Die Beschäftigung mit Fragen des Gruppenhandelns – etwa danach, ob Organisationen zielorientiert handeln, Klassen genuine gesellschaftliche Akteure sind oder Staaten Handlungsfähigkeit besitzen – hat in der Soziologie eine lange Tradition. Dabei ist jedoch umstritten, ob Gruppen als irreduzible Akteure tatsächlich dasselbe Gewicht für soziologische Erklärungen haben wie Individuen, insbesondere, ob Gruppen dieselbe irreduzible kausale Rolle einnehmen. Können die Handlungen von Gruppen also Tatsachen kausal erklären, ohne dass eine individualistische Reduktion auch nur im Prinzip möglich wäre?
Der methodologische Individualismus stellt eine solche erklärende Rolle von Gruppenhandeln in Frage. Strenge methodologische Individualisten wie Friedrich A. Hayek oder Karl R. Popper gestehen Gruppenakteuren keine bedeutende Rolle für soziologische Erklärungen zu. Selbst James S. Coleman, der einen offeneren methodologischen Individualismus vertritt und corporate agents in seiner Sozialtheorie berücksichtigt, räumt der Annahme von Gruppenakteuren nur eine sehr beschränkte Erklärungskraft ein. Auf der anderen Seite stehen Soziolog_innen, die Gruppenakteuren in ihren Ansätzen eine kausal-explanatorische Rolle zuweisen, ohne diese auf Individuen zu reduzieren, wie zum Beispiel Amitai Etzioni in seinem Buch Die aktive Gesellschaft.[1]
Obwohl also die Frage nach der Bedeutung von Gruppenakteuren für die Soziologie durchaus relevant ist, stieß die in der analytischen Philosophie bereits seit längerem kontrovers geführte Debatte[2] zum Thema group agency in der Soziologie auf relativ wenig Resonanz, auch wenn einige Autoren wie Hans Bernhard Schmid und David Schweikard als Vermittler agieren.[3] Das ist insofern bedauerlich, als im Zuge dieser Debatte Einsichten formuliert wurden, die, so meine These, auch für die soziologische Diskussion relevant sind. Um diese These zu untermauern, werde ich nachfolgend zunächst einen der prominentesten Ansätze zu einer analytisch-philosophischen Theorie der group agency skizzieren (I.). Anschließend werde ich kurz darlegen, welche Bedeutung dieser Ansatz für soziologische Erklärungen hat (II.), um schließlich dessen Stellenwert für die Kontroverse zwischen methodologischen Individualisten und ihren Opponenten zu präsentieren (III.).
Zur Vermeidung von Missverständnissen sei allerdings vorab noch auf folgende Besonderheiten hingewiesen: Wenn in der analytisch-philosophischen Debatte von group agents die Rede ist, bezieht sich der Begriff vor allem auf Organisationen (insbesondere Unternehmen) oder Staaten. Zuweilen werden deshalb von einigen Autor_innen auch andere Begriffe wie „corporate agent“ oder „collective agent“ verwendet.[4] Ich werde der Einfachheit halber jedoch nur von Gruppenakteuren beziehungsweise group agents sprechen. Eine weitere Besonderheit, die den Beiträgen zur analytisch-philosophischen Diskussion im Unterschied zu manchen soziologischen Theorien eignet, betrifft die vergleichsweise anspruchsvollen Anforderungen an den Begriff des „Akteurs“. Die strengen Kriterien bringen es mit sich, dass nicht jeder koordinierten sozialen Gruppe oder Organisation automatisch der Status eines Akteurs zugeschrieben wird. Zum Beispiel wäre eine solche Zuschreibung für soziale Bewegungen oder Klassen ungewöhnlich und würde erheblichen argumentativen Widerstand hervorrufen. Eine letzte Eigentümlichkeit der Debatte besteht schließlich darin, dass häufig eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem Handeln eines Gruppenakteurs und dem gemeinsamen Handeln der Mitglieder einer Gruppe getroffen wird. Auf diese Unterscheidung, die meines Erachtens in der Soziologie zu selten berücksichtigt wird, werde ich unten näher eingehen. Nach diesen Vorbemerkungen wende ich mich nun den Umrissen einer Theorie der Gruppenakteure zu.
I. Die analytisch-philosophische Debatte um das Problem der group agency – Eine Skizze
Einer der gegenwärtig interessantesten und – soweit ich sehe – einflussreichsten jüngeren Ansätze zu einer Theorie der Gruppenakteure stammt von Christian List und Philip Pettit. Ihre Theorie besticht besonders durch minimale Annahmen sowie ihre Anschlussfähigkeit an neuere Debatten in der Philosophie des Geistes. List und Pettit stellen dabei spezifische Kriterien auf, die Gruppen erfüllen müssen, um als Akteur gelten zu dürfen. Diese Kriterien lassen sich grob wie folgt zusammenfassen: Um als Akteur gelten zu dürfen, muss eine Gruppe sowohl über repräsentationale als auch über motivationale mentale Zustände verfügen und zudem die Fähigkeit besitzen, diese Zustände zu verarbeiten und sich ihnen entsprechend zu verhalten.[5]
Die Bedingungen sind nach List und Pettit dieselben, die auch ein Individuum erfüllen muss, um als Akteur gelten zu dürfen: Es muss sich die Welt in irgendeiner Weise repräsentieren (etwa mittels der Überzeugung, auf dem Tisch stehe eine Tasse); es muss motivationale Zustände haben (beispielsweise den Wunsch, aus der Tasse zu trinken); und es muss fähig sein, diesen Zuständen gemäß zu handeln (etwa die Tasse mit der Hand vom Tisch zu nehmen, zum Mund zu führen und daraus zu trinken). In analoger Weise muss List und Pettit zufolge auch ein Gruppenakteur wie eine Firma in der Lage sein, repräsentationale Zustände auszubilden (sich also zum Beispiel eine bestimmte Marktlage als günstig zu repräsentieren); des Weiteren muss die betreffende Firma motivationale Zustände entwickeln können (wie zum Beispiel den Wunsch nach Profit); und schließlich muss sie fähig sein, sich diesen mentalen Zuständen entsprechend zu verhalten (indem sie etwa den Versuch unternimmt, in einen lukrativen Markt vorzudringen).
Die ersten zwei Kriterien, also das Vorhandensein repräsentationaler und motivationaler mentaler Zustände, werden zuweilen auch unter dem Begriff des „intentionalen Profils“ zusammengefasst.[6] Der Begriff ist meines Erachtens hilfreich, um den Begriff des „Gruppenakteurs“ näher zu bestimmen. Mit ihm lässt sich nämlich auf einfache Weise deutlich machen, dass eine Gruppe von Individuen gemeinsam eine Handlung ausführen kann, ohne deshalb schon den Status eines Gruppenakteurs für sich beanspruchen zu können.[7] Der Unterschied zwischen dem Handeln eines Gruppenakteurs und dem gemeinsamen Handeln von Individuen besteht demnach darin, dass ein Gruppenakteur über ein eigenes intentionales Profil verfügen muss, während bei gemeinsamen Handlungen einzelner Akteure nur die einzelnen intentionalen Profile der Beteiligten angemessen miteinander verbunden sein müssen, wobei diese Verbundenheit auf unterschiedliche Weisen analysiert wird.[8]
Damit stellt sich die entscheidende Frage, was die Rede von einem eigenen intentionalen Profil im Fall eines Gruppenakteurs denn nun genau bedeutet. Als zentrale Bedingung darf die Anzahl der intentionalen Profile nicht numerisch identisch mit denen der Gruppenmitglieder sein. Soll beispielsweise das Handeln von vier Individuen als Handeln eines Gruppenakteurs gelten dürfen, dann müssen der genannten Bedingung zufolge also insgesamt fünf intentionale Profile vorliegen, während für eine gemeinsame Handlung nur die vier intentionalen Profile der Individuen entsprechend aufeinander abgestimmt sein müssen.
Wie kann aber sichergestellt werden, dass das intentionale Profil einer Gruppe tatsächlich ein numerisch distinktes Profil mit einer gewissen Unabhängigkeit besitzt? Problematisch wäre es, wenn sich die Rede von der Absicht einer Gruppe einfach als Aussage über die intentionalen Profile der Mitglieder erweisen würde. Wäre also beispielweise die Behauptung, der Staat beabsichtige Steuererhöhungen, auf eine Aussage über Mehrheitsverhältnisse innerhalb einer Gruppe von Individuen – etwa innerhalb des Kabinetts – reduzierbar, dann wären Zweifel angebracht, ob der Staat ein genuin eigenes intentionales Profil besitzt.
Um solchen Zweifeln begegnen zu können, haben List und Pettit ein wirkungsvolles Argument entwickelt, das zeigt, warum die Absichten von Gruppen, wie zum Beispiel Staaten, anders als über eine bloße Summierung der intentionalen Profile der jeweils beteiligten Individuen zustande kommen. Das Argument beginnt mit der folgenden einfachen Überlegung, die dann generalisiert werden kann:
Drei Mitglieder einer Gruppe stimmen über zwei Aussagen A und B sowie deren Kombination (A&B) ab. Wenn in dem betreffenden Beispiel ein Mitglied der Gruppe nur für Aussage A stimmte, während ein zweites Mitglied nur für B stimmte und das letzte Mitglied sowohl für A als auch B stimmte, dann führte das bei Einzelabstimmungen über die jeweiligen Aussagen zu einer mehrheitlichen Zustimmung für die Aussagen A und B. Befragte man die Mitglieder der Gruppe hingegen zu ihrer Meinung über die Kombination der beiden Aussagen (A&B), so hätte eine entsprechende Abstimmung eine mehrheitliche Ablehnung der betreffenden Kombination (A&B) zur Folge. Einfach der Mehrheitsmeinung zu folgen, ist also gar nicht möglich, da eine Abstimmung über die Aussagen je nach Fragestellung zu einander widersprechenden Resultaten – sowohl (A&B) als auch nicht-(A&B) – führte, ein Umstand, den List und Pettit als „diskursives Dilemma“ (discursive dilemma) bezeichnen. Derartige diskursive Dilemmata lassen sich auch für andere Szenarien verallgemeinern, nicht nur für Mehrheitsabstimmungen und nicht nur für Abstimmungen über zwei Propositionen und deren Kombination.
Im Auftreten solcher diskursiver Dilemmata sehen List und Pettit ein starkes Argument für die Forderung, die Absichten einer Gruppe von den mentalen Zuständen der einzelnen Mitglieder zu entkoppeln. Denn nur auf diese Weise können widersprechende Resultate ausgeschlossen und damit die notwendige Rationalität für koordiniertes Handeln sichergestellt werden. List und Pettit zufolge bestehen mehrere Möglichkeiten für eine solche Art der Entkopplung. Eine Option besteht etwa darin, jeweils nur die zeitlich letzte Entscheidung auf Gruppenebene zählen zu lassen und vorhergehende widersprechende Entscheidungen zu ignorieren. Diese Option ist allerdings einigermaßen willkürlich.
List und Pettits favorisierter Vorschlag besteht darin, Probewahlen abzuhalten, bis das Ergebnis auf Gruppenebene konsistent ist. Entscheidend ist, dass das resultierende intentionale Profil der Gruppe nicht mehr eine bloße Summierung der intentionalen Profile der individuellen Mitglieder darstellt.[9] Die mentalen Zustände der Gruppe, also etwa ihre Absichten und Überzeugungen, sollen vielmehr durch einen Prozess zustande kommen, der ihnen eine relative Unabhängigkeit von den mentalen Zuständen der einzelnen Mitglieder gewährt. Das ist dann der Fall, wenn die auf Gruppenebene akzeptierten Einstellungen nicht mehr bloß von den vorher gegebenen individuellen Zuständen abhängen, sondern von anderen auf Gruppenebene akzeptierten Einstellungen, etwa wenn durch Probewahlen die Kandidatinnen für Einstellungen der Gruppe aufeinander abgestimmt werden.
Wenn eine solche Unabhängigkeit zustande kommt, besteht die Notwendigkeit zur Differenzierung zwischen den mentalen Zuständen der beteiligten Individuen und dem mentalen Zustand des Gruppenakteurs, damit ein numerisch distinktes intentionales Profil zustande kommt. Von dieser Annahme ausgehend werde ich im Folgenden erläutern, welchen Stellenwert die Annahme von Gruppenakteuren für Erklärungen in der Soziologie besitzt, um dann ein vorläufiges Urteil über die Konsequenzen für die soziologische Theorie in Hinblick auf den methodologischen Individualismus zu ziehen.
II. Erklärungskraft von Gruppenakteuren
Die analytisch-philosophischen Theorien, die die Notwendigkeit einer Annahme von Gruppenakteuren verteidigen, gehen zumeist auch davon aus, dass die mit dieser Annahme verbundene Erklärungskraft diejenige strikt individualistisch argumentierender Handlungstheorien übersteigt. Dafür wird in der analytisch-philosophischen Debatte ein Argument in Stellung gebracht, dass aus der Philosophie des Geistes stammt: das Argument der multiplen Realisierbarkeit.
Da das Argument einigermaßen komplex ist,[10] möchte ich an dieser Stelle etwas ausführlicher darauf eingehen. Die soziologische Relevanz des Arguments wird am Ende der Ausführungen deutlich werden. Für das Argument der multiplen Realisierbarkeit ist eine ursprünglich von Charles S. Peirce eingeführte Unterscheidung zentral,[11] nämlich die zwischen Type und Token.[12] Das klassische Beispiel zur Erläuterung der Unterscheidung bezieht sich auf die Buchstaben des Alphabets: Das deutsche Alphabet umfasst insgesamt nur 30 Buchstaben, Texte aber, wie zum Beispiel dieser hier, umfassen sehr viel mehr. Diese Feststellung führt zu einem scheinbaren Widerspruch über die Zahl der Buchstaben. Die Auflösung dieses nur scheinbaren Widerspruchs erfolgt mit Hilfe der Unterscheidung von Type und Token: Das Alphabet umfasst die Buchstaben als Types, während die Buchstaben im Text als Tokens raumzeitlich instanziiert sind. Jeder Type eines Buchstabens kann folglich beliebig oft in Form unterschiedlicher Tokens instanziiert werden, von einem Schriftzug auf Papier ebenso wie von einer Nudel in einer Buchstabensuppe. Die Tokens eines Buchstaben mögen äußerst unterschiedlich sein, sie sind aber immer die Tokens eines Buchstaben-Types.
Mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich das Argument von der multiplen Realisierbarkeit nun in der Form präsentieren, in der es auch in der Philosophie des Geistes verwendet wird: Demnach können Types von mentalen Zuständen, wie etwa der Type „Überzeugung“, durch gänzlich unterschiedliche Zustände des Gehirns als Tokens instanziiert werden. Eine Konsequenz ist, dass mentale Zustände (Types) multipel realisierbar sind und sich nicht auf nur einen der ihnen jeweils korrespondierenden Gehirnzustände reduzieren lassen. Der einzelne raumzeitliche Token hingegen, also zum Beispiel eine ganz spezifische Überzeugung als einzelne raumzeitliche Instanz, kann jedoch als solche sehr wohl auf einen Gehirnzustand reduzierbar sein. Um noch einmal die Buchstabenanalogie zu verwenden: Auch wenn der Buchstaben-Token A in einer Buchstabensuppe aus nichts anderem als Teig und Wasser besteht, lässt sich deswegen doch nicht der Buchstaben-Type A ebenfalls auf diese Bestandteile reduzieren. Dementsprechend sind Erklärungen, die auf den allgemeinen Type des Buchstabens A Bezug nehmen, nicht durch Erklärungen ersetzbar, die Bezug auf die aus Teig und Wasser gebildete raumzeitliche Instanziierung des Buchstaben A nehmen. Dieses Argument wendet sich gegen die Annahme von Identität auf der Ebene der Types, während die Möglichkeit von Identität auf der Ebene der Token ausdrücklich erhalten bleibt.[13]
Überträgt man diese Einsicht nun auf das Handeln von Individuen, wird der springende Punkt deutlich: Erklärungen, die sich auf Types von mentalen Zuständen (wie beispielsweise Überzeugungen) beziehen, können nicht durch Erklärungen, die sich auf konkrete Gehirnzustände beziehen, ersetzt werden. Erklärt man beispielsweise den Gewaltausbruch einer Person durch den Hinweis auf deren durch einen vorangegangenen Akt ausgelöste Wut, lässt sich eine derartige Erklärung nicht weiter reduzieren. Als erklärendes Motiv fungiert hier das allgemeine Gefühl der Wut (Type), nicht der konkrete Ausdruck (Token), in dem die Wut in einem bestimmten Fall instanziiert ist. Anders als jede einzelne konkrete raumzeitliche Instanziierung von Wut lässt sich das als Motiv angeführte Gefühl der Wut folglich auch nicht auf einen je eigenen spezifischen Gehirnzustand reduzieren.
Für die hier interessierende Frage nach dem Handeln von Gruppenakteuren ist ein analoges Argument u.a. von Deborah Tollefsen entwickelt worden.[14] Ihr Argument – und hier wird es für die Soziologie interessant – bezieht sich nicht auf das Verhältnis von Individuen und Gehirnzuständen, sondern auf jenes zwischen Gruppen und den Zuständen der in ihnen verbundenen Individuen, verstanden als Menge aller Tatsachen, die sich über die betreffenden Individuen ohne Rekurs auf irreduzible Gruppen aussagen lassen. Tollefsen zufolge werden die mentalen Zustände von Gruppenakteuren durch die Beziehungen zwischen den der Gruppe angehörenden Individuen (einschließlich ihres Verhaltens und ihrer intentionalen Profile) realisiert, ohne sich jedoch als Types auf selbige reduzieren zu lassen. Die Überzeugung einer Firma hinsichtlich der Lukrativität eines bestimmten Marktes kann demnach mit unterschiedlichsten mentalen Zuständen auf Seiten der einzelnen Firmenangehörigen einhergehen, ohne sich deshalb auf diese reduzieren zu lassen. In der einen Firma mag die für das Handeln entscheidende Realisierung der handlungsleitenden Überzeugung durch das Votum einer Managerriege zustande kommen, in der anderen durch genossenschaftlichen Beschluss. Angesichts der Vielzahl möglicher unterschiedlicher Realisierungsweisen wird eine allgemeine Reduzierung der für das jeweilige Firmenhandeln als Motiv angeführten Überzeugungen (Types) unmöglich, auch wenn die Tokens, also die konkreten raumzeitlichen Instanzen, jeweils reduzierbar sein sollten.
Die Relevanz von Tollefsens Anwendung des Arguments der multiplen Realisierbarkeit wird ersichtlich bei der Betrachtung von Erklärungen für das Handeln von Gruppenakteuren: Eine Erklärung, die sich auf Types von mentalen Zuständen von Gruppenakteuren bezieht, kann nicht auf eine Erklärung reduziert werden, die sich ausschließlich auf die jeweils konkreten Zustände der beteiligten Individuen bezieht. Dieses Ergebnis kann folgendermaßen interpretiert werden: Bei Erklärungen, die auf Types von mentalen Zuständen von Gruppen abheben, handelt es sich um eine genuin eigene Art von Erklärungen, die sich nicht individualistisch reformulieren lässt.[15]
Folgende Erklärung lässt sich dementsprechend nicht reduzieren: Sind mehrere Firmen der Überzeugung, ihre Gewinnchancen durch die Erschließung eines neuen Marktes steigern zu können und verfügen sie über die dafür erforderlichen Mittel, so werden sie diesen neuen Markt aus eben diesem Grund, d.h. wegen ihrer jeweiligen Überzeugung, erschließen. In diesem Beispiel für eine allgemeine Erklärung wird auf einen Type von mentalen Zuständen Bezug genommen, nämlich den Type „Überzeugung“, und dieser lässt sich nicht reduzieren, auch wenn jedes einzelne Überzeugungs-Token jeder einzelnen Firma als singuläre raumzeitliche Instanz auf die Zustände von Individuen reduzierbar sein sollte. Die Annahme von Gruppenakteuren erlaubt demnach Erklärungen eigener Art, die den methodologischen Individualismus unter Zugzwang bringen, wie ich im Folgenden erläutern möchte.
III. Konsequenzen für die soziologische Theorie
Zumindest ein strikter methodologischer Individualismus stößt angesichts der eben argumentierten Erklärungskraft von Gruppenakteuren an seine Grenzen, kennt er doch keine sozialen Akteure, die sich nicht auf Individuen reduzieren lassen. Enge Varianten des methodologischen Individualismus, die soziale Phänomene ausschließlich unter Rekurs auf Individuen und deren Handeln zu erklären suchen, sind mit der hier präsentierten Theorie der Gruppenakteure folglich unvereinbar.[16] Aber auch weniger strenge Ansätze, die zumindest die Existenz von Relationen zwischen Individuen zulassen, werden der hier entworfenen Theorie der Gruppenakteure nicht gerecht, ermöglicht Letztere, wie gezeigt, doch Erklärungen, denen zufolge sich die multipel realisierbaren Types von mentalen Zuständen der Gruppenakteure eben nicht auf die korrespondierenden Zustände von Individuen reduzieren lassen.[17]
Zum besseren Verständnis der Problematik möchte ich an dieser Stelle kurz auf die Theorie von James S. Coleman eingehen.[18] Colemans Theorie scheint mir als Beispiel deshalb besonders geeignet, weil sie einerseits als Aushängeschild des methodologischen Individualismus in der Soziologie fungiert, in ihr aber andererseits durchaus von corporate actors die Rede ist.[19] Colemans methodologischer Individualismus ist eine der offensten Varianten dieser Schule,[20] und kommt der Position, auf welche die hier vorgebrachten Argumente abzielen, bereits sehr nahe. Dennoch sind einige Aspekte von Colemans Theorie inkompatibel mit dem hier unter Rekurs auf die analytische Philosophie vorgestellten Verständnis von Gruppenakteuren. Das wird etwa an folgender Regel deutlich, die Coleman für Individuen (im Rahmen psychologischer Forschungsinteressen) sowie für Gruppen (im Rahmen soziologischer Forschungsinteressen) aufstellt: [21]
„Purpose and goal-directedness are useful in theory construction, but not if they characterize the entity or system whose behavior is to be explained. They must instead characterize elements of the system, which in the case of sociology can be regarded as actors in the system, either persons or corporate actors.”[22]
Coleman zufolge sollen also Entitäten oder Systemen, deren Verhalten man erklären will, im Rahmen dieser Erklärungen keine Intentionen oder Absichten zugerechnet werden. Stattdessen plädiert er dafür, Überzeugungen und Absichten der beteiligten Individuen oder Gruppen nur dann als Explanans in eine soziologische Erklärung aufzunehmen, wenn die betreffenden Individuen oder Gruppen Teil der betreffenden Entität sind, deren Verhalten erklärt werden soll. Dass Colemans Regel für Gruppenakteure nicht stimmt, kann durch Gegenbeispiele gezeigt werden,[23] etwa durch eine erklärende Generalisierung, in der das Verhalten von Gruppenakteuren durch ihre eigenen mentalen Zustände wie Überzeugungen und Absichten als Types kausal erklärt wird, denn wie oben gezeigt lassen sich Types nicht individualistisch reduzieren. Mein Vorschlag für ein entsprechendes Gegenbeispiel lautet folgendermaßen:
Staaten, die
- der Überzeugung sind, kurz- oder mittelfristig von einem anderen Staat angegriffen zu werden,
- der Ansicht sind, dass sie momentan militärisch stärker sind als dieser andere Staat und seine etwaigen Verbündeten,
- davon ausgehen, dass der andere Staat und seine etwaigen Verbündeten im Laufe der Zeit militärisch stärker werden und
- die Absicht haben, ihre Existenz und ihre vorhandene Machtstellung zu erhalten,
werden deswegen, d.h. aufgrund eben dieser Überzeugungen, nach Wegen zur Abwehr der angenommenen Gefahr suchen, sei es durch einen Präventivschlag, verstärkte Abschreckung oder den Eingang von Bündnissen.
Dem Anspruch nach handelt es sich um eine kausal-erklärende Generalisierung auf der Ebene von Staaten. Erklärt werden soll hier das Verhalten von Staaten als sozialem Phänomen, nicht das Verhalten eines übergeordneten Systems im Sinne Colemans. Dabei werden die Staaten als Gruppenakteure verstanden und ihr Verhalten über ihre eigenen mentalen Zustände erklärt.[24] Festzuhalten ist, dass es sich hier um eine generalisierende Erklärung handelt, die sich auf Staaten im Allgemeinen (Type) bezieht, und nicht nur auf einen raumzeitlich bestimmten Einzelfall (Token).
Ob diese Erklärung empirisch stimmt oder nicht, sei dahingestellt. Es reicht, dass sie hinreichend plausibel und soziologisch relevant ist, um zumindest als legitimer Erklärungsversuch zu gelten. Die generalisierende Erklärung ist aber nicht auf Tatsachen über Individuen reduzierbar, weil sie sich nicht nur auf eine einzelne raumzeitliche Instanz eines mentalen Zustandes bezieht, sondern auf Überzeugungen und Absichten im Allgemeinen (Types). Diese Absichten und Überzeugungen können dabei auf ganz unterschiedliche und nicht überschaubare Weise realisiert sein. Deswegen gibt es keine Möglichkeit, eine Stufe hinabzusteigen und diese generalisierende Erklärung unter Rekurs auf die mentalen Zustände einer Gruppe von Individuen zu einem bestimmten Zeitpunkt und deren daraus resultierendes Verhalten zu beschreiben, wie Coleman es gerne hätte. Zwar mag ein solches Hinabsteigen für jede konkrete raumzeitliche Instanz eines mentalen Zustandes möglich sein, doch der angebotene Erklärungsversuch bezieht sich ja gerade auf mentale Zustände im Allgemeinen und nicht nur auf je einzelne Realisierungen.
Die Erklärung auf Basis dieser Generalisierung bleibt also die ganze Zeit auf der Ebene von Gruppenakteuren und ihren mentalen Zuständen, ganz ohne das „Runter und Rauf“ des Colemanschen Schemas. Eine solche Erklärung lässt sich wegen der multiplen Realisierbarkeit der Types von mentalen Zuständen gar nicht auf die Stufe der Individuen herunterbrechen. Die Überzeugungen von Staaten können mit Zuständen von Individuen verknüpft und auf ganz unterschiedliche Weisen realisiert sein, etwa durch bestimmte Wahlverfahren, Hierarchien oder anderweitige Organisationsmuster, weswegen die oben gebotene Generalisierung sich nicht auf Generalisierungen über Individuen oder ihre mentalen Zustände reduzieren lässt. Coleman wäre demnach gezwungen, sich darauf festzulegen, dass es sich hier um gar keinen plausiblen Erklärungsversuch handelte, sondern bereits der Ansatz grob falsch sei. Eine solche Generalisierung aber nicht einmal als Erklärungsversuch zuzulassen, erscheint gewagt, kann das Beispiel doch auch für andere Gruppenakteure variiert werden, die Coleman selbst in anderen Kontexten zulässt.
Es zeigt sich also, dass Theorien des methodologischen Individualismus, selbst wenn sie wie im Fall Colemans die Rede von Gruppenakteuren prinzipiell für sinnvoll und zulässig erachten, dazu tendieren, mit zentralen Argumenten der analytisch-philosophischen Debatte zu Gruppenakteuren in Konflikt zu geraten und insofern revisionsbedürftig sind. Holistische Ansätze aus der Tradition der Soziologie, wie etwa jener von Amitai Etzioni,[25] dürfen sich hingegen gerechtfertigt sehen, wenn sie eigenständige Erklärungen bieten, die sich nicht (nur) auf Individuen, sondern (auch) auf Gruppenakteure beziehen. Die Generalisierung, die ich als Beispiel angeboten habe, scheint mir beispielsweise gut geeignet zu sein für eine Form der historischen Soziologie, wie sie etwa von Charles Tilly praktiziert wurde. Denn auch eine solche Soziologie will das Verhalten kollektiver Akteure (wie z. B. Staaten) erklären, ohne eine individualistische Reduktion dieser Erklärungen anzubieten. So könnte eine an Tilly angelehnte Argumentation lauten, dass die Territorialstaaten der Neuzeit ihre zivilen Institutionen ausbauten, weil sie beabsichtigten, der Bevölkerung auf diese Weise die eigentlich für den Krieg gebrauchte Ressourcenextraktion akzeptabel zu machen.[26] Da hier der Type „Absichten“ eine erklärende Funktion spielt, wäre eine solche Erklärung irreduzibel auf die jeweiligen Einstellungen der in dem Staat lebenden Individuen. Zwar ist eine konkrete raumzeitliche Instanz einer solchen Absicht (ihr Token) im Einzelfall stets auf individuelle mentale Zustände reduzibel, doch der soziologische Erklärungsanspruch bezieht sich ja gerade nicht nur auf einzelne Instanzen, sondern auf die motivierende Kraft entsprechender Absichten im Allgemeinen (den Type) – auch wenn diese im Einzelfall auf ganz unterschiedliche Weisen realisiert sein mögen. Im Gegensatz zum Colemanschen Prinzip ist ein solches Vorgehen völlig kompatibel mit den avancierten Theorien der Gruppenakteure, wie sie in der analytischen Philosophie zu finden sind.
Die hier nur knapp skizzierten Beispiele machen deutlich, welche Relevanz die in der analytischen Philosophie geführten Diskussionen zum Thema group agency für die gegenwärtige Soziologie besitzen. Ganze soziologische Forschungsansätze, wie derjenige von Coleman oder Elster, geraten durch die vorgebrachten Argumente unter Druck, während andere durch sie Unterstützung erfahren. Sicherlich ist hier noch nicht das letzte Wort gesprochen, denn auch das Argument der multiplen Realisierbarkeit ist umstritten. Zudem lassen sich die genauen Bedingungen, die eine Gruppe zu erfüllen hat, um als Akteur gelten zu können, auch über den weit verbreiteten Ansatz von List und Pettit hinaus diskutieren. Doch sollte bereits die hier nur exemplarisch geführte Diskussion der Problematik gezeigt haben, wie fruchtbar eine interdisziplinäre Diskussion zwischen Soziologie und analytischer Philosophie sein könnte. Mit Rückgriff auf Ressourcen der analytischen Philosophie ließen sich eingefahrene Diskursfronten in der Soziologie auflösen und bislang übersehene Optionen aufzeigen.[27] Dafür wäre es aber nötig, sich der analytischen Philosophie mit größerem Interesse anzunähern und ihre Debatten intensiver zu erkunden als bisher.