Martin Weißmann | Rezension |

Verwaltungswissenschaft als Organisationstheorie?

Anmerkungen zu Wolfgang Seibels Analyse und Kritik der öffentlichen Verwaltung

Seibel, Wolfgang:
Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung
Deutschland
Berlin 2016: Suhrkamp
213 S., EUR 15,00
ISBN 978-3-518-29800-8

Der Konstanzer Politik- und Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel dürfte vielen Soziologinnen vor allem durch seine Thematisierung ‚erfolgreich scheiternder Organisationen‘[1] oder auch durch jüngere Arbeiten zu Verwaltungsorganisationen im Nationalsozialismus bekannt sein, in denen er das Ineinandergreifen von ‚konventioneller‘, regelgebundener und gerade darin effizienter Bürokratie einerseits, ‚partieller Nichtstaatlichkeit‘ der Verwaltung im NS andererseits betont.[2] Mit seinem neuesten Buch legt Seibel nun eine „Archäologie des verwaltungswissenschaftlichen Wissens“ vor, die zu einem besseren Verständnis der öffentlichen Verwaltung beitragen soll (S. 28). Dieser Gegenstand findet außerhalb der auf ihn spezialisierten Verwaltungswissenschaft wenig Beachtung, was gemessen vor allem an der Ubiquität und Vielfalt staatlicher Verwaltungsorganisationen sowie ihrer funktionalen Bedeutsamkeit in modernen Nationalstaaten durchaus überraschend ist.[3] Wenngleich Seibel die klare Abgrenzung des Organisationstyps ‚öffentliche Verwaltung‘ von anderen Organisationen ebenso schwer fällt wie der Verwaltungswissenschaft überhaupt, so ist doch klar, dass es sich bei öffentlichen Verwaltungen stets um formale Organisationen handelt, die öffentliche Aufgaben (Staatsaufgaben) entweder selbst erfüllen (zum Beispiel Polizei, Einwohnermeldeamt, Finanzamt) oder andere staatliche Organisationen bei ihrer Aufgabenerfüllung unterstützen (etwa Gerichtsverwaltung, Parlamentsverwaltung, Ministerialverwaltung). Da die Erfüllung staatlicher Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung eng an Recht und Gesetz gebunden ist, wird dieser Organisationstyp oft auch dadurch definiert, dass es hier im Kern um den „Vollzug von Gesetzen außerhalb der Justiz“ gehe (S. 15). Die bis heute prominenteste Definition schließlich setzt negativ an und wurde im Jahr 1895 von Otto Mayer formuliert: Öffentliche Verwaltung sei die Tätigkeit des Staates außerhalb von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung.[4]

Die bereits vorliegenden Besprechungen des Buches im deutschsprachigen Feuilleton[5] sind sich in ihrem großen Lob für Seibels stets leichtgängigen und präzisen Durchgang durch die Theoriegeschichte der Verwaltungswissenschaft einig, dem ich mich hier nur anschließen kann. Seibel referiert und vergleicht die Positionen zahlreicher prominenter und einiger weniger bekannter Organisations- und Verwaltungstheoretiker und wird auch in seiner Kritik dieser Positionen nie polemisch oder einseitig. Dank Seibels Ansatz, verwaltungswissenschaftliche Fragestellungen konsequent in allgemeineren sozialwissenschaftlichen Diskussionen zu kontextualisieren und stets auf zentrale Referenztexte zu verweisen, bietet das Buch keineswegs lediglich die angekündigte „Ideengeschichte der Verwaltungswissenschaft“ (S. 83), sondern zugleich eine gelungene Einführung in Teile der allgemeineren Organisations- und Entscheidungstheorie, die immer wieder mit Exkursen in die Geschichte der deutschen Verwaltung verbunden wird.

Dass Seibel darauf verzichtet, seine Darstellung durch einige wenige zentrale Begriffe oder Unterscheidungen zu rahmen – etwa die in der Organisationstheorie prominente Unterscheidung formaler von informaler Strukturbildung –, erlaubt es ihm, jede der dargestellten Positionen in ihrer je eigenen Sprache zu referieren, erschwert es jedoch, die referierten Theorien in einen Bezug sowohl zueinander als auch zu einer allgemeinen Theorie von Verwaltungsorganisationen zu setzen. Da die großen Vorzüge der von Seibel gewählten Darstellungsform auch dazu führen, dass seine eigene Argumentation oft implizit bleibt, widme ich mich im Folgenden vor allem der Frage, welche eigene Agenda und welche eigene Argumentation hinter Seibels ‚theoriegeschichtlicher Einführung‘ steckt. Genauer: Was für eine Verwaltungswissenschaft wünscht sich Wolfgang Seibel und was für ein Bild von Verwaltungsorganisationen zeichnet er in seinem jüngsten Buch?

Allgemeine Organisationstheorie als Grundlage der Verwaltungswissenschaft

Schon ein Blick in das Namensregister des Buches und auf die in ihm zitierte Literatur zeigt, dass Seibel eine Form der Verwaltungswissenschaft bestärken will, die in enger Verbindung mit allgemeinen Organisationstheorien steht. Zu diesem Zweck bringt er die Arbeiten bekannter Soziologen wie Max Weber, Robert K. Merton, Renate Mayntz oder Michel Crozier in ein Gespräch mit Klassikern der Verwaltungswissenschaft wie Woodrow Wilson, der, bevor er 1913 US-Präsident wurde, an einer Theorie einer demokratischen, den Bürgern gegenüber verantwortlichen Verwaltung arbeitete, oder Henri Fayol, der dem Leser als ‚Entdecker‘ des ‚kleines Dienstweges‘ vorgestellt wird. Vor allem aber vollzieht Seibel die (implizite) organisationstheoretische Grundlegung der Verwaltungswissenschaft, indem er die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie zu der zentralen theoretischen Referenz seiner Darstellung macht. Diese organisationstheoretische Tradition, die insbesondere mit den Namen James March und Herbert A. Simon verbunden ist, rückt organisationale Entscheidungsprozesse in den empirischen Fokus der Organisationstheorie und betont im Gegensatz zu instrumentellen Vorstellungen von Organisationen die lose Kopplung und Zirkularität von Organisationsproblemen, Problemlösungen und Entscheidungsgelegenheiten.[6]

Seibels Anspruch ist es nun, mit einer organisationstheoretisch informierten Theorie der öffentlichen Verwaltung der Gefahr diverser Vereinseitigungen zu entgehen: Erstens richtet er sich mit der Fokussierung auf ‚Theorien mittlerer Reichweite‘ oder ‚soziale Mechanismen‘ sowohl gegen eine rein empiristische, mit Theorieferne kokettierende Verwaltungswissenschaft, als auch gegen die Ausarbeitung einer abstrakten Theorie der Verwaltung im Singular. Auf diese Weise will er Arbeiten anregen, die Auskunft über die konkreten Wechselwirkungen zwischen Verwaltungsstrukturen einerseits und dem Handeln in der Verwaltung andererseits geben können (S. 17). Zweitens soll eine Seibel folgende Verwaltungswissenschaft ihre Klassiker und mit ihnen die klassischen Problemstellungen der Verwaltung(swissenschaft) kennen, ohne bei ihnen stehen zu bleiben. Es geht ihm also nicht nur um eine „Archäologie des verwaltungswissenschaftlichen Wissens“[7], sondern auch um den „Brückenschlag“ zu aktuellen Diskussionen (S. 27), etwa bezüglich öffentlich diskutierter Fälle von Verwaltungshandeln (zum Beispiel die von Seibel selbst untersuchten Entscheidungsprozesse im Rahmen der Ermittlungen zum Nationalsozialistischen Untergrund[8]) oder zu der unter dem Schlagwort New Public Management geführten Diskussion um die Vorzüge und Folgekosten der Implementation privatwirtschaftlicher Managementtechniken in Organisationen der öffentlichen Verwaltung. Drittens arbeitet Seibel an einer Verwaltungswissenschaft, die nicht nur darüber informieren will, wie Verwaltung funktioniert, sondern auch das Urteil darüber, wenn nicht fällen, so doch anleiten will, ob Verwaltung „gut und angemessen funktioniert“ (S. 16). Der Anspruch und die Durchführung einer zugleich deskriptiv und normativ sprachfähigen Theorie der Verwaltung prägen die gesamte Darstellung Seibels und auch meine weiteren Anmerkungen werden sich auf diesen Aspekt konzentrieren.

Verwaltungswissenschaft (auch) als Theorie guter Verwaltung

„Gut und angemessen“ funktioniert eine Verwaltungsorganisation in demokratischen Rechtsstaaten laut Seibel, wenn sie ihre gesetzliche Aufgabe – also etwa im Fall der Polizei: Die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung – nicht nur erfolgreich, sondern auch in Übereinstimmung mit Recht und Gesetz erfüllt (Willkürverbot, Rechtsstaatlichkeitsprinzip), dabei effizient vorgeht (keine Verschwendung öffentlicher Ressourcen, kein Dilettantismus) und sich des Weiteren „reaktionsfreudig gegenüber den Bedürfnissen der Öffentlichkeit“ und auch „lernfähig“ zeigt (S. 21). ‚Gute Verwaltung‘ in diesem Sinne sei nur dann gewährleistet, wenn das Handeln einzelner Verwaltungsangehöriger effektiv kontrolliert wird: Einerseits von außen durch Rechenschaftspflichten gegenüber Parlamenten, Gerichten, Rechnungshöfen und einer breiteren Öffentlichkeit, andererseits auch von innen durch Kolleginnen und Vorgesetzte, die einem Berufsethos verpflichtet sind, das die Erfüllung eigener Aufgaben im Dienst der Öffentlichkeit nach (grund)gesetzlichen Anforderungen ernst nimmt. Wenn die interne oder die externe Kontrolle des Verwaltungshandelns hingegen unzureichend institutionalisiert ist, drohe ein Zustand „organisierter Verantwortungslosigkeit“ (S. 85).

Effizienz, Verantwortlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Professionalität, Lernfähigkeit, Partizipation – einer diese und ähnliche Werte betonenden Verwaltungswissenschaft könnte man vorhalten, im Stile einer lediglich intern ansetzenden Kritik nur diejenigen normativen Prinzipien zu benennen, die in der offiziellen Selbstkritik ihres Gegenstandes ohnehin schon institutionalisiert sind. Seibel belässt es jedoch nicht dabei, Verwaltungsorganisationen an ihren manifesten, gesetzlich zugeschriebenen Aufgaben sowie an gesamtgesellschaftlich akzeptierten Werten zu messen. Vielmehr zeichnet er ein auch normativ komplexes Bild von Verwaltung. Zum einen betont er die normative Ambivalenz wohlklingender Prinzipien, weist also beispielsweise unter Bezugnahme auf Phillip Selznicks klassische Studie TVA and the Grass Roots[9] darauf hin, dass eine Beteiligung von regionalen Akteuren an Verwaltungsentscheidungen nicht zwangsläufig zu einer ‚demokratischeren‘ Entscheidung führen muss, sondern auch Gefahr laufen kann, dass die Verwaltung zur Beute besonders mobilisierungsfähiger Partikularmeinungen wird und damit letztlich bestehende gesellschaftliche Macht- und Statusasymmetrien reproduziert und verstärkt (S. 63). Auch dürfe angesichts der oft zu hörenden und oft sinnvollen Forderung nach einer ‚bürgerfreundlichen‘ und ‚responsiven‘ Verwaltung nicht übersehen werden, dass Verwaltungsorganisationen regelmäßig mit Sachlagen konfrontiert sind, in denen „nicht verhandelbare Interessengegensätze von Bürger und Staat“ zum Ausdruck kommen (S. 23). Hier ist ‚gute Verwaltung‘ gerade dadurch gekennzeichnet und ermöglicht, dass sie nicht nach dem Konsens der von ihren Entscheidungen Betroffenen streben muss, sondern ihren Wünschen respektlos gegenübertreten darf.

Zum anderen unterscheidet sich Seibels Darstellung von einer rein internen Kritik der Verwaltung auch insofern, als er immer wieder betont, dass Organisationen nur dann flexibel und erfolgreich Probleme lösen können, wenn sie neben der Regeleinhaltung auch die punktuelle Abweichung von der Regel institutionalisieren, die Niklas Luhmann mit dem Schlagwort der „brauchbaren Illegalität“ bezeichnet hat.[10] Zugleich warnt Seibel davor, durch diese organisationstheoretische Einsicht zu große Teile illegalen oder zumindest opportunistischen Verwaltungshandelns wissenschaftlich als organisationsfunktional oder gar unverzichtbar zu legitimieren. Er macht es sich mit der von ihm angestrebten Grenzziehung „zwischen funktionalen und dysfunktionalen, harmlosen und pathologischen Verwaltungswirklichkeiten“ (S. 26) also nicht zu leicht – und diese normative Un-Eindeutigkeit gehört zu den Stärken des Buches, da sie ihren Grund in Seibels Verständnis von Verwaltungsorganisationen als multifunktionalen Gebilden in komplexen Umwelten hat.

Verwaltungen als multifunktionale Organisationen in komplexen Umwelten

Seibels im Text implizit bleibender Anspruch ist es mithin, Verwaltungspraxis nicht einfach an wohlklingenden normativen Prinzipien und den manifesten Organisationsaufgaben zu messen, sondern gewissermaßen die Grenzen rationaler Kritik aus dem theoretischen und empirischen Wissen um Verwaltung(spraxis) zu gewinnen. Was also sind und was können Verwaltungen (nicht)?

Das zentrale, auf allgemeine Organisationstheorie gestützte Argument lautet an dieser Stelle, dass Verwaltungen als bloßes Werkzeug zur Erfüllung einer (staatlichen) Aufgabe völlig unzureichend verstanden wären. Als „soziales System“ (sprich: Organisation) in einer komplexen Umwelt, welche die Organisation mit zahlreichen, oft widerspruchsvollen Anforderungen konfrontiere, bilde jede Verwaltung aus guten Gründen (problemlösende) Strukturen aus, die punktuell in Bezug auf die Erfüllung der primären Organisationsaufgabe ihrerseits zum Problem werden könnten. Die der Verwaltung mögliche Effizienz, Verantwortlichkeit, Responsivität usw. sei also aus guten Gründen begrenzt, und eine rationale Kritik des Verwaltungshandelns müsse um diese Grenzen wissen. Seibel diagnostiziert mithin ein „grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen der Zweckrationalität der Verwaltung und ihrer Eigenschaft als soziales System“ (S. 22) und viele Themen seiner Darstellung lassen sich als Ausdruck dieses Spannungsverhältnisses deuten.

Dies gilt beispielsweise für das Phänomen informeller Verflechtungen zwischen verschiedenen Verwaltungsorganisationen und -abteilungen. Einerseits seien die Bearbeitung von Problemlagen auf dem ‚kleinen Dienstweg‘ sowie informale Anfragen und Absprachen zwischen verschiedenen Behörden notwendig, um schnelle und sachlich gute Entscheidungen treffen zu können und die effektive Kooperation innerhalb und zwischen Behörden zu gewährleisten. Andererseits seien eben diese problemlösenden Mechanismen informaler Entscheidungsfindung einer umfassenden externen (parlamentarischen, gerichtlichen, öffentlichen) Kontrolle entzogen und hätten daher die Tendenz, sich gegenüber den manifesten Aufgaben der Verwaltung zu verselbstständigen und ihrerseits zum Problem zu werden (vgl. S. 23).

Informale Kommunikationskanäle existieren auch zwischen einzelnen Verwaltungsbehörden und den für sie zuständigen parlamentarischen Fachausschüssen und auch sie hält Seibel für unverzichtbar, wenn eine effektive inhaltliche Abstimmung und Zusammenarbeit erreicht werden soll (gleiches dürfte für die Kommunikation zwischen einzelnen Fachverwaltungen und den Akteuren in dem von ihnen verwalteten Feld gelten, etwa für ein Schulamt und den ihm zugeordneten Schulen). Zugleich weist Seibel mit William Niskanen[11] darauf hin, dass die informalen Netzwerke zwischen Parlament und Verwaltung dazu tendieren, zu einer „Koalition der Budgetmaximierer“ zu werden: Initiativen zur Steigerung des Budgets der jeweiligen Behörde würden auf beiden Seiten stets zahlreiche Anhänger finden, da es jenseits des steigenden Budgets an gut operationalisierbaren Faktoren eigenen Erfolgs mangele. Initiativen zur Verringerung des Budgets seien dagegen sowohl im Parlament als auch in den Behörden selbst dann extrem unwahrscheinlich, wenn dies sachlich geboten wäre, da eine Verknappung von Ressourcen die Gefahr behördeninterner Konflikte nach sich ziehe. Die „schleichende Ausbeutung des Steuerzahlers“ könne Niskanen zufolge also zwar gut erklärt, aber kaum verhindert werden (S. 95).

Normativ ambivalente Folgen ergeben sich auch aus der Tatsache, dass zu den Mitgliedern der öffentlichen Verwaltung zahlreiche Angehörige spezifischer Berufsgruppen zählen, die eine von der formalen Organisation relativ unabhängige Identität, eigene Wertmaßstäbe und einen eigenen Gruppenzusammenhalt herausbilden. Das gilt in unterschiedlich starker Ausprägung für Amtsärzte und Lehrer ebenso wie für Polizisten, Bauingenieure oder die von Seibel unter Rekurs auf eine Fallstudie Herbert Kaufmans[12] thematisierten Forstleute. Die Stabilisierung berufsgruppenspezifischer Normen bezeichnet Seibel nun als einerseits unverzichtbar für eine Verwaltung, die darauf hoffen muss, dass ihre Mitglieder die ihnen aufgegebenen Problemlagen auch dann primär nach fachlichen Kriterien bearbeiten, wenn seitens der Parteipolitik, durch organisierte Interessenvertretungen oder durch die persönlichen Wertmaßstäbe des Beamten andere Entscheidungskriterien angeboten werden. Nur durch die eine externe Kontrolle der Verwaltung ergänzende berufsgruppenspezifische Institutionalisierung eines professionellen Ethos des verantwortlichen Entscheidens nach fachlichen Kriterien könne sichergestellt werden, dass Entscheidungen in der öffentlichen Verwaltung nicht durch Korruption, Willkür oder Dilettantismus geprägt sind. Zugleich drohe andererseits die Gefahr, dass sich eben dieses berufsgruppenspezifische Ethos gegenüber den Zielen der Verwaltung verselbstständigt und beispielsweise dazu führt, dass Kolleginnen einander auch in Fällen gravierender Fehlleistungen wechselseitig vor externer Kritik und Kontrolle schützen oder ihre Monopolstellung in Bezug auf die Erledigung bestimmter Aufgaben exzessiv zur Wahrung eigener Privilegien nutzen (S. 80ff.).

Als widerspruchsvoll erweist sich schließlich auch die Erwartung an gute Verwaltungsorganisationen, flexibel auf lokale und individuelle Problemlagen zu reagieren, ohne die Rechtsbindung des Verwaltungshandelns und damit seinen Grad an Universalismus und Berechenbarkeit zu senken. Seibel bringt diese Erwartungshaltung mit der Formulierung des Ideals „flexibler Rechtsstaatlichkeit“ auf den Begriff und fragt nach den Chancen seiner Realisierung (S. 180ff.). Die rechtlichen ‚Problemlösungen‘ liegen hier vor allem in dem Einsatz unbestimmter Rechtsbegriffe einerseits (Flexibilität der Verwaltung in Hinblick auf ‚Tatbestände‘) und der Gewährung von Ermessensentscheidungen andererseits (Flexibilität der Verwaltung in Hinblick auf ‚Rechtsfolgen‘). Beide Einrichtungen seien unverzichtbar und riskant zugleich, da sie die Gesetzesbindung der Verwaltung lockern, weshalb Seibel betont, dass die rechtsstaatliche Qualität einer Verwaltung an dem Umfang der rechtlichen und tatsächlichen gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen in Hinblick auf die „Form der Ermessensausübung oder der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe“ zu messen sei (184). Zur Gewährleistung dieser Qualität kennen Rechtsstaaten im Unterschied zu Diktaturen das Konzept subjektiven öffentlichen Rechts: Bürger, die sich durch Verwaltungsentscheidungen in ihrem Recht verletzt sehen, können diese Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung zuführen, also gewissermaßen von der Möglichkeit Gebrauch machen, „den Staat selbst vor Gericht zu bringen und ihm dort ‚auf gleicher Augenhöhe‘ zu begegnen.“ (186)

Vor allem aus der Forschung zu Polizeiarbeit ist bekannt, dass diese Möglichkeit faktisch auch dadurch begrenzt sein kann, dass Verwaltungsangehörige sich bei Aussagen vor Gericht eines berufsgruppenspezifischen ‘Code of Silence‘ verpflichtet fühlen und daher das Fehlverhalten ihrer Kollegen decken.[13] Wenngleich Seibel diese Forschungen nicht rezipiert, sind sie ein wichtiger Beleg für seine These, dass ‚gute Verwaltung‘ stets auf eine effektive externe und interne Kontrolle von Verwaltungshandeln angewiesen ist.

Informale Kommunikationskanäle zwischen Behörden und parlamentarischen Fachausschüssen, die Institutionalisierung berufsgruppenspezifischer Wertmaßstäbe, Flexibilität in der Rechtsanwendung – diese und andere strukturelle Arrangements in der öffentlichen Verwaltung charakterisiert Seibel in seiner Darstellung konsequent in ihrer normativen Ambivalenz, also als schwer verzichtbare Problemlösungen mit je eigenen Folgeproblemen. Eine rationale Kritik von Verwaltungsorganisationen muss nicht nur um diese normative Ambivalenz diverser struktureller Arrangements, sondern auch noch um die „Standardpathologien“ von Großorganisationen wissen, die Seibel mit zahlreichen Organisationstheoretikern rekonstruiert und nur für begrenzt kontrollierbar, nicht aber für eliminierbar hält. So thematisiert er die in ihrer Rationalität aus guten Gründen begrenzten organisationalen Entscheidungsprozesse als ‚organisierte Anarchie‘ (Cohen/March/Olsen[14]) und weist mit dem von ihm selbst geprägten Begriff der ‚erfolgreich scheiternden Organisation‘ darauf hin, dass der Verzicht auf organisationales Lernen zuweilen für Entscheider in Politik oder Verwaltung durchaus wünschenswert sein könne und deshalb vorangetrieben oder mindestens toleriert werde (S. 108f.). Als zentral für eine realistische Theorie und Kritik der öffentlichen Verwaltung erweisen sich auch die Einsichten des ‘bureacratic politics‘-Ansatzes (Graham T. Allision und Morton Halperlin[15]), der die Fragmentierung ‚des Staates‘ in zahlreiche einzelne Verwaltungsorganisationen mit je eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern sowie Interessen betont, die in einzelnen (verwaltungs)politischen Entscheidungen aufeinandertreffen.

‚Zonen der Kompromisslosigkeit‘ als Grenzen pragmatischen Entscheidens

Die von Seibel charakterisierte Verwaltungsorganisation – zum Beispiel eine Polizeibehörde oder ein Veterinäramt – sieht sich also sehr unterschiedlichen Umwelterwartungen ausgesetzt. Sie ist „nicht nur der verlängerte Arm des Gesetzgebers“, sondern muss daneben auch „Aufgaben der sozialen und politischen Integration“ erfüllen (S. 25), ein für professionelles Personal attraktives Arbeitsumfeld bereitstellen, ihre Entscheidungen gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit vertreten und ihr Handeln auf formalen und informalen Kommunikationskanälen mit politischen Akteuren und organisierten Interessenvertretungen abstimmen. Verwaltungsorganisationen können, so eine zentrale These Seibels, daher nie in Hinblick auf nur eine Problematik rationalisiert werden, sondern finden ihre Stabilität nur durch „Kompromissleistungen im Spannungsverhältnis von Zweckmäßigkeit, Binnenstabilität und Außenverflechtung“ (S. 41).

Zu dieser Charakterisierung von Verwaltungsorganisationen passt dann auch Seibels erkennbare Sympathie für Organisationstheoretiker, die die Vorzüge eines pragmatischen Entscheidungsstils hervorgehoben haben. Mit James March und Herbert A. Simon betont Seibel, dass gute Verwaltungspraxis „Mut zu brauchbaren anstelle von perfekten Lösungen“ (S. 148) erfordere, mit Charles B. Lindblom führt er aus, dass die Kunst des ‚Sich-Durchwurschtelns‘[16] einem rational-umfassenden Vergleich verschiedener Handlungsoptionen praktisch oft überlegen sei. Charakteristisch für Seibels ausgewogene Form der Theoriedarstellung ist jedoch, dass er auch die theoretischen und praktischen Grenzen der Theorien des bloß brauchbaren Entscheidens und des ‚Muddling Through‘ betont: Die zentrale Herausforderung sowohl für den Verwaltungstheoretiker als auch den Verwaltungspraktiker liege schließlich gerade darin, zwischen „Situationen und Sachverhalten, die pragmatisches Entscheiden nach Brauchbarkeitskriterien und ‚Durchwurschteln‘ erlauben, und den besonderen Entscheidungsgegenständen und Sachverhalten, die höchstmögliche Genauigkeit und Tatsachenerhebung, strikte Beachtung von Verfahrensregeln und kompromisslose Professionalität erfordern“, unterscheiden zu können (S. 151). Neben eines ausgeprägten Pragmatismus bedürfe gute Verwaltung daher immer auch spezifischer „Zonen der Kompromisslosigkeit“ (S. 168), Situationstypen also, in denen Mitglieder der Verwaltung ungeachtet aller widerspruchsvollen Anforderungen an ihr Handeln sozial dazu befähigt und durch interne und externe Kontrolle darauf verpflichtet werden, professionelle Standards konsequent durchzusetzen (die Ärztin in einer Operation; der Ingenieur, der die Statik einer Brücke beurteilt; die Leiterin einer polizeilichen Ermittlungskommission, die Ermittlungsansätze gewichtet).

Wenn diese „Zonen der Kompromisslosigkeit“ aufgeweicht werden, könne das katastrophale Folgen haben, die Seibel zufolge „vom organisationstheoretischen Pragmatismus in der Nachfolge Herbert Simons und der Schule der bounded rationality so notorisch vernachlässigt“ worden seien (S. 168). Zur Illustration führt er zwei Beispiele aus der jüngeren bundesrepublikanischen Verwaltungsvergangenheit an: Zum einen den Tod von 15 Menschen bei dem Einsturz einer Eissporthalle in Bad Reichenhall am 2. Januar 2006. Die zuständige Stadtverwaltung habe die Halle angesichts ihres zeitnah geplanten Abrisses bewusst nachlässig überprüft, um weitere Ausgaben für etwaige Reparaturen oder eine vorzeitige Schließung zu verhindern. Fachliche Standards seien also zugunsten einer auf Wirtschaftlichkeit der Verwaltung abzielenden Strategie suspendiert worden. Zum anderen verweist Seibel auf den Tod von 21 Menschen bei der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010. Im Vorfeld hatten Mitarbeiter der für die Genehmigung der Veranstaltung zuständigen Stadtverwaltung wiederholt starke Sicherheitsbedenken geäußert, später jedoch dem Druck einer Interessenskoalition aus kommunalen Wahlbeamten, der privaten Veranstaltungsfirma sowie der öffentlichen Erwartungshaltung nachgegeben und die Veranstaltung unter Verletzung ihrer rechtlich-professionellen Standards genehmigt. An Fällen dieser Art entwickelt Seibel nicht nur in dem hier besprochenen Buch ein Konzept des „Behördenversagens“[17], das er immer dann in Anschlag bringt, wenn er ein „Versagen von Behörden gegenüber dem Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ diagnostiziert (S. 171). Neben den zu schwach ausgeprägten „Zonen der Kompromisslosigkeit“ bemängelt Seibel vor allem das regelmäßige Ausbleiben systematischer Untersuchungen durch Parlamente und/oder Gerichte. Die Folge sei, dass die für Fehlentscheidungen Verantwortlichen nur selten zur Rechenschaft gezogen und die Verwaltungsbehörden nicht effektiv zum Lernen aus Verwaltungsdesastern gezwungen werden würden.

Verwaltungen als komplexe Organisationen – theoretische und normative Konsequenzen

Mit Verwaltung verstehen hat Wolfgang Seibel eine sehr gut lesbare und sehr anregende Einführung in die Geschichte und Gegenwart des Nachdenkens über staatliche Verwaltungsorganisationen vorgelegt. Aus seiner Darstellung ergeben sich für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit öffentlicher Verwaltung sowohl theoretische als auch normative Konsequenzen.

So macht die von Seibel aufgezeigte Komplexität des Verwaltungshandelns deutlich, dass Verwaltungen nur durch das Ineinandergreifen einer Mehrzahl theoretischer Perspektiven angemessen verstanden werden können. Die in seiner Darstellung prominente organisationstheoretische Perspektive würde noch gewinnen, wenn sie stärker um Beiträge aus anderen soziologischen Teildisziplinen ergänzt würde. Gesellschaftstheoretisch gilt es, der besonderen gesellschaftlichen Stellung von Verwaltungsbehörden Rechnung zu tragen: ihre Aufgaben und Befugnisse sind im öffentlichen Recht festgeschrieben, ihre Maßnahmen sind der gerichtlichen und parlamentarischen Kontrolle zugänglich, ihre Führungskräfte weisen zuweilen als politische Beamte eine besondere Abhängigkeit von der Regierungspolitik auf usw. Kurz: Die gesellschaftstheoretische Aufgabe läge darin, Verwaltungsbehörden jeweils insbesondere in ihrem Verhältnis zu den gesellschaftlichen Sphären des Rechts und der Politik zu verorten[18] und systematisch damit zu rechnen, dass Verwaltungen widerspruchsvollen Erwartungen aus sehr unterschiedlichen Umweltsegmenten ausgesetzt sind. Ein Ausgangspunkt für dieses Vorhaben könnte in Niklas Luhmanns politischer Soziologie liegen, in welcher die Parteipolitik, das Verwaltungspublikum und schließlich das Personal der Verwaltung als ihre drei zentralen Umweltsegmente thematisiert werden. Ein wichtiger Vorzug dieser Konzeption liegt darin, dass sie die wechselseitige Einflussnahme beispielsweise von Verwaltung und Parteipolitik thematisiert (Parteipolitik programmiert Verwaltung durch Gesetzgebung; die Verwaltung aber unterrichtet die Politik auch über die aus ihrer Sicht sinnvollen und durchführbaren Entscheidungsmöglichkeiten, wenngleich dieser „gegenläufige Fluß von Kommunikationen“ kommunikativ stärker latent gehalten wird[19]). Auch normativ ergibt sich dann ein komplexeres Bild: Eine so beschriebene Verwaltungsbehörde wäre nicht allein daran zu messen, ob sie die ihr zugeschriebene Aufgabe effizient und verantwortlich ausfüllt, sondern beispielsweise auch daran, ob sie politische Entscheider vorausschauend und nicht nur im eigenen, sondern im öffentlichen Interesse auf praktische Folgeprobleme von Gesetzesänderungen aufmerksam macht.

Ergänzt werden müsste diese oder eine andere gesellschaftstheoretische Perspektive auf Verwaltungen durch Beiträge weiterer Teildisziplinen: Rechtssoziologisch drängt sich die Frage nach den Strukturen der Rechtsanwendung auf, also nach den informal institutionalisierten Regeln für die Anwendung gesetzlicher Regelungen, denen ‘street level bureaucrats‘ (Michael Lipsky)[20] und andere Entscheider in Verwaltungsbehörden folgen. Organisationstheoretisch gilt es, Seibels Ansatz folgend, Verwaltungsbehörden als soziale Gebilde zu beschreiben, in denen zahlreiche Mechanismen wirksam sind, die aus der Beschreibung anderer Großorganisationen bekannt sind, zugleich aber die Besonderheiten des Organisationstyps ‚Verwaltungsorganisation‘ zu klären.[21] Und schließlich, auch das macht Seibels Darstellung deutlich, bedarf eine umfassende Perspektive auf das Handeln der Verwaltung auch der Mittel der Berufs- und Professionssoziologie.

In normativer Hinsicht ist Seibels Thematisierung der öffentlichen Verwaltung ein Beispiel sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, die sich der schlechten Alternative von ‚werturteilsfreier‘ Sozialforschung einerseits und normativistischer Kritik andererseits entzieht. Ohne das explizit zum Thema der Darstellung zu machen, zeigt Seibel, dass es für den Sozialwissenschaftler keine zwingenden Gründe gibt, auf eine normative Kritik zu verzichten, wenn zum einen die Kriterien der Kritik ausgewiesen werden und diese Kritik zum anderen auf der Höhe dessen formuliert ist, was wir über den Gegenstand der Kritik und seine ‚wirklichen Möglichkeiten‘ wissen können.[22] Seibels Buch ist ein überzeugendes Beispiel auch dafür, dass deskriptive und normative Perspektiven voneinander lernen können: Die Theoriegeschichte der Verwaltungswissenschaft verbietet ihm eine Wiederholung der allgemeinen Vorurteile gegen Bürokratie[23] und sein Verständnis von Verwaltungsorganisationen als multifunktionalen Gebilden verhindert, ‚gute Verwaltungen‘ lediglich daran zu messen, in welchem Maß sie ihre manifesten, gesetzlich festgeschriebenen Aufgaben erfüllen. Stattdessen beurteilt Seibel Verwaltungspraxis danach, ob die oft praktisch-widerspruchsvollen Anforderungen erfolgreich ausbalanciert und vergleichsweise effizient und verantwortlich bearbeitet werden.

Die aus Seibels Perspektive dann noch mögliche Kritik der Verwaltung muss daher erstens stärker ins Detail gehen, so etwa in seinen Kommentaren zum deutschen Verwaltungsverfahrensrecht, welches seiner Einschätzung nach mit der Verwaltung sehr großzügig umgehe und letztlich ihr selbst die Entscheidung überlasse, „aus welchen Fehlern sie lernen möchte und welche Lerneffekte sie für verzichtbar hält“ (S. 197). Zweitens ist der von Seibel präferierte Kritiktypus dazu disponiert, die normative Ambivalenz struktureller Arrangements als Problemlösungen mit je eigenen Folgeproblemen ernst zu nehmen, die ich in das Zentrum meiner Anmerkungen gestellt habe. Diese Form sozialwissenschaftlicher Kritik ist nicht frei von Werturteilen, sie ist lediglich frei von einer Wiederholung alltäglicher normativer Gewissheiten und der Verkündung einfachen Rezeptwissens.

  1. Wolfgang Seibel, Erfolgreich scheiternde Organisationen. Zur politischen Ökonomie des Organisationsversagens, in: Politische Vierteljahresschrift 32 (1991), 3, S. 479–496; ders., Funktionaler Dilettantismus. Erfolgreich scheiternde Organisationen im ‚Dritten Sektor‘ zwischen Markt und Staat, Baden-Baden 1992.
  2. Wolfgang Seibel / Sven Reichardt (Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011; Wolfgang Seibel, Macht und Moral. Die ‚Endlösung der Judenfrage‘ in Frankreich, 1940–1944, Konstanz 2010.
  3. Vgl. für eine Zusammenstellung klassischer sozialwissenschaftlicher Texte immer noch Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln 1968, sowie die von Renate Mayntz verfasste Monographie: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 4., durchges. Aufl., Heidelberg 1997 (1. Aufl. Heidelberg 1978).
  4. Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. überarb. Aufl. Leipzig 1924 (1. Aufl. 1895), S. 7.
  5. Wolfgang Hellmich, Bürokratie muss nicht bürokratisch sein, in: Neue Züricher Zeitung, 11.1.2017; Florian Meinel, Unterschätzt die Bürokraten nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.1.2017; André Kieserling, Wer sattelt den Amtsschimmel?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.1.2017.
  6. Siehe für eine ausführliche Darstellung: Ulrike Berger / Isolde Bernhard-Mehlich, Die Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie, in: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, 6., erw. Aufl., Stuttgart 2006, S. 169–214.
  7. Schon diese „Archäologie des verwaltungswissenschaftlichen Wissens“ ist eine große Leistung des Buches auch deshalb, da Seibel die Klassiker der Verwaltungswissenschaft stets mit Fokus auf diejenigen Konzepte darstellt, die auch heute unser Nachdenken über Verwaltungen prägen. So werden mit Woodrow Wilson die Professionalität des Personals sowie die Trennung von Parteipolitik und Verwaltung als die beiden zentralen Voraussetzungen einer leistungsfähigen und verantwortlichen Verwaltung herausgearbeitet, mit Max Weber die ‚Grundkategorien der legalen Herrschaft mit bureaucratischem Verwaltungsstab‘ (Entscheiden ‚ohne Ansehen der Person‘, Aktenmäßigkeit der Verwaltung, Laufbahnprinzip gemäß Dienstalter und Leistung, regelmäßige Bezahlung des Personals u.a.), mit Henri Fayol die Vorzüge des ‚kleinen Dienstweges‘ und mit Luther Gulick zentrale Unterscheidungen der Verwaltung(swissenschaft) wie diejenige ‚flacher‘ von ‚steilen‘ Hierarchien oder die von ‚Linien‘ und ‚Stäben‘ einer Organisation.
  8. Vgl. dazu Wolfgang Seibel, Kausale Mechanismen des Behördenversagens. Eine Prozessanalyse des Fahndungsfehlschlags bei der Aufklärung der NSU-Morde, in: Der moderne Staat 7 (2014), 2, S. 375–413.
  9. Philip Selznick, TVA and the Grass Roots. A Study in the Sociology of Formal Organization, Berkeley, CA 1949.
  10. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 304–314.
  11. William A. Niskanen, Bureaucracy and Representative Government, Chicago, IL 1971.
  12. Herbert Kaufman, The Forest Ranger. A Study in Administrative Behavior, Baltimore, MA 1960.
  13. Vgl. aus der älteren und neueren Forschung etwa William A. Westley, Secrecy and the Police, in: Social Forces 34 (1956), 3, S. 254–257; Jerome Skolnick, Corruption and the Blue Code of Silence, in: Police Practice and Research 3 (2002), 1, S. 7–19; oder, skeptischer in Hinblick auf die besondere Stärke eines polizeilichen ‚Code of Silence‘ im Vergleich mit anderen Berufsgruppen im öffentlichen Dienst: Gary R. Rothwell / J. Norman Baldwin, Whistle-Blowing and the Code of Silence in Police Agencies. Policy and Structural Predictors, in: Crime & Delinquency 53 (2007), 4, S. 605–632. Für Deutschland vgl. die Überlegungen von Raphael Behr in: Warum Polizisten schweigen, wenn sie reden sollten. Ein Essay zur Frage des Korpsgeistes in der deutschen Polizei, in: Thomas Feltes (Hg.), Neue Wege, neue Ziele. Polizieren und Polizeiwissenschaft im Diskurs. Frankfurt am Main 2009, S. 25–44.
  14. Michael D. Cohen / James G. March / Johan P. Olsen, A Garbage Can Model of Organizational Choice, in: Administrative Science Quarterly 17 (1972), 1, S. 1–25.
  15. Graham T. Allison / Morton H. Halperin, Bureaucratic Politics. A Paradigm and Some Policy Implications, in: World Politics 24 (1972), 1, S. 40–79.
  16. Charles E. Lindblom, The Science of ‘Muddling Through’, in: Jay M. Shafritz / Albert C. Hyde (Hg.), Classics of Public Administration, Pacific Grove, CA 1959, S. 224–235.
  17. Vgl. Wolfgang Seibel, Behördenversagen als Sicherheitsrisiko, in: Gabriele Abels (Hg.), Vorsicht Sicherheit! Legitimationsprobleme der Ordnung von Freiheit. 26. wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Baden-Baden 2016, S. 117–130; ders. Kausale Mechanismen des Behördenversagens (Anm. 9).
  18. Vgl. Alfons Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Die Multireferentialität organisatorischer Kommunikation, in: Veronika Tacke (Hg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, Wiesbaden 2001, S. 170–191.
  19. Niklas Luhmann, Politische Soziologie, herausgegeben von André Kieserling, Berlin 2010, S. 139.
  20. Michael Lipsky, Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services, New York 1980.
  21. Vgl. für die Frage nach den Spezifika des Organisationstyps ‚Verwaltung‘ auch Peter Richter, Die Organisation öffentlicher Verwaltung, in: Maja Apelt / Veronika Tacke (Hg.), Handbuch Organisationstypen. Von der Einheit und Vielfalt von Organisationen, Wiesbaden 2012, S. 91–112.
  22. Dass auch Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme nicht auf das Postulat der Werturteilsfreiheit verpflichtet ist, sondern in einer Seibels Ansatz verwandten Anlage auf eine pragmatische Form der Sozialkritik abzielt, die stets auf einem Urteil über die wirklichen Möglichkeiten konkreter sozialer Systeme basiert, habe ich zu zeigen versucht in: Martin Weißmann, Niklas Luhmann als Kritiker des Postulats der Werturteilsfreiheit. Zum soziologisch disziplinierten Möglichkeitssinn systemtheoretischer Kritik, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 20 (2017), 2, (im Druck).
  23. Ein aktuelles und prominentes Beispiel für eine solche alltagsplausible Pauschalkritik einer als von sinnlosem Papierkram, Formalismus und ängstlichen Entscheidern geprägt charakterisierten Bürokratie sehen André Kieserling (Wer sattelt den Amtsschimmel?, Anm. 6) und Jonas Grygier (H-Soz-Kult vom 15.07.2016) in David Graebers Buch: Bürokratie. Die Utopie der Regeln, Stuttgart 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Baran Korkmaz.

Kategorien: Politik Gesellschaftstheorie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Interaktion

Martin Weißmann

Dr. Martin Weißmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bielefelder Fakultät für Soziologie und wurde dort mit einer Arbeit zur Soziologie der Polizei promoviert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Soziologische Theorie und Organisationssoziologie.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Thomas Hoebel

Grenzen der Entscheidbarkeit

Rezension zu „Schriften zur Organisation 2. Theorie organisierter Sozialsysteme“ und "Schriften zur Organisation 3. Gesellschaftliche Differenzierung“ von Niklas Luhmann

Artikel lesen

Dirk Baecker

Der Fall vom Himmel

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Artikel lesen

Leon Wolff

Im Zweifel für den Soziologen

Beobachtungen von und über Bruno Latour vor Gericht

Artikel lesen

Newsletter