Johannes Menzel | Veranstaltungsbericht |

Praktiken funktionaler Differenzierung. Irritationen an der systemtheoretisch-praxeologischen Front

Workshop an der Technischen Universität Dresden, 5.–6. November 2015

Praktiken funktionaler Differenzierung – was könnte das sein? Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Theoriediskussion steckt in diesem Titel zumindest eine kleine Irritation, und das hatten die Veranstalter des Dresdner Workshops, Moritz Mutter und Moritz Plewa, auch beabsichtigt. Freilich ging es in der Folge nicht darum, in einem kollektiven Zustand der Irritation zu verharren, sondern konstruktiv danach zu fragen, ob, und wenn ja: wie und mit welchem heuristischen Instrumentarium zwischen praxis- und systemtheoretischen Ansätzen zu vermitteln sei. In diesem Sinne sollten aus jener anfänglichen Irritation Suchbewegungen hervorgehen, welche die Frontlinien zwischen System- und Praxistheorie transzendieren. Der Workshop war damit explizit »arbeitsorientiert« geplant.

MORITZ MUTTER (Dresden) und MORITZ PLEWA (Frankfurt / Oder) formulierten in ihrer Einleitung besagte Problemstellung des Workshops und zeichneten zunächst die Frontlinien zwischen systemtheoretischen und praxeologischen Positionen in der gegenwärtigen Soziologie nach. Hierbei konzentrierten sie sich vornehmlich auf die Kritikpunkte vonseiten der Praxeologie an der Differenzierungstheorie systemtheoretischer Provenienz. Es ging den Veranstaltern explizit nicht um »eine Eingemeindung« der Praxistheorie in die Systemtheorie, ebenso wenig sollte der Praxistheorie die Kompetenz für makrosoziologische Fragestellungen abgesprochen werden.

HANNES KRÄMER (Frankfurt / Oder) adressierte die Problemstellung mit Blick auf eine Praxeologie der Kultur- und Kreativwirtschaft. An diesem Beispiel könne man die verschiedenen Zugangsweisen von Systemtheorie und Praxistheorie geradezu paradigmatisch rekonstruieren. Handele es sich doch um die organisierte Verzahnung zweier getrennter gesellschaftlicher Teilbereiche, die aber von der Systemtheorie als funktional differenzierte Systeme konzipiert würden, während die Praxistheorie den Fokus ihrer Analyse kreativer Arbeitspraxis vornehmlich auf andere Differenzierungsformen organisationeller Selbstbeschreibung richte. Das liegt Krämer zufolge zuvorderst daran, dass die Praxistheorie nur in den seltensten Fällen als allgemeine Gesellschaftstheorie auftrete. Das Theorem funktionaler Differenzierung scheine sie mithin scheinbar nur bedingt zu tangieren. Krämer veranschaulichte seine These anhand der typischen institutionellen Trennung eines künstlerischen vom wirtschaftlich-planerischen Bereich in Werbeunternehmen. Beide seien durch eigengesetzliche Räume der Produktion mit je spezifischen Sonderwissensbeständen und eigenen Geltungsansprüchen gekennzeichnet und auch in der Arbeitspraxis klar markiert und voneinander abgegrenzt. Einen spezifischen Vorteil der Praxis funktionaler Differenzierung vermutete Krämer dabei in der temporären Suspendierung des Ökonomischen bei der Kreativarbeit.

Mit Blick auf die Frage nach der zunehmenden Plausibilität praxistheoretischer Forschungsprogrammatik verwies STEFAN MEISSNER (Weimar) auf den Praxisbegriff als Substitut für den klassischen Handlungsbegriff. Meißner führte drei Gründe für die Konjunktur der Praxistheorien an: Erstens sei eine „geschichtsvergessene“ Ablehnung der klassischen Handlungstheorien als rationalitätsfixiert zu beobachten, zweitens erfolge eine forschungspolitische Empirisierung der Soziologie, und drittens sei ein Defizit bei der lebensweltlichen Erfahrung subjektiver Handlungs- und Gestaltungspotenziale zu beklagen. Meißner monierte neben der mangelnden theoretischen Abgrenzung des Praxisbegriffs vom Handlungs- und Verhaltensbegriff auch die Konzeption der Praktikenkomplexe, deren sinnhafte Verkettung erst der Beobachter konstruieren müsse. Wer eine Öffentlichkeit beobachtbarer sozialer Praktiken unterstelle, so die Kritik des objektivistischen Gestus der Praxistheorie, impliziere deren vermeintliche Beobachterunabhängigkeit. Meißner schlug dagegen vor, den Begriff der sozialen Praktiken als einen analytischen Begriff zu fassen – selbst wenn er dadurch an lebensweltlicher Anschaulichkeit einbüße. Eine theoretische Reflexion der Beobachterinstanz hinsichtlich der Beobachterabhängigkeit von sozialen Praktiken und insbesondere von Praktikenkomplexen sei dabei unerlässlich.

Als Irritation für Differenzierungstheoretiker und als alternative Erzählung einer Differenzierungskartografie führte JULIAN MÜLLER (München) Bruno Latours Konzept der „Existenzweisen“ ein. Im Gegensatz zu differenzierungstheoretischen „Setzkastenmodellen“ moderner Gesellschaft würden die Existenzweisen bei Latour als Formen des Weltzugangs in Stellung gebracht. Politik, Recht, Fiktion, wie auch Gewohnheit, Moralität oder Netzwerk entfalten als Existenzweisen jeweils eigene Ontologien, die einer komparativen Analyse unterzogen werden können. In Rückgriff auf John L. Austins Sprechakttheorie wende sich Latour gegen klassische Repräsentationstheorien der Sprache und lenke den Blick auf den präsentationalen Aspekt des Sprechens, der nicht den Inhalt, sondern die Möglichkeitsbedingungen des Gelingens beziehungsweise Misslingens eines Sprechakts betreffe. Hinsichtlich der Frage nach den Eigengesetzlichkeiten des Sozialen sowie den Herstellungsbedingungen distinkter Existenzweisen schlug Müller zwei ergänzende theoretische Stützpfeiler vor, den Rahmenbegriff Erving Goffmans und den Strukturbegriff Niklas Luhmanns. Als besonders fruchtbar für differenzierungstheoretische Diskussionen erweise sich freilich Latours Betonung des transformativen Charakters von Kreuzungen zwischen Existenzweisen. Damit lege er deren irreduzible, ereignishafte und nicht vorhersehbare Struktur frei und deute an, dass die Modi der Existenz nicht additiv in den Blick zu bekommen seien. An dieser Stelle hätte der Vortrag von NIELS WERBER (Siegen), der leider aus Krankheitsgründen entfallen musste, zum Übel der Differenzierung: Latour, Luhmann, Schmitt sicherlich produktiv anschließen können.

Am Abend des ersten Tages hatten die Veranstalter eine Podiumsdiskussion zur Theorie und Geschichte funktionaler Differenzierung angesetzt. Befragt nach den Entstehungsbedingungen moderner, funktional differenzierter Gesellschaften kritisierte REINHARD BLÄNKNER (Frankfurt / Oder) zunächst die Aufwertung historisch spezifischer Begriffe wie Gesellschaft oder Verfassung zu hypostasierten Allgemeinbegriffen. Blänkner machte sich stattdessen für einen problemgeschichtlichen Zugriff stark und deutete die funktionalen und sozialen Differenzierungsprozesse als Teil einer neuständischen Vergesellschaftung, welche als eine Antwort auf den einen Kohäsionsverlust der altständischen Ordnung um 1800 im Zuge der Komplexitätssteigerung der frühneuzeitlichen Globalisierung zu verstehen sei.

Ob funktionale Differenzierung als Kennzeichen der Moderne gelten könne, fragte nun KARL-SIEGBERT REHBERG (Dresden), woraufhin er ungeachtet der in der Soziologie symptomatischen Periodisierungsbestrebungen auf das simultane Nebeneinander unterschiedlicher Differenzierungsformen aufmerksam machte. Während in früheren Gesellschaftsformen neben segmentären, stratifikatorischen oder Zentrum/Peripherie-Differenzierungen auch funktionale Aspekte eine Rolle gespielt hätten, seien in der Spätmoderne auch feudale Strukturen und Semantiken weiter wirksam.

URS STÄHELI (Hamburg) richtete schließlich seinen Blick auf Momente nichtanschlussfähiger Kommunikation. Angesichts der systemtheoretischen Ausblendung solcher Diskonnektivitäten öffnete er die Problemstellung für die Praxistheorie, indem er einen speziellen Begriff von Alltag als möglichen Zugang zur Thematik vorstellte. Letzterer unterliege keinen Funktions- und Systemlogiken und sei nicht epistemisch organisiert, sondern durch Erfahrungen, Affekte und Praktiken geprägt. Mit einem solchen Alltagsbegriff würden systemtheoretisch nicht anschlussfähige Operationen soziologisch registrier- und analysierbar.

Die Ausgangsthese des Vortrags von MARKUS GOTTWALD (Erlangen / Nürnberg) am folgenden Tag lautete, die Praxistheorie könne ihrem eigenen Anspruch auf Gegenstandsangemessenheit nur eingeschränkt gerecht werden, gerade weil ihr ein adäquates Verständnis der Makroebene fehle. Es war Gottwalds Anliegen, eine mögliche gesellschaftstheoretische Erweiterung der Praxeologie zu skizzieren. Unter Rückgriff auf jüngere zeit- und präsenztheoretische Debatten erörterte er seinen Vorschlag, Praktiken als Prismen multipler Differenzierung zu begreifen. Gottwald argumentierte, das praktische Vollzugsgeschehen sei immer zugleich auch ein Synchronisationsgeschehen funktional differenzierter Zeithorizonte. Praktiken ließen sich als Prismen multipler Differenzierung verstehen, sofern stabilisierendes, implizites und milieuspezifisches Wissen als Selektionsfilter abstrakt-funktionaler Ordnungen innerhalb situativer Interaktionsverläufe fungieren könne. Als solches synchronisiere das für die Praxistheorie so zentrale geteilte implizite Wissen immer auch divergierende systemische Eigenzeiten. Praktiken seien demnach keineswegs nur Prismen kulturell-praktischer Differenzierungsformen, sondern immer zugleich auch Prismen funktionaler Differenzierung – und deshalb Prismen multipler Differenzierung. Als methodisch fruchtbar könne sich ein Aufmerksamkeitsfokus auf Momente des „Flackerns und Vibrierens“ in Interaktionsverläufen erweisen, anhand derer sichtbar werde, dass Aktanten Normalisierungs- und Synchronisationsanstrengungen vollziehen.

MAREN LEHMANN (Friedrichshafen) führte das Individuum als Objekt soziologischer Theoriebildung gegen die Gesellschaft als verlorenen Traum einer Einheitsdogmatik ins Feld. Die praxeologisch-systemtheoretische Front sei ihrer Ansicht nach gar nicht ohne Weiteres auszumachen, vielmehr schwinge in der Themenstellung des Workshops eine Sorge um die Anschaulichkeit der eigenen Theorien und Untersuchungsgegenstände mit. Die Konzepte Individuum und Individualität, so Lehmann, könnten zur Vermittlung zwischen Praxeologie und Systemtheorie dienen. Anhand einer exemplarischen Betrachtung von Statistik und Evolution verwies sie auf die in begriffliche Konventionen eingeschriebenen Spannungsverhältnisse, die durch diese Konzepte evoziert würden. In der Differenz zwischen Individuum und Person (als Fremdreferenz der Gesellschaft) spiegele sich eine rollenvermittelte Funktionalisierung. In der Differenz von Individuum und Population (als Selbstreferenz der Gesellschaft) hingegen zeige sich das Individuum als statistisches Ereignis, das durch die Erzeugung von Variabilität soziale Anpassung ermögliche. Eingebettet in die „organisierte Ordnung“ wird es zudem adressierbar – als Gegenüber von Bürokratie, Masse, Klasse oder Identität. Im Unterschied zum Netzwerk sei das Individuum schließlich Teil einer mediatisierten Ordnung. Dieses Schema stehe freilich in Opposition zum soziologischen Traum, eine Gesellschaft als Kollektivsingular zu konstruieren, mache aber von deren Rändern aus etwa die korrespondierenden zeitlich-sozialen Praktiken von sozialstrukturell vermeintlich kontrastierenden Typen sozialer Grenzgänger beobachtbar.

Der Workshop bot anregende und lebhafte Diskussionen über eine in der Soziologie bisher selten offen ausgetragene Theoriekontroverse. Die produktive Auseinandersetzung über methodische und theoretische Zugänge, mögliche Forschungsfelder und die Rekonstruktion einer verständigungsorientierten Transfersprache wurde lediglich durch eine Überzahl der systemtheoretisch Interessierten gegenüber den Teilnehmer_innen praxeologischer ‚Couleur‘ etwas beeinträchtigt. Die allseits vorhandene Fähigkeit und Bereitschaft zum spontanen Rollenwechsel konnte diese Schieflage jedoch glücklicherweise kompensieren.

Konferenzübersicht:

Moritz Mutter (Dresden) und Moritz Plewa (Frankfurt/Oder), Einführung

Praktiken der Differenzierung

Hannes Krämer (Frankfurt/Oder), Die mühevolle Praxis der Differenzierung

Stefan Meißner (Weimar), Über die Kontextbezogenheit sozialer Praktiken. Wie kann zwischen sozialen Praktiken und Praktikenkomplexen sinnvoll unterschieden werden?

(Un-)Behagen an Differenzierung

Julian Müller (München), Ein neuer Inventarist. Wie Bruno Latour die Theorie funktionaler Differenzierung irritiert

Podiumsdiskussion

Reinhard Blänkner (Frankfurt/Oder), Neuständische Vergesellschaftung und soziale Differenzierung um 1800

Karl-Siegbert Rehberg (Dresden), Funktionale Differenzierung – ein Kennzeichen der Moderne? Anmerkungen zu einer soziologischen Selbstverständlichkeit

Urs Stäheli (Hamburg), Praktiken der Anschlusslosigkeit in der funktional differenzierten Gesellschaft

Differenzierungs- und Subjektformen

Markus Gottwald (Erlangen/Nürnberg), „Praktiken – Prismen multipler Differenzierung

Maren Lehmann (Friedrichshafen), Was ist ein Individuum?

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Systemtheorie / Soziale Systeme

Johannes Menzel

Johannes Menzel studierte Soziologie und Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zur Zeit studiert er Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), arbeitet dort am Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte sowie am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Er forscht zu geschichtstheoretischen Fragestellungen sowie zur Zeit- und Risikosoziologie.

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