Verdinglichung drehte, wäre es im Sinne einer Fortführung dieser Debatte geradezu kontraproduktiv, den Begriff nun abschließend bestimmen zu wollen. Der Versuch wäre auch vermessen.[3] Stattdessen soll im Folgenden eher die anhaltende produktive Irritationskraft des Begriffs eruiert werden.

Eine Theorie der Niederlage

Lukács hat den Begriff der Verdinglichung 1923 in seinem epochemachenden Werk Geschichte und Klassenbewußtsein eingeführt. Der Aufsatz „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ nimmt fast 200 der insgesamt gut 500 Seiten starken Essay-Sammlung ein und bereits im Vorwort des Buchs wird der „Verdinglichungsaufsatz“ (wie er von seinen Anhänger*innen liebevoll genannt wird) noch einmal eigens hervorgehoben: Während die meisten Texte der Sammlung in den Jahren 1919 bis 1921 „als Gelegenheitsarbeiten“ während der Revolution und „mitten in der Parteiarbeit“ entstanden seien, seien der Verdinglichungsaufsatz und der abschließende Essay „Methodisches zur Organisationsfrage“ nachträglich „in der Zeit einer unfreiwilligen Muße eigens für diese Sammlung geschrieben“ worden.[4]

Hinter diesen dürren Worten verbirgt sich die Geschichte einer gescheiterten Revolution wie die eines rigorosen Engagements: Der Budapester Großbürgersohn Lukács war 1918 in die ungarische Kommunistische Partei eingetreten und in der kurzlebigen Räterepublik als Volkskommissar für Unterrichtswesen tätig. Auf die Revolution folgten Konterrevolution, Illegalität und Exil in Wien. Nach der Schlacht und der Zerschlagung der revolutionären Kräfte stellte sich dem Berufsrevolutionär Lukács nun zum einen die Frage der Organisation mit neuem Nachdruck. Zu ihr sollte der bereits genannte letzte Aufsatz von Geschichte und Klassenbewusstsein „Methodisches“ beitragen. Und zum anderen wollte geklärt werden, wie und warum die Schlacht überhaupt verloren werden konnte – dazu trat der Verdinglichungsaufsatz an.

Die Revolution scheiterte nicht, weil die Gegenkräfte zu stark waren – damit hatten die Revolutionäre rechnen müssen, weshalb diese äußerliche Erklärung für Lukács zu kurz greift. Sie scheiterte, weil das Proletariat sich nicht als Ganzes und entschieden genug erhob und sie radikal bis zum Ende durchkämpfte. Die Revolution scheiterte, um es auf den Punkt zu bringen, am mangelnden Klassenbewusstsein des Proletariats. Wenn bis heute immer wieder behauptet wird, Lukács betreibe in Geschichte und Klassenbewußtsein eine Verherrlichung des revolutionären Proletariats, so kann das nur verwundern:[5] Denn viel eher unternimmt das ganze Werk den Versuch zu erklären, warum das Proletariat immer wieder bereit war, für seine eigene Unterdrückung zu kämpfen, als ginge es dabei um sein Heil. Den Texten der Sammlung ist der Schrecken des August 1914, als nicht nur die Arbeiterparteien aller Länder, sondern auch der überwiegende Teil ihrer Gefolgschaft fröhlich singend in den proletarischen Bruderkrieg gezogen waren, ebenso anzumerken wie der der europäischen Konterrevolution, die ohne die wenigstens passive Hinnahme durch die proletarischen Massen nie hätte siegen können. Warum also steht das Proletariat nicht endlich auf? Die kurze Antwort lautet: wegen der Verdinglichung. Weil auch „das Bewußtsein des Proletariats der Verdinglichung vorläufig noch erlegen“ ist (S. 164), können die Proletarier*innen ihre Unterdrückung und Ausbeutung nicht erkennen, und so müssen die Revolutionäre zunächst „das Phänomen der Verdinglichung“ (so die Überschrift des ersten Abschnitts des Verdinglichungsaufsatzes) durchschauen lernen, um diese letzte und stärkste Kette des Proletariats sprengen zu können.

Im Verdinglichungsaufsatz zeigt Lukács, dass es nicht die direkte Herrschaft der Bourgeoisie ist, die die Gesellschaft im Griff hält, sondern die unpersönliche „Struktur des Warenverhältnisses“ (S. 170). Es liegt im „Wesen der Warenstruktur“, dass jede „Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit“ annimmt und so einer „strengen, scheinbar völlig abgeschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit“ unterworfen wird (S. 170 f). Denkbar abstrakt bestimmt Lukács die Warenform als „Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 170). Verdinglicht werden also nicht nur die persönlichen Beziehungen zwischen Menschen – dies erscheint sogar als abgeleitetes, als nur „entsprechendes“ Phänomen; verdinglicht werden immer vorlaufend auch unsere Beziehungen zu den Dingen, denn es ist immer eine bestimmte gesellschaftliche Form, in der uns die Dinge zuteil werden: eine gesellschaftlich bestimmte Gegenständlichkeitsform überhaupt. Die verdinglichten Formen der Warenstruktur „verselbständigen und verewigen“ sich schließlich zum Schein eines „zeitlosen Typus menschlicher Beziehungsmöglichkeiten überhaupt“ (S. 186 f). Und wenn Lukács schreibt, dass sich „im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen“ hineingesenkt habe (S. 185), so kann man daran ablesen, dass der Verdinglichungsaufsatz eine Theorie der Niederlage entwickelt. Denn es ist das Phänomen der Verdinglichung selbst, das statt eines Klassenbewusstseins ein „Bewußtsein der Menschen“ (überhaupt) entstehen lässt. Und dass sie sich als Menschen bewusst werden, und nicht als Proletarier*innen, ermöglicht erst, dass sie gegen ihr genuines Klasseninteresse handeln (und womöglich sogar kämpfen). Schon im Bewusstsein des Menschen als Mensch manifestiert sich die Warenform als Gegenständlichkeitsform überhaupt, und schon dort werden die Ketten immer enger gezogen, in die das Proletariat geschlagen liegt.

Ursprünge und Fortschreibungen

Woher stammt nun dieser weite und zugleich sehr scharfe Begriff? In gewisser Weise steckt im Verdinglichungsbegriff die ganze Bildungsgeschichte Lukács‘ bis zu seiner Konversion zum Marxismus: Zum einen können wir in der Rede von den „Gegenständlichkeitsformen überhaupt“ einen starken neukantianischen Einschlag identifizieren, der auf einen Studienaufenthalt in Heidelberg zurückgeht, den Lukács 1913 angetreten hatte. Dieser Bezug auf die Wissenschaftstheorie des Neukantianismus wird im zweiten Abschnitt des Verdinglichungsaufsatzes („Die Antinomien des bürgerlichen Denkens“) ausgeführt. Dass die Frage nach der „Gegenstandskonstitution überhaupt“ mit der Genese einer entsprechenden Rationalitätsform in Verbindung gebracht wird, zeugt zum zweiten von Lukács‘ Vertrautheit mit der Soziologie Max Webers, in dessen Salon in Heidelberg er verkehrte. Die warenförmige, verdinglichte Welt ist das objektive Gegenstück zum sprichwörtlich gewordenen „stahlharten Gehäuse“ der modernen Rationalität und der ihr eigenen Verengung von Vernunft auf Kalkulabilität. Daran schließt drittens ein Argumentationsstrang an, der Verdinglichung an die lebensphilosophisch grundierte Soziologie und Kulturphilosophie Georg Simmels bindet. Verdinglichung steht demnach dem Leben entgegen, denn aus dem Verkehr der Menschen wird ein Ding gemacht, das das Leben schließlich unterjocht und abtötet. Bei Simmel, dessen Philosophie des Geldes im Verdinglichungsaufsatz noch lobend erwähnt wird, hatte Lukács in Berlin studiert, und von ihm bezieht er auch das Wort „verdinglichen“; Lukács zitiert etwa Simmels Rede von einem „nicht zu verdinglichende[n] Rest“, der „unbestreitbares Eigen des Ich“ bleibe (S. 278).

Als tatsächlichen Urheber des Begriffs gibt Lukács selbst jedoch Marx an. Im letzten Kapitel des dritten Bandes des Kapital taucht Verdinglichung gleich zweimal auf; in den drei Bänden sind dies die einzigen Belegstellen. In beiden Passagen wird indes ein Argument resümiert, das bereits im ersten Band unter dem Begriff des „Fetischismus der Ware“ dargelegt worden war. Deutlich wird das an der zweiten Stelle:

„Im Kapital – Profit, oder noch besser Kapital – Zins, Boden – Grundrente, Arbeit – Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit vollendet: die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame Ia Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.“[6]

Verdinglichung wird hier gleichgesetzt mit jener Mystifikation, die aus der kapitalistischen Produktionsweise selbst erwächst, weil hier die historischen Eigenschaften des gesellschaftlichen Produktionsprozesses als ahistorische, quasi-natürliche Eigenschaften der produzierten Dinge erscheinen. In der Ware erscheint ein ganzes „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ (um eine Formulierung aus den Thesen ad Feuerbach zu entleihen) als einzelnes und einfaches Ding, und wie die stofflichen Eigenschaften des Dings unhinterfragbar gegeben sind – Größe, Gewicht, Farbe, Geschmack etc. –, so sollen auch seine gesellschaftlichen Eigenschaften – seine Wert-Eigenschaft als Ware – dem Ding selbst zugehören.

Die „kühne Zusammenfassung“[7] und Verknüpfung der unterschiedlichen und oft unvereinbaren Theoriestränge (Neukantianismus, Weber’sche Soziologie, Simmel’sche Kultur- und Lebensphilosophie, Marxismus) verbürgen den Charme der Verdinglichung, und fast könnte man sagen, dass der Begriff selbst auf einer Verdinglichung der ihm zugrundeliegenden theoretischen Verhältnisse beruht. Hier sind jedenfalls alle Voraussetzungen erfüllt, um aus dem Begriff ein vielfältig einsetzbares Schlagwort zu machen: Komplexe wissenschaftstheoretische Zergliederungen werden in unmittelbar einleuchtende Kulturkritik umgemünzt, kühl-distanzierte Strukturanalyse wird affektiv aufgeladen, „dialektische Totalitätsbetrachtung“ (S. 71) erhält existenzielle Dringlichkeit.

Von dieser umfassenden Idee zehrt der Begriff bis heute. In Kevin Floyds The Reification of Desire etwa wird Lukács‘ Anspruch beim Wort genommen, mit Verdinglichung die expansive Transformation und Unterwerfung noch der intimsten Regungen der „Seele“ (S. 177) begreifen zu können. Auch das Begehren ist Verdinglichung ausgesetzt, zeigt Floyd, und eine theoretische und praktische Kritik dieses Strukturzwangs geht bereits einen ersten Schritt auf dem Weg Toward a Queer Marxism, wie der Untertitel des Buches hoffnungsfroh verkündet.[8]

Abschied vom Proletariat

Mit Verdinglichung erklärt Lukács nicht nur, warum das Klassenbewusstsein des Proletariats bisher in seiner konsequent revolutionären Entwicklung zurückgeblieben ist. Er postuliert auch, dass die Dynamik der Verdinglichung umgekehrt den Weg zu ihrer eigenen Selbstüberwindung vorzeichnet. Im dritten Abschnitt des Verdinglichungsaufsatzes („Der Standpunkt des Proletariats“) macht Lukács deutlich, dass es die „Daseinsformen“ des Proletariats sind, in denen „die Verdinglichung sich […] am prägnantesten und penetrantesten, die tiefste Entmenschlichung hervorbringend, äußern muß“ (S. 268), und dass es deshalb auch das Proletariat und nur das Proletariat sein kann, das durch seine tiefste Erniedrigung hindurch die Verdinglichung überwinden wird. Gerade weil im Kapitalismus die Arbeiter*innen ganz in ihrer Funktion aufgehen, die eigene Arbeitskraft als Ware zu Markte zu tragen, kann in ihnen das Bewusstsein über die Verwarenförmigung des Lebens erwachen. Pointiert: das mögliche Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen ist das „Selbstbewusstsein der Ware Arbeitskraft“,[9] und nur als dieses kann es zum Bewusstsein der Notwendigkeit einer radikalen Abschaffung des Warensystems kommen.

So zentral die Idee einer durch die Extreme vermittelten Sprengung der Verdinglichung durch das Proletariat für Lukács gewesen sein mag – er war von Anfang an der am wenigsten glaubhafte Teil der ganzen Konstruktion. Für den „westlichen Marxismus“, etwa Lukács‘ frühe Leser*innen im Kreis der entstehenden Kritischen Theorie, waren seine Beschreibungen und Analysen des „Phänomens der Verdinglichung“ offenbar so überzeugend, dass sie bereit waren, sich ganz von der Idee eines revolutionären Proletariats zu verabschieden. Für die kritischen Theoretiker*innen war – wohl auch unter dem Eindruck des erstarkenden und schließlich siegenden Faschismus – das Proletariat ganz einfach die von der Verdinglichung am stärksten betroffene Klasse; Lukács‘ trotzig-dialektisches „und genau deshalb …“ haben sie dann einfach gestrichen.[10]

Ohne den Bezug auf einen revolutionären „Standpunkt des Proletariats“ aber gerät die Theorie und Kritik der Verdinglichung schnell zu einer sehr allgemeinen kulturkritischen Formel.[11] Als eine solche aber ist sie schließlich auch theoretisch kaum mehr haltbar: Ohne den Gegenhalt im Bewusstsein des Proletariats wird die Verdinglichung selbst zu einem verdächtigen Konzept.

Verdinglichung unter Verdacht

In den theoretischen Debatten der letzten 50 Jahre nach ‘68 ist der Begriff der Verdinglichung immer wieder eingehender Kritik unterzogen worden: Im strukturalen Marxismus Louis Althussers‘, in Jürgen Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns, in der postmodernen Doxa – so verschieden und unvereinbar die Ausgangspunkte der Kritiken sind, so ähnlich sieht doch die von ihnen formulierte Kritik aus. Der Begriff der Verdinglichung unterstelle, so wird gesagt, eine Metaphysik der Eigentlichkeit; er funktioniere nur, wenn man einen unverdinglichten Bereich konstruierte, von dem aus das Phänomen der Verdinglichung überhaupt erst identifiziert und angeklagt werden könne. Diesen Bereich des Unverdinglichten aber – so wissen wir als aufgeklärte, post-metaphysische Kritiker*innen – kann es nicht geben, und es ist sogar gefährlich, von seiner Existenz auszugehen.

In dieser Kritik wird genau das, was die ursprüngliche Evidenz des Begriffs ausmachte, nun gegen ihn gewendet. Die Erfahrung, die im Verdinglichungsbegriff einmal aufgerufen wurde, wird nun als Effekt einer ideologischen Gegenüberstellung von Eigentlichem und Uneigentlichem, von unverdinglichtem Rest und verdinglichtem System interpretiert. Theoriegeschichtlich: die prekäre Synthese der Theoriestränge, die einmal die Überzeugungskraft des Begriffs ausmachte, wird nun als unreine Mischung identifiziert, in der das eine Ingredienz (sagen wir: die Lebensphilosophie) die Integrität der anderen (des wissenschaftlichen Marxismus etwa) bedrohe. Ein anderes Argument lautet, dass Lukács‘ Hegel-Marxismus geltungslogisch völlig überdehnt argumentiere, weshalb er mit einer rationalen soziologischen Kritik letztlich unvereinbar bleibe, ein weiteres, dass der Begriff der Verdinglichung eine asymmetrische Wertung impliziere, nach der das Lebende (die Subjektivität, die Anwesenheit, die Stimme) immer wichtiger und wertvoller sei als das Tote (die Dinge, die Schrift, die Medien) – genau diese Asymmetrie aber nur ein westlich-phallogozentrisches Machtgefüge reproduziere, das es doch eigentlich zu kritisieren gelte. Nebenbei: Noch in der Konjunktur des „Dings“ und der Errettung der Dingwelt, die vor zehn, fünfzehn Jahren die Gemüter in den medienwissenschaftlichen Fachbereichen der Republik erregte, galt der auf den Gebrauch des Verdinglichungsbegriffs reagierende Vorwurf der „Eigentlichkeitsmetaphysik“ als letztes – und tödliches – Verdikt.

Die skizzierte Kritik am Begriff der Verdinglichung ist insofern uninteressant, als sich ihr kaum etwas entgegenhalten lässt. Interessanter ist vielleicht, dass auch die Versuche, den Begriff zu verteidigen, letztlich ähnlich verfahren (müssen) wie die Kritik: auch die Verteidigung muss die prekäre oder gar unmögliche Synthese auflösen, die der Begriff versucht, und dann einzelne Elemente gegen andere in Stellung bringen. In der marxistischen Diskussion etwa bleibt Lukács‘ lebensphilosophische Imprägnierung der Buhmann, der von Anfang an zu Fehllektüren und falschen Inanspruchnahmen geführt habe.[12] Jede anspruchsvolle Interpretation des Begriffs muss neben der Feststellung, was Verdinglichung ist, dann eben auch festhalten, was sie nicht ist.[13] Auch die Rettungsversuche müssen also theoretische Reinigungsarbeit leisten.

Als gereinigter aber – als marxistisch, soziologisch, wissenschaftlich konservierter – wird der Begriff schnell steril. Vielleicht wäre es eher an der Zeit, den Begriff gerade in seiner Unhaltbarkeit und Unmöglichkeit zu retten. Der Literaturwissenschaftler Timothy Bewes hat dazu einen bemerkenswerten Versuch vorgelegt.[14] In einem Dreh, der die dekonstruktive und postkoloniale Kritik nicht einfach zurückweist, sondern produktiv nutzbar zu machen versucht, zeichnet Bewes den Fall, die Umkehr und die Rettung des Begriffs der Verdinglichung nach,[15] den er nicht als einen genuinen Gegenbegriff zur kapitalistischen Moderne auffasst, sondern als deren Symptom: Der Begriff sage über den Spätkapitalismus nur insofern etwas aus, als er dessen tiefste Angst ausspreche. Verdinglichung sei das, wovor die Menschen im Kapitalismus am meisten Angst hätten, gerade weil sie insgeheim wüssten, dass es genau dieser Prozess ist, der sie in ihrem ganzen Sein bestimmt. Ziel einer Kritik könne also nicht die – etwa literarische – Konstruktion einer unverdinglichten Gegenwelt sein, sondern nur der Versuch, die Verdinglichung als das zu begreifen, was uns im Innersten ausmache und was wir gerade deshalb ergreifen und transformieren müssten. – Ich kann Bewes‘ subtile Argumentation auch deshalb hier nicht genauer referieren, weil sie in sehr sensiblen Lektüren theoretischer und literarischer Texte ausgearbeitet wird (nach Bewes wird Flannery O’Connor als wichtigste Theoretikerin der Verdinglichung gelten müssen), deren ergebnisorientierte Zusammenfassung selbst, nun ja, verdinglichend wäre. Überzeugend ist Bewes‘ Verfahren nicht zuletzt deshalb, weil hier die lebensphilosophische Wurzel des Verdinglichungsbegriffs nicht ausgemerzt, sondern gerade fruchtbar gemacht wird. Diese erweist sich dann nicht mehr als unvereinbar mit einem marxistischen Verständnis des Begriffs, sondern umgekehrt als Ressource, den Marxismus zu öffnen und zu erweitern.

Für eine Globalgeschichte der Verdinglichung

Angesichts der „handlichen, einfachen Bezeichnung“, die der Begriff der Verdinglichung einmal geleistet hat, müssen die zuletzt referierten Reformulierungsversuche wie begriffliche Kapriolen anmuten, die ein wirkmächtiges theoretisches Schlagwort dann doch wieder „in ein ewiges Gespräch und ein aussichtsloses Gerede verwickel[n]“.[16] Das ist sicher richtig, aber vielleicht lässt sich konstatieren, dass es gerade das „ewige Gespräch“ über den Begriff war, das ihn bis heute lebendig gehalten hat.

Dennoch aber hat er seine ursprüngliche Einfachheit und Frische behalten – nur nicht hier, bei uns, in den entwickelten und über-entwickelten Zonen des Weltkapitalismus. In letzter Zeit wird immer wieder von einer überaus vitalen, geradezu übersprudelnden Lukács-Rezeption in Ländern wie Brasilien und der VR China berichtet, und es ist gerade der für uns so problematische Begriff der Verdinglichung, der hier die kritischen Geister fasziniert.[17] In China sind momentan gleich zwei riesige Editionsprojekte in Arbeit: Parallel wird dort an einer 28-bändigen Gesamt- wie an einer 10-bändigen Studienausgabe der Werke Lukács‘ gearbeitet. Bei einem Treffen zwischen westlichen und chinesischen Forscher*innen kam, neben vielen Spezialfragen, schließlich auch die Frage nach dem Warum? auf. Was erwarten die chinesischen Genoss*innen von ihrem Projekt, was hat Lukács ihnen und ihren Leser*innen im heutigen China überhaupt zu sagen? Die Antwort war unbefangen und deutlich: Gerade durch die Ausdehnung der Marktwirtschaft (die selbstredend den sozialistischen Charakter des Staates nicht in Frage stelle!), durch die immer weitergehende kommerzielle Durchdringung aller Lebensbereiche, sei Verdinglichung für die Chines*innen von heute zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Jede und jeder könne mit diesem Begriff sofort und unmittelbar etwas anfangen.

Auch dieser bislang letzte Schritt im Begriffsschicksal der Verdinglichung ist signifikant. Ihre Rezeptionsgeschichte spiegelt nicht nur die Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern auch die systemische Un-Gleichzeitigkeit in der Entwicklung des globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts wider: Während im „freien Westen“ die Verdinglichung aller Lebens- und Denkverhältnisse so total geworden zu sein scheint, dass der Begriff nur noch gebrochen eingesetzt werden kann, erhält er in den kapitalistischen Schwellenländern des Südens und Ostens, in denen gerade jetzt nach der formellen auch die reelle Subsumtion des Lebens unter den Kapitalprozess ansteht, jene unmittelbare Evidenz zurück, die ihm auf der gleichen Entwicklungsstufe im Westen in den 1920er-Jahren einmal zu eigen war. Gleichzeitig haben wir es „dort“ natürlich nicht mit dem einfachen Fall einer nachholenden Entwicklung oder gar Wiederholung zu tun (auf die „wir“ dann nachsichtig-abgeklärt hinabschauen könnten). Denn das Leben wird „dort“ einem globalen Kapitalismus unterworfen, der seine „progressive“, demokratische Entwicklungsstufe – mit dem „wir“ im Westen ihn so gern in toto identifizieren – schon durchlebt und hinter sich gelassen hat. Es ist ein wieder roher, ein neoliberaler und zugleich autoritärer Kapitalismus, der von den Menschen im Süden und Osten nun als Verdinglichung erlebt wird. Und vielleicht steht auch „uns“ die Evidenz dieser Verdinglichung erst noch bevor.

  1. Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 1998 [1919].
  2. Vgl. die klassische Studie von Lucien Goldmann, Lukács und Heidegger, Darmstadt/Neuwied 1975.
  3. Die Literatur zum Begriff der Verdinglichung füllt ganze Regale. Klassisch: Rüdiger Dannemann, Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur Philosophie Georg Lukács‘, Frankfurt am Main 1987; rigoros: Konstantinos Kavoulakos, Georg Lukács’s Philosophy of Praxis. From Neo-Kantianism to Marxism, London u.a. 2018; ganz aktuell: Gregory R. Smulewicz-Zucker (Hg.), Confronting Reification. Revitalizing Georg Lukács’s Thought in Late Capitalism, Leiden 2020.
  4. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt/Neuwied 1988, S. 49. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Werk im Fließtext in Klammern nachgewiesen.
  5. Vgl. etwa Micha Brumlik, „Geschichte und Klassenbewusstsein. Vom Ende des Proletariats in Pöbel und autoritärer Anarchie“, in: Helle Panke (Hg.), Die Russische Revolution als philosophisches Schlüsselereignis. Georg Lukács’ und Ernst Blochs politisch-philosophische Antworten auf Lenin(ismus) und die Oktoberrevolution (Teil II), Berlin 2018, S. 53–63.
  6. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Marx-Engels-Werke Bd. 25, Berlin 1964, S. 838. Die zweite Erwähnung des Begriffs findet sich auf S. 887.
  7. Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Berlin 2015, S. 13.
  8. Kevin Floyd, The Reification of Desire. Toward a Queer Marxism, Minneapolis 2009.
  9. Frank Engster, Lukács‘ Existentialismus oder Die Selbstreflexion der Produktivkraft durch das Selbstbewusstsein der Ware Arbeitskraft, in: Hanno Plass (Hg.), Klasse – Geschichte – Bewusstsein. Was bleibt von Georg Lukács’ Theorie?, Berlin 2015, S. 33–77.
  10. Die durchaus schmerzvolle Abwendung der Gründer*innen-Generation der Kritischen Theorie vom Proletariat – und die im Nachhinein fast überraschende anfängliche Verflechtung mit der proletarischen Bewegung – zeigt Philipp Lenhard, Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin 2019.
  11. Vgl. dazu die launische Konstruktion des „westlichen Marxismus“ als einer Überbau-fixierten kulturkritischen Bewegung bei Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt am Main 1978.
  12. Vgl. etwa Moishe Postone, Lukács and the Dialectical Critique of Capitalism, in: Robert Albritton und John Simoulidis (Hg.), New Dialectics and Political Economy, Houndsmill/Basingstoke/New York 2003, S. 78–100.
  13. Vgl. Kavoulakos, Praxis, S. 129–150.
  14. Timothy Bewes, Reification or The Anxiety of Late Capitalism, London/New York 2002.
  15. So sind die drei Abschnitte des Buchs überschreiben: Fall, Inversion, Redemption.
  16. Schmitt, Romantik, S. 5.
  17. Auf der Tagung „Georg Lukács im 21. Jahrhundert“, die von der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft in Kooperation mit der Hellen Panke Berlin und dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung am 4. Juni 2021 zu Lukács‘ 50. Todestag ausgerichtet wird, gibt es ein Panel, auf dem u. a. Vertreter aus Brasilien und China über den Stand der Rezeption berichten; vgl. https://www.helle-panke.de/de/topic/3.termine.html?id=3089 (03.06.2021).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Philosophie Politische Ökonomie

Patrick Eiden-Offe

Dr. Patrick Eiden-Offe, Germanist, arbeitet am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Dort leitet er das im Rahmen des Heisenberg-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) durchgeführte Projekt "Georg Lukács: eine intellektuelle Biografie".

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Teil von Dossier

Der Partisan

Vorheriger Artikel aus Dossier: „Die Form ist das wahre Soziale in der Literatur“

Nächster Artikel aus Dossier: Wieso dauernd dieser Überbaukrempel?

Empfehlungen

Matheus Hagedorny

Unklarheit als Tugend

Rezension zu „Nicht wie ein Liberaler denken“ von Raymond Geuss

Artikel lesen

Friedrich Lenger

Nutzen und Grenzen einer Ideengeschichte der Politischen Ökonomie

Rezension zu „Capitalism. The Story Behind the Word“ von Michael Sonenscher

Artikel lesen

Newsletter