Christine Magerski | Literaturessay | 23.01.2025
Verhaltene Kritik
Literaturessay zu „Das Populäre als Kunst? Fragen der Form, Werturteile, Begriffe und Begründungen“ von Thomas Hecken

Thomas Hecken legt mit Das Populäre als Kunst? eine Studie vor, die sich nicht zuletzt seiner Arbeit im Sonderforschungsbereich „Transformationen des Populären“ verdankt. Sie liegt insgesamt auf der Linie seiner bisherigen Arbeiten und wartet doch mit Überraschungen auf. Sehr zurückhaltend nämlich verhandelt der Experte für Gegen- und Populärkultur die titelgebende Frage und geht, statt eine streitbare These zu formulieren, bezüglich der ästhetischen Wertungsfrage des Populären einen ganz eigenen Weg. Dabei kommt die Frage selbst zur rechten Zeit. Nicht nur das Populäre hat sich transformiert, sondern auch die Gegenkulturen. Hecken kennt die Schlagworte, hat sie mit seinem Buch Avant-Pop[1] gar selbst geprägt. Nun stellt er also die Gretchenfrage – „Handelt es sich um Kunst?“ (S. 1) – und gibt damit einer die Theorien der Avantgarde seit ihren Anfängen beschäftigenden, grundsätzlichen Diskussion[2] neue Nahrung. Um Anregungen für „Debatten zwischen Theoretikern, Feuilletonisten, Intellektuellen zum Status des Populären“ (S. 7) zu geben, hat sich Hecken für die Form einer detaillierten, sich eng an der Kunstkritik bewegenden Bilanz vor allem jener Stellungnahmen entschieden, die das Populäre sehr wohl als Kunst verstanden wissen wollen. Ein möglicher theoretischer Ausweg aus der spätestens mit Niklas Luhmanns Differenz Kunst/Nichtkunst in die Endlosschleife geratenen Debatte ist also trotz scharf gestellter Frage nicht zu erwarten. Stattdessen liefert Hecken eine umfassende Bilanz der das Populäre aufwertenden Position.
I.
Dem Ansatz der Studie entsprechend geht Hecken auf Distanz zu jeder Form der Regelpoetik, hält jedoch an einer konventionellen Einschränkung fest. Der Begriff des Populären wird auf ‚populäre Werke‘ begrenzt und damit zunächst der Werkbegriff reaktiviert. Unter ‚populären Werken‘ versteht Hecken alle Artefakte, „die von einer großen Zahl an Menschen gesehen, gehört oder auf andere Art und Weise überwiegend ohne Missfallen wahrgenommen werden“ (S. 2). Um von der quantitativ gewichteten Rezeption von Werken zu ästhetischen Maßstäben zu gelangen, bedarf es aber einer reflektierten Grundlage. Hecken sucht diese weder in der Theorie noch in einer klar formulierten Methodologie, sondern in der Kunst- und Kulturkritik. Durchforstet und nach Gegenständen sortiert werden alle Artikel und Bücher, die in den 1920ern sowie zwischen 1955 und der Gegenwart in den USA und in Westeuropa erschienen sind – solange die Urteile über die künstlerischen Qualitäten populärer Werke weitestgehend positiv ausfallen.
Hecken geht es primär darum, „die Fülle an unterschiedlichen Positionen, Aussagen und Argumentationsmöglichkeiten aufzuzeigen, zu bündeln, zu systematisieren und zu überprüfen“ (S. 5). Um deren geradezu erschlagender Menge Herr zu werden und eine Auswahl zu treffen, konzentriert sich Hecken auf Stellungnahmen, die nicht nur auf größere Resonanz stießen beziehungsweise stoßen, sondern mit ihrer Fürsprache populärer Werke Neuland betreten. Die Selektion erfolgt entlang von vier Kriterien: „Wurde der Beitrag oft gelesen und/oder über einen längeren Zeitraum zitiert bzw. paraphrasiert und/oder wieder aufgelegt und/oder in andere Sprachen übersetzt?“ (S. 4). Das Populäre wird also mithilfe populärer Fürsprachen aufgewertet, und dies (das Zitat steht pars pro toto) in einer Sprache, die der Popularität der Studie nicht unbedingt förderlich sein dürfte. Schwerer aber wiegt, dass Hecken eine wesentliche Facette des Populären von Beginn an marginalisiert. „Wegen besagter Schwerpunktsetzung“, so heißt es, „erfahren konservative, kommunistische, kommunitaristische und faschistische Verteidigungen einer ‚populären Kunst‘ im Rahmen des vorliegenden Buchs relativ wenig Beachtung“ (S. 5). Das ist aufwandsökonomisch verständlich, beschränkt das Populäre aber gerade politisch immens.
Der Gewinn eines derartigen Zuschnitts auf Werke im „Reich oder im Grenzbereich der Kunst“ (S. 6) liegt darin, dass er es Hecken ermöglicht, sich ganz auf die ästhetische Debatte zwischen Gegnern und Anhängern des Populären zu konzentrieren. Dass selbst hier nicht nur reichlich Stoff vorhanden ist, sondern auch jede Menge Unklarheiten bleiben, mag folgendes Zwischenresümee illustrieren:
„Bisher konnten sechs Arten und Weisen, populären Werken einen Kunststatus zu verleihen, nachgewiesen werden. Die Feststellung, sie seien 1. einfach oder 2. standardisiert, musterhaft oder 3. effektstark, ‚reizvoll‘ – und dies trage jeweils zu ihrem künstlerischen Wert bei. Die Feststellungen, populäre Werke seien 4. komplex oder 5. originell, individuell – und darum künstlerisch wertvoll. Diese Eigenschaften können jeweils an unterschiedliche Eigenschaften des populären Werks geknüpft werden: es sei auf gute – einfache, genremäßige, ‚reizvolle‘, komplexe oder originelle – Weise realistisch, expressiv durchgestaltet, fantastisch, artifiziell, witzig etc. Als Punkt 6 kommt hinzu, dass die Wertung, es handle sich um ein komplexes oder originelles und darum gutes Werk, nicht als Aussage formuliert, sondern indirekt durch eine Vielzahl an Bezügen, Anspielungen, Pointen, eigenwilligen Gedanken erhellt wird.“ (S. 91)
Es mag dem theorieaffinen Blick der Rezensentin geschuldet sein, aber mehr als in sich widersprüchliche Merkmale und mithin einen Verlust an Bewertungsmaßstäben vermag sie in den ‚Kriterien‘ schlicht nicht zu entdecken. Betrachtet man die frühe Zwischenbilanz der Kritik selbst wiederum kritisch, so ergeben sich für den Umgang mit der Wertungsfrage streng genommen nur zwei Möglichkeiten: Entweder man folgt dem Rat des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich – „Tiefer hängen“[3] – oder man stellt den Fokus kunstsoziologisch konsequent auf die Institutionen (Galerien, Museen, Preisverleihungen etc.) um, innerhalb derer bis heute über die Differenz Kunst/Nichtkunst entschieden wird.
II.
Hecken schlägt beide Optionen aus und führt den Leser in ein Dickicht aus Kritiken und Kommentaren, durch das trotz thematischer Gliederung so recht kein Weg führen will. Der erste Teil präsentiert weitestgehend als bekannt vorauszusetzende Pro- und Kontraargumente dafür, das Populäre als Kunst zu betrachten. Dabei zeichnen sich zwei grundsätzlich Richtungen der Kritik ab, von denen die erste qualitativ verfährt, also auf Eigenschaften der Werke fokussiert, während sich die zweite auf die Rezipientenzahlen stützt. Qualitativ betrachtet, so wird gezeigt, dominieren bis in die 1950er-Jahre die „Standardweinwände“ gegen das Standardisierte, die Kritik an der einfachen Komposition der Werke sowie die Ablehnung des ‚reizvollen‘ Charakters populärer Artefakte. Das Argument lautet verkürzt, dass man das große Publikum und mithin ökonomischen Erfolg nur durch konventionelle Artefakte erreiche. Da Kunst aber originell sein müsse, könne das Populäre keine Kunst sein.
Zu recht weist Hecken in diesem Zusammenhang auf die „grundsätzliche Paradoxie des Genie-Gedankens“ (S. 23) hin: Einerseits wird die Abkehr von der Orientierung an einer künstlerischen Regel gefordert, andererseits jedoch der künstlerische Wert an die (neue) Regel der Originalität gebunden. Auch überzeugt der Befund, dass die Mitte in der Kunst – im deutlichen Unterschied zur Politik oder der Moral – keinen allzu guten Ruf genießt (S. 39). Ob die „radikale Zurückweisung populärer ‚mittlerer‘ Artefakte“ jedoch, wie von Hecken behauptet, „höchstwahrscheinlich“ darauf zurückzuführen ist, dass diese zumindest teilweise der bürgerlichen Schicht entstammen oder gern von ihr rezipiert werden, wäre zu hinterfragen. Überhaupt kommt das komplexe, mit der Paradoxie des Genie-Gedankens korrelierende Phänomen des bürgerlich Antibürgerlichen im Buch deutlich zu kurz, ist doch zumindest zu vermuten, dass selbst noch die radikalsten Kritiker des ‚Mittleren‘ der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft entstammen.
Offen bleiben zudem Fragen bezüglich der auf Quantität setzenden Argumentationslinie. Nehmen wir nur die Charts: Hecken argumentiert, dass eine starke Rezeption noch nicht bedeutet, dass die Werke auch gern rezipiert werden. Heißt dies, dass auch stark rezipiert werden kann, was nicht gefällt, vielfacher Erwerb also nicht indiziert, dass etwas für gut befunden und entsprechend gern gekauft wird? Braucht es wirklich Meinungsumfragen oder größer angelegte Rezeptionsstudien (S. 63), um hier Gewissheit zu erlangen? Auch vermag Heckens Umgang mit der Kulturgeschichte zuweilen nicht wirklich zu überzeugen. Seine Diagnose, dass eine umfassende künstlerische Verteidigung des Populären einschließlich Werbung erst mit der 1952 gegründeten Künstlervereinigung Independent Group einsetzt, übergeht die öffentlichkeitswirksamen Durchsetzungstrategien der historischen Avantgarde und insbesondere des Dadaismus.[4]
Hecken vernachlässigt die historische Linie des Populären zugunsten einer Kritik der Kritik, die gleichwohl eher verhalten ausfällt. Zu ihrer Formulierung wird aufbauend auf den beiden genannten Formen der Kritik eine Grundunterscheidung gezogen: das Populäre mit und ohne Anführungszeichen. Das Populäre meint immer „Popularität im Sinne solch einer großen Zahl“ (S. 65), während das ‚Populäre‘ auf qualitative Eigenschaften verweist. Mit dieser Differenz im Gepäck geht es in den zweiten, programmatisch mit „Grundlegende Ansätze, die zentralen Kritikpunkte abzuwehren“ überschriebenen Teil. Die zentralen Kritikpunkte – Standardisierung, Reiz und Ästhetik – werden hier mit der Annahme konfrontiert, dass es keineswegs ein „Naturgesetz“ (S. 103) gebe, welches das Standardisierte auf Kosten des Unkonventionellen durchsetze. Schlüssig wird in diesem Zusammenhang auf den Siegeszug des Romans verwiesen und die Genre-Konzeption als streitbarer Ansatz herausgestellt, der einer kritischen Überprüfung würdig wäre. Auch ist Hecken uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er mit Verweis auf den Realismus argumentiert, dass man in der realistischen Darstellungsweise auch und vor allem eine künstlerische Technik sehen könne; eine Perspektive, welche den Ausschluss des Realismus aus dem Bereich der Kunst hinfällig mache (S. 123). Gerade wegen der „Orientierung an jenem Standard, den die Welt außerhalb des Artefakts biete (seien es die Beschaffenheit einzelner Dinge oder Wahrnehmungskonventionen)“ könne Realismus „mimetisch (gute) Kunst“ (S. 127) sein. Und überhaupt, auch darin ist Hecken uneingeschränkt zuzustimmen, gebe es Standardisierungen nicht nur in der Pornografie, dem Liebesfilm, in Schlagern, Krimis etc., sondern auch in avantgardistischen Stilformen wie etwa dem Minimalismus, der konkreten Poesie oder der Zwölftontechnik. Mit dem Hinweis auf Schemata lässt sich also weder das Populäre noch das ‚Populäre‘ überzeugend abwerten. Gleiches gilt für die negative Bewertung des ‚Reizes‘, die ein fester Bestandteil der Kritik des Populären ist. Sie lässt, wie Hecken richtig konstatiert, „nicht viele brauchbare analytische Verwendungsmöglichkeiten übrig“ (S. 157). Denkt man beispielsweise an die Romane des französischen Starautors Michel Houellebecq, wird ersichtlich, dass etwa Pornografisches als Reiz heute nicht allein in der Pop-Musik, sondern auch in einer Literatur fernab des Trivialen zum Einsatz kommt, und leichtfertige schematische Zuschreibungen verunmöglicht.
III.
Auch wenn sie eher kurz ausfällt, richtet sich Heckens eigentliche Kritik aber gegen die Ästhetik und damit gegen die traditionelle Schiedsinstanz in Fragen der Kunst. Hecken grenzt seinen Zugang hier deutlich ab: „Etwas anderes als Menschen, die über einigermaßen funktionierende Sinnesorgane verfügen und eine Sprache (Deutsch, Englisch etc.) sprechen und so Elemente von Kunstwerken und Phänomen erkennen und benennen können, sieht es (Heckens Buch, C.M.) nicht vor.“ (S. 160). Gleichwohl macht die spezifisch ästhetische Frage nach der Form beziehungsweise den Form-Elementen die Diskussion eines Werkes erst eigentlich interessant.
Der Frage nach der Form widmet sich der dritte Teil und schlägt zugleich mögliche Änderungen des Kunstbegriffs unter dem Eindruck des Populären vor. Einem Aufriss, der Kunstdefinitionen abhandelt, folgt der Abgleich nach den Kriterien der Nützlichkeit, des Modischen, des Unterhaltungswertes, des Show-Effekts, des Aufzeichnungscharakters, der Reproduktion sowie der Laienkunst. Heckens sich bereits in der ‚Realismus-Debatte‘ andeutende Kritik an der Kritk des Mimetischen und mithin an einer Moderne, die für eine „Neusortierung unter dem Zeichen ‚Kunst‘ gesorgt“ (S. 175) habe, nimmt jetzt Fahrt auf. Konsequent verweist Hecken auf Phänomene wie die Mode oder das Design, also gestaltete Alltagsgegenstände, die die Unterscheidung Kunst/Nichtkunst unterlaufen und darum heute unter „Ästhetisierung“ firmieren. Produkte, die für Erlebnisse hergerichtet werden (Hecken bezieht sich hier auf Gerhard Schulze[5]), würden hingegen die Unterscheidung funktional/unfunktional herausfordern und ihre Herauslösung aus dem „untergeordneten Bezirk der ‚Unterhaltungskunst‘ oder der ‚Gebrauchskunst‘“ (S.193) nahelegen.
Dass diese Herauslösung bis heute nur zögerlich vonstattengeht, führt Hecken allein auf den „Effekt ‚moderner‘ Kunstauffassung“ (S. 200), das heißt auf das Fortleben einer Anschauung zurück, die allein das Singuläre, sich einer breiten Rezeption regelrecht Verweigernde positiv wertet, das die Autonomie der Kunst einklagt. Das aber dürfte zu kurz greifen und widerspricht in Teilen auch dem Ansatz der Studie. Nehmen wir Heckens eingehendere Diskussion der „Entgrenzung im Populären“ (S. 215–223): Einerseits ist unbestritten, dass Events und Performances von dem avantgardistischen Anspruch getragen sind, die Kunst ins Leben zu überführen. In diesem Sinne unterminieren sie die Vorstellung von der ‚Institution Kunst‘. Andererseits hat nicht nur die historische Avantgarde, sondern auch die Neo-Avantgarde längst ihren Platz in der verwalteten Welt der Kunst gefunden. Hinweise auf die Schwierigkeit, etwa die Love Parade oder auch Disneyland sowie Diskotheken und Multimedia einzuordnen, laufen ins Leere, zumindest solange man, wie Hecken, am Werkcharakter der Kunst festhält. Bricht man man dieser Selbstbegrenzung, so kann man von der Ästhetik auf das Konzept der Ästhetisierung umstellen. Hecken deutet diesen Gedanken zwar an, geht ihm aber nicht gebührend nach.
Hecken, so will es mitunter scheinen, braucht bei aller verhaltenen Kritik den klaren Gegner und führt die ausbleibende Diskussion um den Kunststatus von Konzerten in Stadien, städtischen Events etc. auf die „Abneigung gegen populäre Artefakte“ (S. 231) zurück. Damit aber provoziert er die Frage, welche Gestalt beziehungsweise welche ästhetischen Formen als Werk betrachtet werden. Wo zieht man den Rahmen? Um die Stars, die Show, den einzelnen Akt oder Song? Hecken kreist gerade in kleinen Kapiteln wie jenen zu Revuen und Varietés oder auch TV-Shows um dieses Problem, liefert aber keine überzeugende Lösung.
Gleiches gilt für den Umgang mit der Fotografie und dem Film. Auch hier werden zentrale Probleme einer Gegenwartsästhetik berührt, offene Fragen aber nicht beantwortet. Bewusst überzogen fragt Hecken, ob nicht jede Filmaufnahme immer auch Kunst im Sinne von Künstlichkeit sei und die Unterscheidung letztlich allein zwischen guten und schlechten Aufnahmen verlaufe. Er bedauert, dass diese „‚Einfachheit‘ in der Gegenwart niemand anstreben zu wollen (scheint)“ (S. 274). Hecken selbst scheint die Ausnahme machen wollen, bleibt aber seinerseits eine tiefergehende Diskussion des Verhältnisses von Kunst und Künstlichkeit schuldig. Womöglich steht die vorschnelle Marginalisierung der Institution Kunst einfachen Unterscheidungen im Wege. Das Werk wie auch das Original jedenfalls haben trotz ausgreifender Ästhetisierung nicht an Relevanz verloren. Andernfalls gäbe es nicht die von Hecken attestierte „Bedeutung der Museen, des Antiquitäten- und Kunsthandels, der Aufführungen und Konzerte, des Denkmalschutzes und der beinahe unzähligen touristischen Reisen zu Kunststätten und -werken“ (S. 289). Auch sieht Hecken, dass Reproduktionstechniken nicht zufällig nur selektiv und zumeist zum Zwecke der Popularisierung bereits anerkannter Kunst zum Einsatz kommen. Doch will er dahinter eben den Widerstand gegen das Populäre sehen und nicht das Funktionieren eingespielter Institutionen. Dabei dürfte es gerade die mit Peter Bürgers wegweisender Studie Theorie der Avantgarde (1974) ins Zentrum gerückte Institution Kunst sein, die noch immer als entscheidender ‚Gatekeeper‘ fungiert. Nicht einzelne, dem Populären abgeneigte Akteure stehen, wo es sie überhaupt noch gibt, hinter dem Widerstand gegen das Populäre, sondern Institutionen, deren Strukturen für ein umfassendes Verständnis auch der gegenwärtigen Verhältnisse, insbesondere mit Sicht auf Qualitätsurteile, stärker zu berücksichtigen wären.
IV.
Vertieft wird der Einwand gegen vorherrschende Unterscheidungen zwischen Populärem und Kunst im vierten Teil. Dieser spannt den Bogen von der ‚Volkskunst‘ über Bestseller-Prosa und Rock- wie Popmusik bis hin zur Pop-Mode. Argumentiert wird durchgehend unter Berufung auf die moderne Kunstauffassung oder auch die „Boheme-Auffassung“ (S. 333), von der jedoch zunächst einmal zu fragen wäre, ob sie in dieser hermetischen Form überhaupt existiert. Nicht nur die moderne Kunst, sondern gerade die sie in Teilen tragende Boheme war und ist ein eminent ambivalentes Phänomen;[6] eine ästhetisch-soziale Konfiguration, innerhalb derer „Erfolg bei einem großen Publikum“ keineswegs grundsätzlich als ein „untrüglicher Indikator für künstlerisches Versagen“ (S. 334) gilt. Nachgerade die Boheme war und ist sehr heterogen: zu ihr zählen nicht allein das künstlerisch ambitionierte Prekariat, sondern auch vermögende Rentiers und erfolgreiche Schriftsteller. Und auch die populären Werke eines Hemingway, Böll oder Franzen sind nur dann den „größten Herausforderungen und Hindernissen wichtiger Prinzipien moderner Kunst“ (S. 333) zuzurechnen, wenn man eben jene moderne Kunst ganz auf ihr avantgardistisch-experimentelles, auf den Bruch mit dem Alltäglichen und auf Verfremdungseffekte abstellendes Segment reduziert.
Dabei ist unbestritten, dass, konzentriert man sich wie Hecken auf die Frage der Form und fragt nach der Unterhaltsamkeit, vor allem drei Narrationsvarianten dominieren:
„Erstens wird die spannende Narration bzw. motivische Entwicklung lobend hervorgehoben, zweitens die amüsante Narration, die mittels einer von Anfang bis Ende gesponnenen Intrige überraschend witzige Konstellationen und Pointen oder eine humorvolle Atmosphäre schafft, drittens eine abwechslungsreiche, nicht stark miteinander verbundene Reihe einzelner spannender oder lustiger, heiterer Episoden und weiterer kompositorischer Elemente“ (S. 355).
Mit eben diesen Eigenschaften aber schafft man es heute bis zum Deutschen Buchpreis. Mit ihm wurde 2024 nicht etwa das Mammutwerk Projektoren von Clemens Meyer (einem Bohemian alter Schule), sondern Martinas Helfers Romans Hey guten Morgen, wie geht es dir? ausgezeichnet. Im Buch chattet eine prekäre Performance-Künstlerin von Mitte 50 mit einem nigerianischen Heiratsschwindler und schafft sich einen fiktiven Freiheitsraum. Die Jury zeigte sich begeistert, und dies nicht allein aufgrund der gelungenen Grenzverwischung zwischen digitalem Spiel und Realität, sondern auch wegen der klugen, besonders reizvollen Choreografie des Romans. Mit anderen Worten: Das Unterhaltsam-Populäre erfährt offenbar in der literaturbetrieblichen Praxis jene Aufwertung, um die es auch Hecken geht – und das gilt nicht allein für das Krimi-Genre.
Trotz konzentriertem Augenmerk auf Gegenwartsphänomene argumentativ aus der Zeit gefallen erscheint Heckens Studie immer dann, wenn es grundsätzlich wird. Auch hier ein Beispiel:
„Wer der Kunst zugesteht, keiner Regel verpflichtet zu sein, darf anderen Personen nicht strikt versagen, zu einer anderen Einschätzung eines Kunstwerks zu gelangen als man selbst. Darum kann eine neue Variante zur künstlerischen Beurteilung nicht mehr als ‚falsch' erkannt und auf diese Art und Weise eliminiert werden. Sie bleibt Teil der Geschichte künstlerischer Kritik und steht zum weiteren Gebrauch unablässig bereit. ‚Widerlegen' kann man sie nur, indem man sie nicht beachtet.“ (S. 376).
Wer oder was aber versagt denn heute noch anderen Personen strikt eine andere Einschätzung der Kunst und eliminiert neue Varianten zur künstlerischen Beurteilung? Und wer würde in Zeiten ausufernder Kunst- und Kulturmärkte noch bezweifeln, dass die Aufwertung des Populären zur Geschichte künstlerischer Kritik zählt? Und muss, wer die Aufwertung des Populären nicht beachtet, zwingend daran interessiert sein, sie zu ‚widerlegen'? Den Anhängern des Rock ‘n‘ Roll oder der Popmusik dürfte es eher gleichgültig sein, ob es eine „moderne Kunst des Rock“ (S. 381) oder eine „Kunst der Popmusik“ (S. 389) gibt. Der Nobilitierung durch die Literaturwissenschaft bedarf es aus der Perspektive der Rezipienten vielleicht gar nicht. Und dass sich die Institutionen der Kunst und Literatur von Heckens dichter Bilanz positiver Stellungnahmen und vom Populären überzeugen lassen müssen, kann gleichfalls bezweifelt werden. Aber selbst für jene, die noch nicht überzeugt sind, bleibt der die Studie durchziehende Grundwiderspruch, dass einerseits die Notwendigkeit eines Nachweises behauptet wird, populäre Artefakte wären nicht simpel (S. 405), und andererseits resümiert wird, dass „keine weitgehend durchgesetzte Anschauung existiert, die sich grundsätzlich gegen eine positive Einschätzung populärer Artefakte ausspräche“ (S. 417).
V.
Wenn es aber gar keine dominierende Position gegen das Populäre als Kunst gibt, wozu dann die mehr als fünfhundertseitige Studie? Hecken geht es laut eigener Aussage darum, „Anregungen zur genauen Überprüfung der angesprochenen Fragen und spekulativen Antworten zu geben“ (S. 424). Die leitende Frage, ob das Populäre Kunst ist, gerät dabei aus dem Blick. Stattdessen finden sich zahlreiche ‚Unterfragen', die am Ende in nicht weniger als 40 spekulativen Antworten münden. Beschränken wir uns auf zehn und fassen diese frei zusammen:
1. Die Aufwertung des Populären steht oft im „Zusammenhang mit demokratischen, sozialistischen und/oder nationalistischen Konzepten“ (S. 424). 2. Die Frage populärer Kunst stellt sich verschärft, wenn das Urteil oder die Rezeptions- und Kaufentscheidungen einer großen Zahl an Menschen ökonomische oder auch politische Konsequenzen haben. 3. Für die Produktion von Unikaten oder stark limitierten Objekten spielt es eine marginale Rolle, ob sie populär sind, da hier allein die „Beliebtheit unter einer kleinen Gruppe von Käufern ausschlaggebend“ ist (S. 426). 4. Unpopuläres vermeiden müssen „Leute, die rein aus aufklärerischen oder propagandistischen, (kunst-)religiösen, moralischen oder politischen Gründen handeln“ (S. 427), sowie Unternehmer, die ihre Kosten nur durch hohe Verkaufzahlen decken können. 5. Eine starke Kritik am Populären geht von den Akteuren der ‚art-world' aus, die um Aufrechterhaltung des „Unikate-Markt(s)“ (S. 431) bemüht sind. 6. Die Berufung auf Autonomie ist hinfällig, da in einer Gesellschaft unerreichbar: „keine Person, die künstlerisch tätig ist, kann einen mehr oder minder externen Ort einnehmen“ (S. 433). 7. Insgesamt ist von einer „‚perfekten Aufteilung'“ (S. 435) auszugehen, bei der sowohl die Befürworter als auch die Kritiker des Populären auf ihre Kosten kommen. 8. Die „‚Kunst'-Ausflaggung“ (S. 437) erfolgt strategisch mit Sicht auf potenzielle Publikumsgruppen. 9. Aus demokratischer Sicht müsste das populäre Artefakt den „Mittelpunkt der Kulturpolitik“ (S. 442) bilden, doch setzt der Staat einen anderen Schwerpunkt und fördert nur bestimmte Künstler, deren Werken er damit größere Rezeptionschancen gewährt. 10. Es gibt in der Gegenwart „gar keine beherrschenden, übergreifenden Instanzen“ (S. 447), die künstlerische Regeln aufstellen oder durchsetzen, weshalb die Kritik an der Standardisierung letztlich ins Leere läuft.
Wem nach dieser stark gestrafften Aufzählung bereits der Kopf schwirrt, wird die Rezensentin verstehen, wenn sie sich mit einer uneingeschränkten Empfehlung des Studie schwer tut. Zu groß ist die Fülle an unterschiedlichen Positionen, Aussagen und Argumentationsmöglichkeiten, zu schwach ihre Bündelung und Systematisierung. Am Ende überwiegt eine Einsicht, die gegenwärtig wohl kaum noch literaturwissenschaftlicher Bestätigung bedarf: Mit dem Wegfall „herrschaftlicher Instanzen“ öffnet sich ein „Raum für beide Einschätzungen“ (S. 448), also für die Auf- wie auch die Abwertung des Populären, was wiederum bedeutet, dass es es „‚nur' Möglichkeiten“ (S. 448) gibt. Genaus so ist es. Und weil es so ist, kann man sich ins Offene wagen und seine Position klar darlegen. Hecken aber agiert insgesamt zu zurückhaltend und wagt erst ganz zum Schluss zwei Einlassungen, die aufhorchen lassen. Da ist zum einen die Feststellung, dass bestehende Subventionen abgeschafft würden, würde die Auffassung dominant, „dass es sich bei den Objekten bisheriger Förderung gar nicht um Kunstwerke handle“ (S. 449), und zum anderen die Bemerkung, dass die weitreichende Entgrenzung der Kunst wahrscheinlich wieder zu einer „Begrenzung an anderer Stelle“ (S. 450) führen werde.
Zieht man die beiden Punkte zusammen, so ergibt sich die Hoffnung auf eine neue Aushandlung dessen, was kulturpolitisch als Kunst gefördert wird. Das aber hätte man gern systematischer ausformuliert gelesen. Wer Anregungen für „Debatten zwischen Theoretikern, Feuilletonisten, Intellektuellen zum Status des Populären“ (S. 7) bieten will, muss sich von der eigenen Intention nicht mit dem Schlusssatz distanzieren, das Buch behaupte keine „Notwendigkeit“ (S. 452) entlang der ausführlich dargelegten positiven Bewertungen des Populären zu verfahren. Das versteht sich von selbst. Auch in den Räumen der Politik und Wissenschaft gibt es immer ‚nur' Möglichkeiten. Gerade darum sind klare Stellungnahmen zu begrüßen, wohl wissend, dass man sich mit ihnen selbst wieder der Kritik aussetzt. In diesem Sinne hätte der Studie ein stärkerer Einsatz jener „Rhetorik der Intensität“[7] gut getan, die Hecken selbst so luzide beschrieben hat. Möge diese Einschränkung der Popularität seiner in vielerlei Hinsicht lesenwerten Studie nicht im Wege stehen.
Fußnoten
- Thomas Hecken, Avant-Pop. Von Susan Sontag über Prada und Sonic Youth bis Lady Gaga und zurück, Berlin/Leiden 2012.
- Christine Magerski, Theorien der Avantgarde. Gehlen – Bürger – Bourdieu – Luhmann. Wiesbaden: Springer VS 2011 sowie jüngst Wolfgang Asholt, Das lange Leben der Avantgarde. Eine Theorie-Geschichte, Göttingen 2024.
- Wolfgang Ullrich, Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003.
- Siehe hierzu etwa Hubert Berg / Walter Fähnders (Hg.), Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009 sowie insbesondere zum Dadaismus: Hanne Bergius, Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, Berlin 1989.
- Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Franfurt / New York 1992.
- Helmut Kreuzer, Die Bohème. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968 sowie; Christine Magerski, Gelebte Ambivalenz. Die Bohème als Prototyp der Moderne, Wiesbaden 2015.
- Thomas Hecken, Avantgarde und Terrorismus: Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld 2006.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Kultur Kunst / Ästhetik Pop
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