Jan Philipp Reemtsma | Rezension | 17.05.2021
Verwirrte Affektpflege
Rezension zu „Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“ von Michael Rothberg
Michael Rothbergs Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonialization ist ein vieldiskutiertes Buch, veröffentlicht 2009, 2021 auf Deutsch erschienen als Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonialisierung, die Übersetzung finanziert unter anderem von der Rosa Luxemburg Stiftung und dem Zentrum für Antisemitismusforschung. Der letzte Satz des Buches lautet: „Der einzige Weg nach vorn ist der der Verstrickung von Erinnerungen.“ (S. 358) Das versteht kein Mensch. Man geht einen Weg nach vorn, der aus der Verstrickung von Erinnerungen besteht? Ein Weg besteht aus Verstrickungen und die Verstrickungen bestehen aus Erinnerungen? Gewiss, Metaphern, doch ist hinter derartig verstrickten Metaphern kein vernünftiger Gedanke zu erkennen. Nun handelt es sich um eine verkorkste Übersetzung: „Understanding political conflict entails understanding the interlacing of memories in the field of public space. The only way forward is through their entanglement.“ Also: „Politische Konflikte zu verstehen heißt, das Verflochtensein von Erinnerungen im öffentlichen Raum zu verstehen. Der einzige Weg führt durch diese Verflechtungen hindurch.“
An Übersetzungen herumzukritteln ist meist ein schales und oft schäbiges Geschäft. Übersetzerinnen und Übersetzer sind häufig schlecht bezahlt und darum in Eile. Doch auf letzte Sätze, die ein Buch in ein zitierbares Fazit verdichten sollen, achtet man gewöhnlich. Woher diese außerordentliche Unaufmerksamkeit? Selbst der Originaltext ist befremdlich. Auch da werden Metaphern zu unklaren Sprachbildern verknotet, immerhin ahnt man in etwa den Gedanken dahinter: „Im öffentlichen Raum kommen unterschiedliche ‚Erinnerungen‘ zur Sprache und die sind miteinander verbunden. Es hat keinen Zweck, sie voneinander trennen zu wollen, wenn man mit politischen Debatten weiterkommen will. Man muß sie alle ernstnehmen.“ So ungefähr. Aber „der Weg ist die Verstrickung“ lässt von einer solchen Überlegung kaum etwas ahnen.
Oder eben doch. Weil man nämlich in dem Buch – im Original oder in der Übersetzung – Seite für Seite seltsame Sätze gelesen hat, verknotete, Metaphernschutt, unklare Gedanken zu Argumentähnlichem verklebt, viele davon, die einander sehr ähnlich sehen. Weil das Buch eine erstaunliche Redundanz aufweist, hat man am Ende begriffen, worum es geht. Und das ist so trivial, dass es auf die einzelnen Sätze gar nicht mehr ankommt.
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Rothberg stellt fest, dass es so etwas wie „Erinnerungskonkurrenzen“ gibt, soll heißen: das Thematisieren von Vergangenheit erfolgt oft als politischer Streit, als Streit um Wichtigkeit und moralische Relevanz, und dieser Streit ist außerordentlich moralisch aufgeladen. Und Rothberg plädiert dafür, das alles etwas friedlicher zu gestalten. Eines zu thematisieren müsse doch nicht heißen, die Thematisierung von etwas anderem in seiner Bedeutung abzuwerten. – Gewiss doch. Ein Schelm, wer Böses dabei dächte.
Rothberg möchte (und das macht den Hauptteil seines Buches aus) zeigen, in welcher Weise die unterschiedlichen Erinnerungen ohnehin viel häufiger miteinander verbunden gewesen waren und sind; davon Kenntnis zu nehmen, sei der beste Weg aus den unfruchtbaren Kontroversen hinaus. Rothberg führt uns solche „Verflechtungen von Erinnerungen“ vor, etwa in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, wo es um den Zusammenhang von Kolonialismus und Totalitarismus geht, in Césaires Über den Kolonialismus, in einigen theoretischen und literarischen Werken (auch Filmen), die Kolonialismus und Holocaust auf unterschiedliche Weise thematisieren, schließlich in der französischen Debatte um die Algerienpolitik.
Auf die verschiedenen von Rothberg untersuchten Werke und seine Interpretationen muss man nicht eingehen. Ganz gleich, für wie plausibel man seine Darstellungen hält, der Grundmangel ist, dass er die, sagen wir mal: diskurspolitische Bedeutung der einzelnen Thematisierungen nicht analysiert. Weder im Detail noch im Allgemeinen. Die einzelnen Texte haben wenig miteinander zu tun. Zwar lässt sich alles zusammenbringen, wenn man eine einleuchtende Idee hat, die solchen Zusammenhang stiftet. Diese Idee ist bei Rothberg aber nur die konstatierte Erinnerungskonkurrenz. Was heißt denn Erinnerungskonkurrenz? „Erinnerungskonkurrenz“ ist ein Pseudobegriff, der dieses Buch möglich macht. Nicht nur dieses Buch, sondern alles mögliche aufgeregte Gerede. Wenn Frantz Fanon sagt, der Holocaust sei etwas wie eine Querele innerhalb der „weißen Familie“, ist seine Behauptung etwas ganz anderes als Arendts Versuch einer historiografischen Deutung des modernen Totalitarismus; wenn Sartre in seiner Rezension von Henri Allegs La Question seine Leser fragt, ob sie es ertrügen, dass französische Soldaten und Polizisten Menschen ebenso zum Schreien brächten wie die Gestapo im besetzten Paris, ist seine Rückfrage etwas anderes als der Streit um die „Singularität des Holocaust“ (der seinerseits kein Phänomen ist, das unter ein so fragwürdiges Rubrum[1] gebracht werden sollte).
Nun ist diese Etikettierung „Erinnerungskonkurrenz“ nicht einfach ein Fehler, sondern Teil des Problems, das darin besteht, dass sich die gegenwärtige Debatte (jedenfalls teilweise) genau so versteht. Diejenigen, die ein Unbehagen daran empfinden, dass hier eine extreme Affektaufladung ohne wirklichen argumentativen Hintergrund statthat, begrüßen Rothbergs Buch als Ausweg aus ihrer Verwirrung, den es allerdings nicht bietet.
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Die Frage, ob es etwas wie kollektive Erinnerung(en) gebe, ist die falsche. Die Frage ist, ob die unterschiedlichen Vergangenheitsbezüge von unterschiedlichen Kollektiven – vom in Stein gehauenen oder mündlich tradierten Mythos über die Historiografien von der Antike bis heute, Kirchenbücher und Akten der Standesämter, Folklore, Museen, Denkmäler, Memoiren dieser und jener Art, bis hin zu Romanen, Gedichten, Parlamentsreden etc. – sinnvoll mit der Metapher[2] „Erinnerung“ zu einem Gesamtphänomen gebündelt werden. Was dadurch verloren geht, ist klar: Unterscheidungsvermögen. Was man wohl gewonnen hat, ist zweierlei: die Lizenz zur Undeutlichkeit und die Möglichkeit zur affektiven Aufladung.
Wenn jedweder Vergangenheitsbezug eine Erinnerung ist, ist jeder Vergangenheitsbezug gleichwertig. Auch die falsche Erinnerung, im Reden vom individuellen Erinnerungsvorgang noch von Bedeutung, löst sich im metaphorischen Gebrauch auf. Die Frage, wieviel Propaganda und Lüge in den Aufzeichnungen des Las Cases über seine Gespräche mit Napoleon auf St. Helena steckt, ist in der Rede von der kollektiven Erinnerung von wenigstens minderer Bedeutung, und auch die Beispiele von Wehrmachtssoldaten, die sich der Exekution verbrecherischer Befehle verweigert haben und daraufhin hingerichtet wurden à la „Schießen Sie oder ich stelle Sie daneben an die Wand“, sind, obwohl ohne Realität, Teil eines kollektiven Gedächtnisses bis in die 1990er-Jahre. Solche Geschichten verschwinden nicht, weil sich herumgesprochen hat, dass sie legitimatorische Falsifikate waren, sondern werden von „anderen Erinnerungsgehalten überschrieben“ (oder so ähnlich).
Der Aufstieg von „erinnern“ zur Universalmetapher führt auf der Gerede-Ebene dazu, dass „sich erinnern“, „erinnern an“, „einer Sache gedenken“ zunehmend gleichbedeutend werden, Gedenkstätten heißen nun „Erinnerungsorte“, sodass man sagen kann: „Die Gedenkstätte XY dient der Erinnerung an die ***.“ Das ist mittlerweile Nachrichtenjargon. Im Englischen geht es wohl ähnlich durcheinander.
Die Rede von den kollektiven Erinnerungen hat vergessen lassen, dass „sich erinnern“ und „vergessen“ zwei Seiten desselben Vorgangs sind. Aber im alles zudeckenden Gerede vom „Erinnern“ ist es positiv besetzt, gestützt durch redensartliches Zeug wie: Wer sich der Vergangenheit nicht erinnere (oder: „die Vergangenheit nicht erinnere“), sei verurteilt, sie zu wiederholen (ein wohl fälschlich Tagore zugeschriebener Unfug). Warum vom „Erinnern“ als einer Tugend und als etwas gesprochen wird, was man ins Feld führen kann, um den eigenen Ort in der Welt moralisch zu konnotieren, liegt nicht auf der Hand.
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Der „Fall Wilkomirski“ zeigt ein globales Mentalitätsdesign in einer Nussschale. Der Status des Opfers wurde von einer verschwiegenen, peinlichen, tabuisierten Angelegenheit zum Ausweis höherer Moralität. Wilkomirski nannte sich der Verfasser eines Buches, in dem er die Erinnerungen an seine Vergangenheit, die er als kleines Kind in einem deutschen Vernichtungslager er- und überlebt hatte, beschrieb, Erinnerungen, die ihm bei einer Psychotherapie gekommen waren. Das Buch erregte internationales Aufsehen, erhielt Preise, dem Verfasser wuchs eine Aura von Quasiheiligkeit zu. Bis Recherchen zutage förderten, dass der Verfasser, ein Schweizer namens Doesseker, zwar eine zweifellos äußerst belastende Kindheit durchlebt hatte, allerdings nicht diese.
Das Interessante an dem Fall war, dass er ein bekanntes Schema umkehrte. Freud beschrieb im Familienroman der Neurotiker die Fantasie, man sei nicht Kind des eigenen Vaters, sondern Resultat der Begegnung der Mutter mit einem Prinzen auf der Durchreise.[3] Doesseker gewinnt Ansehen nicht durch die Erdichtung einer edlen Herkunft, sondern durch die veröffentlichte Fantasie eines kindlichen Schicksals, wie es schrecklicher kaum möglich ist. Die Resonanz verdankt sich der internationalen Auf-, ja Umwertung des Status, ein Opfer zu sein.[4] Jahrhundertelanges Leben unter Diskriminierung und Tabu wandelte sich in wenigen Jahrzehnten zu einem erstrebenswerten Attribut, der Kampf um Anerkennung von Leid wurde zum Wettkampf um das schlimmste Leid der Vergangenheit, die diskriminierendste Gegenwart.
Wer leidet oder gelitten hat (oder Vorfahren hat, die gelitten haben), gehört zu den Guten, wie auch der Besucher der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht meinte, als er ins Gästebuch schrieb, sein Großvater könne keine Verbrechen begangen haben, er habe in Russland doch gelitten.
Zum Gebrauch des Wortes „Erinnerung“ als Universalmetapher gehört, dass es nahelegt, der Auf- oder Ausbau einer Opferidentität sei im Spiel. Was man unter „konkurrierende Erinnerungen“ rubriziert, sind potenziell „konkurrierende Opfererzählungen“. Was konkurriert da? Man nehme den Begriff „Genozid“, der dazu gedacht war, kein neues, jedoch neu zu definierendes Verbrechen zu bezeichnen. Die Karriere des Begriffs führte dahin, Genozid als das schrecklichste denkbare Verbrechen aufzufassen, sodass es möglich wurde, einen Streit darüber, ob etwas „Genozid“ genannt werden sollte, als einen über das Verbrechen selbst aufzufassen, als leugnete jemand mit dem Begriff das Leid und das Verbrecherische. Und weil das so ist, ist bereits die Diskussion ein Versuch der Delegitimierung der öffentlichen Präsenz einer kollektiven Leiderfahrung.
Vergangenheitsthematisierungen werden zu Erinnerungen, Erinnerungen werden zu etwas per se Positivem, weil es Erinnerungen an vergangenes Leid sind, und jedes Leid bedarf der Anerkennung und – weil es auf dem öffentlichen Markt stattfindet – der Anerkennung als „das Schlimmste“. Der öffentliche Umgang mit dem Holocaust hat sowohl Standards gesetzt wie die fixe Idee etabliert, dass alles, was nicht in Beziehung zu ihm – dem Ereignis und dem Gedenken – gesetzt wird, in der eigenen Bedeutung als „weniger“ abgewertet wird.
Die Rede von der „Singularität des Holocaust“ ist als Beschwörungsformel hohl, auch die „Präzedenzlosigkeit“ ist ein hilfloser Ersatz. Das Nämliche gilt vom Mantra der Ursünde des Kolonialismus. Es sind Beschwörungsformeln, an denen nicht zuletzt problematisch ist, dass sie in dem Streit um das Schlimmste nur den Affektbeitrag markieren. Argumentativ ist hier sowieso nichts auszurichten. Es geht um Affekte, die sich auf den jeweiligen Ort in der Welt beziehen, den die Streitenden meinen behaupten zu müssen. Klarheit in der Sache einzuklagen, ist oder wäre sinnlos. Das alles zu beschreiben und zu analysieren wäre lohnend, nur kann man sich, wenn es gemacht würde, nicht auf Rothberg stützen. Die verkorkste Übersetzung des letzten Satzes seines Buches zeigt, worum es geht: Der Weg geht nicht durch etwas hindurch, sondern ist tatsächlich Stillstand in einem Zustand verwirrter Affektpflege.
Fußnoten
- Immer dann, wenn jemand, der von „Einzigartigkeit“ spricht, dieses plausibel erläutert, wird deutlich, dass „Einzigartigkeit“ ein falsches Wort ist.
- Aleida und Jan Assmann haben sich dagegen gewehrt, dass hier von Metaphorik gesprochen wird. Nun ist – beziehungsweise war – „Erinnern“ ein einigermaßen klar bestimmter Begriff, nämlich für die Art und Weise, in der Individuen Vergangenheitsbezug herstellten. Spricht man demgegenüber nun von „kollektivem Erinnern“, handelt es sich um Metaphorik, was sonst. Jan Assmanns Einwand, auch individuelles Erinnern sei durch die Muster kollektiver Vergangenheitsbezüge geprägt (Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2018, S. 47), ist von der „Indianer haben Zöpfe, Kant hatte einen Zopf, also ist Kant ein Indianer“-Logik. Dass eine Metapher durch konventionalisierten Gebrauch Begriffsähnlichkeit annehmen kann, steht auf einem anderen Blatt.
- Jean Paul hat daraus seinen Roman Der Komet (1820) gemacht.
- Ausführlich hierzu Winfried Hassemer / Jan Philipp Reemtsma, Der kulturgeschichtliche Hintergrund des veränderten Blicks auf das Opfer, in: dies., Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, München 2002, S. 30–46; Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 488–493; ders., Täterstrafrecht und der Anspruch des Opfers auf Beachtung, in: ders., Helden und andere Probleme, Göttingen 2020, S. 251–271.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Affekte / Emotionen Erinnerung Geschichte Kolonialismus / Postkolonialismus
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