Frank Eckardt | Literaturessay |

Verhärtete Fronten

Literaturessay zu „Gentrifizierung und Verdrängung“ von Jan Glatter und Michael Mießner (Hg.), zu „Gentrifizierung als Rechtsproblem“ von Jürgen Kühling sowie zu „Frankfurt am Main – eine Stadt für alle?“ von Johanna Betz et al. (Hg.)

Die Fronten sind verhärtet: Die einen kämpfen gegen Gentrifizierung und fordern Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit auf dem Wohnungsmarkt. Andere hingegen sehen keine Alternative dazu, die unsichtbare Hand des Marktes auch auf dem Wohnungsmarkt uneingeschränkt walten zu lassen, langjährige Stadtbewohner:innen durch stetig steigende Mieten zu vertreiben und durch Menschen mit höheren Einkommen zu verdrängen. Die Auffassung, dass der kapitalistischen Dynamik auch auf dem Wohnungsmarkt freier Lauf zu lassen sei, wird in Deutschland eher selten öffentlich vertreten. Das Online-Portal immobilo stellt eine Ausnahme dar: Gentrifizierung wird zwar auch bei der großen Immobiliensuchmaschine als Verdrängung von Mieter:innen bezeichnet, jedoch sogleich als alternativlos präsentiert. Unter der Überschrift Ein altes Phänomen in neuem Kleid wird gefragt:

„Wird es nicht stets Wohnungen für Reichere und Wohnungen für Ärmere geben? Beschweren wir uns hier eigentlich über etwas, was in der globalisierten, kapitalistischen Welt längst gang und gäbe ist, in deutschen Städten wie Berlin nur etwas verspätet angekommen ist?”[1]

Bei Gentrifizierung, so lernt man auf dem Portal, handle es sich lediglich um einen Ausdruck von sozialer Ungleichheit, die „in tiefer liegenden gesellschaftlichen Strukturen beheimatet“ und damit ohnehin vorhanden sei. Darüber hinaus sei es ohnehin schwer, „effektiv gegen diese Entwicklung vorzugehen“ und überhaupt müsse Gentrifizierung mit ihren Folgen „nicht zwingend eine negative Entwicklung sein“.[2] Dass die Aufwertung von Städten die vielleicht einzige Alternative zu ihrer Verelendung sei, betont auch der frühere Gouverneur von Kalifornien Jerry Brown mit seinem Slogan „Gentrification or Slumification”.[3] Ob ihrer Drastik wird Browns Aussage gern zitiert, doch wird dabei oftmals verschwiegen, dass er dies noch in seiner Rolle als Bürgermeister von Oakland gesagt hat – einer Stadt mit massiven sozialen Problemen, in der Verelendung ein derart realistisches Szenario darstellt, dass sich eine etwaige Sorge um Gentrifizierung gar nicht begründen ließe. Als Gouverneur ganz Kaliforniens hingegen hat Brown sich massiv mit Gentrifizierungsprozessen in San Francisco, Los Angeles und anderen Städten auseinanderzusetzen, wo sowohl Verslumungs- als auch Gentrifizierungsprozesse bereits weit fortgeschritten sind.

Die Renovierung von heruntergekommenen Häusern, Straßenzeilen oder gar ganzen Stadtteilen wünschen sich auch die Oberhäupter vieler deutscher Städte – insbesondere jene, deren Ortschaften nicht im Rampenlicht der Wachstumsökonomie liegen, sondern wie etwa im nördlichen Ruhrgebiet oder in großen Teilen Ostdeutschlands von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt sind, die mit stetem Wegzug der Bevölkerung und daraus resultierendem Leerstand konfrontiert sind. Ist also wirklich Gentrifizierung das große Thema, mit dem sich die Stadtsoziologie beschäftigen sollte oder schaut sie damit an den Problemen der meisten Städte – Strukturschwäche und eine immer geringer werdende Bevölkerungsdichte – vorbei? Sicherlich ist es polemisch, wenn immobilo das Problem der Gentrifizierung herunterspielt und der Kritik an der Verdrängung bestimmter Teile der Bevölkerung aus der Stadtmitte entgegnet, es gebe schlichtweg „kein Recht auf Wohnen in der Innenstadt“.[4] Versucht man diese einzig marktliberal orientierte Äußerung produktiv zu wenden, muss sich die Gentrifizierungsforschung die selbstkritische Frage stellen, ob sie angesichts zunehmender innerstädtischer Segregation und der allgemeinen Wohnungsnot differenziertere Perspektiven anzubieten hat, die der rhetorischen Dilemma-Strategie – Gebäude entweder renovieren oder verkommen lassen – etwas entgegen zu setzen hat.

Gegen die Fundamentalkritik am Anti-Gentrifizierungsdiskurs lassen sich zwei grundlegende Einwände formulieren. Zunächst beruht diese Kritik auf einer generellen Absage an gerechtigkeitstheoretische Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit. Zweitens wird eingefordert, dass eine Anti-Gentrifizierungspolitik gegen weitergehende gesellschaftliche Aufgaben abzuwägen sei. Interessanterweise werden beide Einwände nicht nur auf immobilo artikuliert, sondern finden sich durchaus auch im akademischen Diskurs. Ein prominentes Beispiel dafür liefert ein Fachvortrag vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, den Jürgen Kühling, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Immobilienrecht, Infrastrukturrecht und Informationsrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg, im Februar 2020 gehalten hat.[5] In der juristischen Perspektive Kühlings spiegelt sich diese doppelte Argumentation wider: Staatliche Interventionen gelten, so die juristische Auffassung, nur dann als legitim, wenn das Funktionieren des Marktes nicht gegeben ist. Bringt der Immobilienmarkt steigende Mieten und die Vertreibung von Menschen aus ihren Nachbarschaften, kurz: Gentrifizierung, hervor, so handele es sich dabei nicht um Anzeichen für eine Fehlwirkung der Marktmechanismen, sondern um ein Thema auf politischer Ebene: „Die steigenden Mieten führen zu weiteren Konsequenzen, die politisch teils unerwünscht sind. Allen voran gilt dies für die sogenannte Gentrifizierung.“ (S. 4) Das einschränkende „teils“ bezieht Kühling darauf, dass die steigenden Mieten an sich nicht als Problem gesehen werden, weil diese schließlich das Ergebnis des marktwirtschaftlichen Spiels von Angebot und Nachfrage seien. Problematisch sei nur, wenn der Markt ‚versagt‘. Was unter Marktversagen zu verstehen ist, erläutert der Autor in großer Nähe zur gängigen Rechtsprechung und in klarer Abgrenzung zu Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit:

„Diese potenziellen Marktversagensgründe sind strikt zu trennen von einem distributiven ‚Marktversagen‘, d.h. also der Einschätzung eines ‚ungerechten‘ Verteilungsergebnisses durch den Markt. Da der Markt auf Preissignale und nicht auf spezifische Gerechtigkeitsvorstellungen reagiert, kann der Markt so verstandene Gerechtigkeitsziele von vornherein nicht erreichen. So kann der Markt etwa das von Kevin Kühnert in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender der Jusos ausgegebene Ziel, dass jeder ‚maximal den Wohnraum besitzen [sollte], in dem er selbst wohnt‘, nicht erreichen. Insoweit ist lediglich eine Umverteilung möglich. Im ‚Modell Kühnert‘ wäre dies maximal radikal.“ (S. 12 f.)

Erstaunlich an der weiteren Argumentation des Juristen ist, dass zwar relativ penibel ausgeführt wird, dass es sich beim Wohnen um eine besondere Materie handelt, doch im Kontext von Grundrechten wird sie nicht diskutiert. Die marktliberale Sichtweise, nach der das Verfassungsziel – nämlich die Umsetzung der Menschenrechte, zu denen auch das Recht auf Wohnen zählt, etwa in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte oder Artikel 16 der Europäischen Sozialcharta – nicht gegenüber dem Recht auf Eigentum abgewogen wird, scheint nach wie vor in juristischen Fachkreisen Deutschlands selbstverständlich zu sein. Für Kühling beziehen sich die staatlichen Interventionen auf dem Wohnungsmarkt auf „unklare Regulierungsziele“, bei denen die „für die grundrechtliche Bewertung [maßgeblichen] Gemeinwohlziele regelmäßig nicht sorgfältig benannt werden.“ (S. 13). Es mag richtig sein, dass die Argumentation etwa beim Berliner Mietspiegel-Verfahren in dieser Hinsicht angreifbar war. Bemerkenswert ist allerdings, dass Kühling das individuelle Recht auf Wohnen lediglich mit Bezug zum Funktionieren des Marktes diskutiert. Würde man für andere Grundrechte analog verfahren, dürfte es zum Beispiel auch keine öffentlichen Schulen geben, schließlich existiert auch ein Bildungsmarkt, der den Zugang zu Bildungsangeboten regeln könnte.

Hinsichtlich eines starken Plädoyers für ein „Recht auf Stadt“, wie es die gesellschaftswissenschaftlichen Diskurse mit Bezug zum gleichnamigen Buchtitel Henri Lefebvres postulieren und verfassungs- wie grundrechtsorientiert einfordern,[6] vertreten Rechts- und Sozialwissenschaften unterschiedliche Positionen. Der juristische und stadtsoziologische Diskurs, das offenbart die Lektüre von Kühlings Text schnell, weist eine grundsätzlich andere Lesart von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit auf. Die stadtsoziologische Perspektive, ungeachtet der verschiedenen theoretischen Ansätze,[7] misst die Verfasstheit der Stadt nicht nach der normativen Vorstellung der Verfassung ab, sondern rekonstruiert die empirischen Zusammenhänge von Prozessen, in denen Gentrifizierung als Ergebnis gesellschaftlichen Wandels erscheint.

Dennoch leistet die Beschäftigung mit dieser juristischen Perspektive durchaus einen Beitrag, um allzu selbstverständliche Annahmen hinsichtlich der Instrumente gegen Gentrifizierung wie etwa der Milieuschutzsatzung oder der Mietpreisbremse kritisch zu hinterfragen. Der Autor stellt nicht infrage, dass bezahlbarer Wohnraum ein wichtiges gesellschaftliches Gut ist, womit er sich von allzu marktradikalen Auffassungen durchaus distanziert. Kühling bestreitet insgesamt die Effektivität staatlicherseits ergriffener Maßnahmen zur Regulierung des Wohnungsmarktes, insbesondere die Mietpreisbremse oder die in Berlin geforderte Enteignung von großen Wohnungsunternehmen. Er bestreitet ebenso, dass es dafür „ökonomische Argumente“ (S. 69) gäbe, wodurch „einfache politische Interventionsmöglichkeiten“ (S. 70) seiner Auffassung nach eher zu einer Zuspitzung von Verteilungskämpfen führen würden. Hauptgrund dafür sei die fehlende Abwägung der Wirkung von Maßnahmen auf das Angebots- und Nachfrage-Gleichgewicht des Marktes, womit wir bei der Warnung vor dem angeblichen Neodirigismus sind, also der Überzeugung, dass der Staat den Immobilienmarkt kontrollieren und lenken wolle, wie er es einst nach dem Zweiten Weltkrieg und im Rahmen des Wiederaufbaus deutscher Städte getan habe – einer immer wieder recycelten Trope des Liberalismus, die gegen staatliche Intervention generell in Anschlag gebracht wird.

Während einerseits also ein ordnungstheoretischer Einwand formuliert wird, der sich auf eine politische Staatsauffassung bezieht, versuchen stadtsoziologische Studien zur Gentrifizierung ohne eine solche normative Deduktion auszukommen. Vielmehr bemühen sie sich, Einblicke in das reale Geschehen in den Städten zu gewinnen und dieses zum Ausgangspunkt der Diskussion zu machen. Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Gentrifizierung hat also einen gänzlich anderen Blick auf das Phänomen und kommt entsprechend auch zu anderen politischen Schlussfolgerungen.

Wer den Forschungsstand der Debatten nachverfolgen will, wird in einem von Jan Glatter und Michael Mießner herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Gentrifizierung und Verdrängung[8] fündig, der dem Untertitel zufolge „aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen“ darstellen will. In 17 thematisch fokussierten Beiträgen und zwei einleitenden Kapiteln wird hier umfänglich die disziplinenübergreifende Gentrifizierungsforschung abgebildet. In ihrer Einleitung rekapitulieren die Herausgeber zunächst den Gang der Gentrifizierungsforschung von ihren Anfängen bis heute. Dabei versuchen sie nicht weniger als sechs Diskussionsstränge voneinander abzugrenzen und eine Art Diskursentwicklung nachzuvollziehen. Sie betonen den Ursprung der Forschung über Gentrifizierung im Kontext der sogenannten sozialökologischen Tradition in der Stadtsoziologie, die sich bis auf die Chicago School Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lasse und die von der Annahme getragen werde, dass sich die Stadt vor allem durch je spezifische Akteurskonstellationen gesellschaftlich in unterschiedlichen Räumen, sogenannten „natural areas“, entwickelt. Folgerichtig fokussiere auch die Erforschung von Gentrifizierung bestimmte Akteursgruppen wie Pioniere und so genannte „Gentrifier“. Ein solcher Forschungsansatz hat in den 1990er-Jahren zunächst die Gentrifizierungsforschung aus den USA nach Deutschland gebracht, die Arbeiten der Stadtsoziologen Jürgen Friedrichs und Jens Dangschat waren lange Zeit tonangebend. Allerdings haben die empirischen Befunde damals nicht dazu ausgereicht, die Gentrifizierungsforschung richtig in Gang zu bringen. Vieles schien für deutsche Städte nicht wirklich relevant und aussagekräftig zu sein, so dass dem ersten Sammelband von Friedrichs und Kecskes[9] umfangreichere Studien folgten. Erst ein zweiter Anlauf, mit einem anderen und weiter gefassten Forschungsparadigma, das es erlaubte, unterschiedliche Formen von Vorläufern und Akteuren der Gentrifizierung in den Blick zu nehmen, ermöglichte die intensivere Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verdrängungsprozessen in der Stadt. Auch die diskursive und symbolische Dimension von Gentrifizierung wurde seit Beginn der 2000er-Jahre thematisiert. Jedoch muss man wohl konstatieren, dass insbesondere Studien mit einem Ansatz der sogenannten politischen Ökonomie in Deutschland wie international zum dominanten Paradigma der Gentrifizierungsforschung geworden sind.

Durchgesetzt hat sich dabei eine Orientierung an der sogenannten Rent-Gap-Theorie des Anthropologen und Stadtforschers Neil Smith,[10] die Matthias Bernt in seinem Beitrag (S. 91–106) zu Glatters und Mießners Sammelband weiterentwickelt. Für Smiths Ansatz ist es entscheidend, dass die Gentrifizierung in einem makro-ökonomischen Kontext verortet wird, der sich als Übergang von einer Ökonomie der Waren- und Güterproduktion im materiellen Sinne zu einer postfordistischen Wirtschaft beschreiben lässt. In diesem Wirtschaftsmodell ist die globale Ökonomie der symbolischen Produktion von „assets“, vor allem von weltweit unbegrenzt handelbaren Immobilien, wesentlich ertragreicher als die Realwirtschaft. Der rent gap ist dabei die Lücke, die sich ergibt, wenn man die Kosten der Renovierung einer Immobilie gegen den möglichen Profit im Falle ihres Weiterverkaufs rechnet. Dort, wo der rent gap besonders hoch ist, finden Gentrifizierungsprozesse statt. Da Mieter:innen mit Langfristverträgen für eine solche Aufwertungs- und Verkaufsstrategie den Akteuren in der Immobilienbranche im Wege stehen, ist deren Vertreibung aus Sicht der Investor:innen ein effektives Mittel und nahezu alternativlos. Smith hatte seinen Ansatz im New York der 1990er-Jahre ausgearbeitet. Bis heute sind diesem, wenn auch in aktualisierter Form viele Studien gefolgt.[11] Auch Matthias Bernt erweitert Smiths Ansatz und schließt diesen an Studien an, die sich gegenwärtig unter dem Schlagwort der „financialized gentrification“ gruppieren lassen. Ziel dieser Neuerung ist es, die aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrisen konzeptionell zu berücksichtigen, die in Smiths Konzept noch fehlten. Smith hatte beobachtet, dass die Gentrifizierung in New York maßgeblich auch durch internationale Finanzinvestitionen gestützt wurde. Die Qualität der Interventionen durch den globalen Finanzmarkt veränderte sich aber aus heutiger Sicht erheblich: Die Dominanz internationaler Finanzierungsorganisationen – einschließlich deren staatlicher Sicherstellung (‚to big to fail‘) während der Finanzkrise 2008, die im Wesentlichen als eine Immobilienkrise verstanden werden kann – hatte Smith konzeptionell nicht in Rechnung stellen können; sie wird heutzutage durch den Ansatz der „financialized gentrification“ betont. Der Humangeograf Bernd Belina, der wohl als elaboriertester Vertreter dieses Ansatzes in Deutschland gelten kann, stellt ihn in seinem Beitrag (S. 57–72) den deutschen Leser:innen vor. Die sozialen Implikationen dieser finanzwirtschaftlichen Prägung von Gentrifizierung, wie etwa die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums, werden sicherlich noch weiter zu erforschen sein. Vor diesem Hintergrund weist Michael Janoschkas Beitrag (S. 73–90), der die Finanzialisierung von Gentrifizierung aus demokratietheoretischer Perspektive problematisiert, in eine wichtige Richtung für die zukünftige Forschung. Denn wenn die Dominanz der Interessen globaler Finanzagenturen nicht eingehegt wird, kann der Einfluss staatlicher Interventionen– so Janoschkas Besorgnis angesichts der Befunde seiner Untersuchung – auf die Rechte sogenannter schwacher Interessen nur gering sein, wodurch das demokratische Gleichheitsprinzip gestört wird.

Während der Ansatz der politischen Ökonomie somit eine Schwachstelle der sozialökologischen Forschung ausbessert, in dem er Gentrifizierung in makro-ökonomische Prozesse einbettet, wird nun aber deren Stärke – nämlich die Erkundung der lokalen Umstände und Handlungen konkreter Personen vor Ort – wiederum eher vernachlässigt. Im Sammelband von Glatter und Mießner bildet der Beitrag von Fabian Bernd und Henning Nuissl (S. 147–166), die 2015 eine repräsentative Befragung in zwei Berliner Stadtteilen durchgeführt haben, eine herausragende Rolle. Die beiden Forscher liefern damit zum ersten Mal eine Einsicht in die Wahrnehmung der Vertriebenen und deren Lebensumstände, wie sie ansonsten nur durch theoretische Annahmen rekonstruiert werden. Die Ergebnisse dieser Umfragen zeichnen ein differenziertes, durchaus ambivalentes Bild. Offensichtlich ist die Vorstellung davon, ob und unter welchen Umständen ein Umzug freiwillig erfolgt oder nicht, gesellschaftlich sehr fluide. Die Gründe dafür vermag die Umfrage nicht näher zu klären, was geradezu zwingend nach einer verstehenden Soziologie der Vertreibung ruft, mit der Forschungsfrage: Ab wann erachten Menschen ihren Umzug als erzwungen?

Einen solchen Weg der vertiefenden qualitativen Gentrifizierungsforschung geht Moritz Rinn mit seinem Text über Gentrifizierungsforschung „von unten“ (S. 295–312), in dem der Autor aber eingesteht, dass diese überhaupt erst richtig in Gang kommen müsse. Hier wäre mehr von der amerikanischen Gentrifizierungsforschung zu lernen. Insbesondere die Arbeiten Sharon Zukins bieten mit ihrer jahrzehntelangen Beobachtung von Stadtteilen Einblicke und eine Forschungslage, die man sich für den Wandel der hiesigen Großstädte nur wünschen kann. Eine solche Intensität der Beobachtung erfordert eine lokale Verankerung und institutionelle Freiräume der Forschung, die es in der deutschen Stadtforschung nur sehr begrenzt gibt.

Umso interessanter sind deshalb die Frankfurter Studien von Sebastian Schipper, der ebenfalls mit dem Paradigma der political economy arbeitet. Sein Aufsatz (S. 167–186) im Sammelband thematisiert städtische Verdrängungsprozesse „powered by Vonovia“ exemplarisch anhand des Frankfurter Gallusviertels. Schipper zeigt auf, wie die unternehmerische Stadtpolitik Frankfurts, die Privatisierung von öffentlichen Liegenschaften und die profitorientierte Vermarktung von Wohnraum den Stadtteil verändert haben und welche Rolle Vonovia dabei zukommt. Zwar gelingt es dem Autor, das Handeln des Wohnungsunternehmen nachvollziehbar einzuordnen, doch kommt die Lage der Verdrängten dabei nicht zur Sprache.

Dabei hat Schipper als Mitherausgeber des Buches Frankfurt am Main – eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe[12] längst eine wesentlich breitere Perspektive in den Diskurs rund um Gentrifizierung eingebracht. 40 Autor:innen „aus Wissenschaft, aus sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen“ (S. 17) widmen sich dort mit Beiträgen aus einem großen Themenspektrum den Auseinandersetzungen um das Wohnen in der Stadt Frankfurt. Sie zeichnen ein buntes Bild von Raumkonflikten, in denen es mal um Nilgänse, mal um das Chillen auf Parkplätzen, die Schwierigkeiten von Obdachlosen oder Raven als Widerstand geht und präsentieren so eine reichhaltige wie vielschichtige Lokalstudie. Besonders aufschlussreich sind die Arbeiten zu einzelnen Stadtteilen (S. 130–294), wobei wiederum für das Gallus-Viertel und das Ostend Gentrifizierung diagnostiziert wird. Abweichend vom sonstigen Gentrifizierungsdiskurs werden auch die prekären Räume der Stadt thematisiert, und zwar in einer Analyse der politischen Ökonomie der Stadt, die Klaus Ronneberg, Sebastian Schipper, Susanne Heeg und Bernd Belina vorlegen. Obwohl auch hier mit qualitativen Ansätzen gearbeitet wird, die an das ursprüngliche Paradigma der sozialökologischen Gentrifizierungsforschung erinnern, positioniert sich diese Frankfurter Studie theoretisch dennoch vollkommen anders. Der Band versteht sich als „Angewandte kritische Geographie“, die eine „kooperativ ausgerichtete Form der Wissensproduktion“ (S. 18) anstrebt, mit der Absicht, die Stimme der marginalisierten sozialen Gruppen zu stärken. Verdienstvoll ist, dass dieses Buch tatsächlich die Lebenssituation von Menschen in den Mittelpunkt rückt, die wie etwa Geflüchtete, Obdachlose und Menschen in prekären Lebens- und/oder Arbeitsverhältnissen ansonsten nicht in den „hegemonialen Diskursen“ (ebd.) zu Wort kommen. Kritisch muss hingegen hinterfragt werden, ob eine solche duale Sichtweise – subaltern versus hegemonial – wirklich angemessen ist. Gibt es keine Öffentlichkeit und keine lokale Demokratie (mehr), in der nicht auch soziale Anliegen verhandelt werden und in der der Schutz von Minderheiten berücksichtigt wird? Man mag zu dem Schluss kommen, dass dies nicht ausreichend geschieht, aber dafür wäre zunächst eine kritische Rekonstruktion der bestehenden repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaats notwendig. Doch sie fehlt schmerzhaft in dieser dann doch sehr holzschnittartigen Stadt- beziehungsweise Weltsicht.

Die lokale Demokratie ist mit einer Vielzahl von institutionellen Transformationen konfrontiert,[13] die die Möglichkeiten von Veränderungen und für eine gentrifizierungskritische Politik maßgeblich beeinflussen werden. Die in den hier besprochenen Büchern vorgestellten Forschungsansätze bieten dazu unterschiedliche Zugänge an. Kühlings Buch holt die normative Ebene der gesellschaftlichen Diskussion – hier im juristischen Diskurs, allerdings durchsetzt von ordnungsstaatlichen Vorannahmen, die nicht hinterfragt werden – ein, die die Gentrifizierungsforschung in die bestehende rechtliche Ordnung der Bundesrepublik als historischer Rahmen verortet. Eine solche Verortung bleibt zwingend notwendig, wenn die Gentrifizierungsforschung nicht zwischen der allgemeinen Analyse von Globalisierung und lokalen Phänomenen staatsblind sein will. Konfrontiert werden muss ein solcher Ansatz aber mit einer Gentrifizierungsforschung, wie sie im Sammelband von Glatter und Mießner als State of the Art konzediert nachzulesen ist. Zudem bedarf es einer Gentrifizierungsforschung, die die Analysen unterschiedlicher im Zusammenhang mit Gentrifizierung stehender gesellschaftlicher Prozesse aufarbeitet und versucht, sie in ihrer eigenen Dynamik aufzuzeigen. Die Gentrifizierungsforschung hat sich trotz ihrer multiparadigmatischen Konstitution bewährt und als eigenständiges Forschungsfeld etabliert, das durch seine theoretische Offenheit vielfach anschlussfähig ist und noch weiter entwickelt werden wird. Eine wichtige Strategie hierzu wird die Wiederaufnahme von lokalen Stadt-Analysen sein, wie sie hier nun für Frankfurt vorgelegt worden ist. Auf die Situation von ausgeschlossenen Menschen und die Verdrängung von Mieter:innen hinzuweisen, ist der erste – zwingend notwendige – Schritt, den die Frankfurter Studie vorbildlich absolviert. Doch die Auseinandersetzung mit den Argumentationen und Perspektiven anderer Disziplinen, vor allem aber aus der politischen Praxis, im hier konkreten Fall der Frankfurter Bürgerschaft, kann sie nicht ersetzen. Hier kann, um Gentrifizierungsdynamiken etwas entgegenzusetzen, die Lösung nur in einer stärkeren Zusammenarbeit von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik liegen.

  1. Immobilo, Gentrifizierung – Ein altes Phänomen in neuem Kleid, Berlin 2023.
  2. Ebd.
  3. Todd Harvey et al. (Hg.), Gentrification and West Oakland. Causes, Effects and Best Practices, Berkeley, CA 1999, S. 2.
  4. Siehe immobilo, Gentrifizierung, 2023.
  5. Jürgen Kühling, Gentrifizierung als Rechtsproblem – Wohnungspolitik ohne ökonomische und rechtsstaatliche Leitplanken?, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 2020.
  6. Lars Meier, Henri Lefebvre. Die gesellschaftliche Produktion des Raums und das Recht auf Stadt, in: Lars Meier / Silke Steets / Lars Frers (Hg.), Theoretische Positionen der Stadtsoziologie, Weinheim 2018.
  7. Eine Übersicht hierzu bietet Frank Eckardt, Gentrifizierung: Forschung und Politik zu städtischen Verdrängungsprozessen, Wiesbaden 2018.
  8. Jan Glatter / Michael Mießner (Hg.), Gentrifizierung und Verdrängung. Aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen, Bielefeld: 2021.
  9. Jürgen Friedrichs / Robert Kecskes, Gentrification. Theorie und Forschungsergebnisse, Opladen 1996.
  10. Neil Smith, Toward a Theory of Gentrification. A Back to the City Movement by Capital, not People, in: Journal of the American Planning Association 45 (1979), 4, S. 538–548.
  11. Abel Albet / Núria Benach, Gentrification as a global strategy. Neil Smith and beyond, London 2017.
  12. Johanna Betz / Svenja Keitzel / Jürgen Schardt / Sebastian Schipper / Sara Schmitt Pacífico / Felix Wiegand (Hg.), Frankfurt am Main – eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe, Bielefeld 2021.
  13. Vgl. Björn Egner / Detlef Sack (Hg.), Neue Koalitionen – alte Probleme. Lokale Entscheidungsprozesse im Wandel, Wiesbaden 2020; Hubert Heinelt / Björn Egner / Detlef Sack, Kommunalpolitik und Stadtgesellschaft in Deutschland. Institutionalisierte Staat-Gesellschaft-Beziehungen im Vergleich, Baden-Baden 2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Demokratie Kapitalismus / Postkapitalismus Politische Ökonomie Recht Soziale Ungleichheit Sozialer Wandel Stadt / Raum Wirtschaft

Frank Eckardt

Frank Eckardt ist Politikwissenschaftler und Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar.

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