Roy Karadag | Literaturessay |

Viel Chaos, kaum Kausalität

Literaturessay zu „Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert“ von Gilles Kepel

Gilles Kepel:
Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert
übers. von Jörn Pirnow
Deutschland
München 2021: Antje Kunstmann
360 S., 26,00 EUR
ISBN 978-3-95614-460-8

Wo kommt eigentlich all das Chaos her, möchte man fragen. In und mit dem Menschen, Regierungen, Aktivistinnen und Oppositionelle, Arme und Reiche, Religiöse und Atheisten im Nahen und Mittleren Osten seit Jahren leben müssen und die zugleich Beobachterinnen, ob akademisch und politisch interessiert oder, wie größtenteils, ignorant, in und außerhalb der Region so bewegt und verstört. Es sind ja nicht nur Eindrücke, die Autorinnen nach den Gesetzmäßigkeiten digitaler Aufmerksamkeitsökonomien großschreiben, wenn sie sich dieser Region widmen. Die Liste der zu berücksichtigenden Ereignisse und Dynamiken ist tatsächlich lang: Kriege und Bürgerkriege in Syrien, Jemen und Libyen, Kämpfe und Hass zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen türkischem Staat und kurdischen Organisationen, vielfältige Externalisierungen der Gewaltkonflikte, militärische Interventionen durch selbsternannte Stabilitätsanker und deren internationale Unterstützer, das Scheitern von einem demokratischen Aufbruch nach dem anderen und die bislang vergeblichen Bemühungen zivilgesellschaftlich zentrierter Bewegungen, auch nur ansatzweise Institutionen mit Transparenz und Rechenschaftspflicht zu erkämpfen, lassen Aktivisten wie Intellektuelle gleichermaßen ratlos bis erschüttert zurück.

Dazu kommen die harten sozioökonomischen Realitäten und die Zunahme von Ungleichheiten jeglicher Art in den letzten Jahrzehnten. Breite Bevölkerungsschichten müssen sich im Erwerbsleben in einer Gemengelage aus formal regulierten Märkten und gleichzeitig ungezügelten faktischen Privatisierungen durchschlagen. Mit Geberstaaten und internationalen Finanzinstitutionen ausgehandelte Austeritätspolitiken tun das ihrige, um die Handlungsmacht der Bevölkerungen über die Austrocknung ihrer Lebenschancen zu beschneiden. Darüber hinaus verschärfen sie bestehende soziale Konflikte, lassen sich meistens nur mit dem Einsatz von Gewalt und Repression umsetzen und berühren die Legitimität und Autonomie der politischen Institutionen. Dass solche Krisendynamiken nicht vereinzelt auftreten, sondern schon lange zyklischen Charakter angenommen haben, ist sicher in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die regionalen Ökonomien strukturell von internationalen Energie- und Nahrungsmittelpreisen abhängig sind.

Zu diesem desillusionierenden Gesamtbild kommt hinzu, dass die Geschichte der nahöstlichen Staaten und ihrer Konflikte bis auf sehr wenige Ausnahmen keine erfolgreichen Konfliktregelungen oder gar -lösungen hervorbringen konnten. Und es kommt hinzu, dass trotz Kenntnis um die notwendige Rolle demokratischer Mobilisierungen und die notorische Krisenanfälligkeit von Autokratien auch nach den vorerst gescheiterten Umbrüchen seit den Aufständen und Rebellionen von 2010 kaum noch jemand weiß, wie sich unter den gegebenen Umständen demokratische Institutionen ausbilden und etablieren lassen. Auch die späteren Aufstände etwa in Algerien und im Sudan brachten dort noch keine tragfähige Demokratie. Und selbst im vermeintlichen Musterland Tunesien führte die Kombination aus anhaltender sozioökonomischer Krise und parlamentarischem Stillstand zu einem derzeit stattfindenden Selbstputsch unter Präsident Kais Saied.[1]

Zwar gibt es durchaus Rezepte und Vorschläge für mehr und bessere ökonomische Entwicklung, Wohlstand und Inklusion, Fortschritt und Gerechtigkeit, ob in ganz groß angelegten Programmatiken oder in klein und lokal zu realisierenden Projekten. Jedoch konnte nichts davon bislang spürbare Langzeiteffekte zeitigen. Wenn es überhaupt dazu kommt, dass solche Projekte sichtbar und als transformativ anerkannt werden, geschieht dies höchstens in den zahlungskräftigen Golfmonarchien. Aber auch dort lassen die erwarteten politischen Folgen, die zu mehr Öffnung und Liberalisierung führen sollen, auf sich warten.

Angesichts dieser sozioökonomischen und geopolitischen Gemengelage gibt es derzeit kaum ein Gegenmittel gegen die Politisierungen von Religion auf der einen Seite und gegen die Sakralisierungen von Politik, Öffentlichkeiten und Konflikten auf der anderen. Selbst wenn die vergangenen Islamisierungen von Gesellschaft und Alltag weitreichende Desillusionierungen zur Folge hatten und in den letzten Jahrzehnten die Anzahl von Säkularen und gar Atheisten, die auch öffentlich in Erscheinung treten, stark zugenommen hat, übersetzt sich dieser zaghafte soziokulturelle Wandel bisher kaum bis gar nicht in den politischen Prozess und seine Institutionen. Die Beschlüsse der Übergangsregierung in Khartum vor dem dortigen Militärputsch (25. Oktober 2021) zur Trennung von Staat und Religion sind da leider eine die Regel bestätigende Ausnahme. Es gibt in der ganzen Region schlichtweg noch zu viele Anlässe, übergreifende gesellschaftliche Zustände und große historische Entwicklungen vornehmlich religiös zu deuten (ob nun religionsbewahrend oder religionskritisch), religiös inspirierte Ordnungen zu erkämpfen und dabei sich selbst und die eigenen Ambitionen, Politiken und Kämpfe religiös zu verklären. Mit all den unvermeidlichen negativen Folgen.

Der Nahe Osten in der Ära Trump

Damit sind wir mittendrin in Gilles Kepels Buch „Chaos. Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen“ von 2018. Kepel ist ein überaus renommierter Politikwissenschaftler an den Pariser Eliteschmieden Sciences Po und École Normale Supérieure, der die europäischen Debatten über Islam und Islamismus im Nahen und Mittleren Osten sowie in Europa entscheidend prägt. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er mit „Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert“ die Fortsetzung seines Buches von 2018. Sie analysiert das erste Jahr der Covid-19-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die bestehenden chaotischen Konfliktdynamiken. Das neue Buch ist eine verdienstvolle Ergänzung, denn zwischen 2018 und dem Ende des Untersuchungszeitraums im März 2021 kam es in der Tat zu mehreren nennenswerten Ereignissen und Prozessen, die neuer Erklärungen bedürfen: Die Abraham Accords zwischen Israel, den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Donald Trumps und Jared Kushners fragwürdige Vision einer neuen und besseren Rolle Israels in der Region, die Eskalationen im Gasstreit im östlichen Mittelmeer, der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Nagorny-Karabach, die religiöse Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul (24. Juli 2020), die Hafenexplosion in Beirut (4. August 2020) oder die innerlibyschen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Tripoli-Regierung und den Haftar-Milizen. Dazu kommen die Ausweitung der Jemen-Kampfzone durch den Raketen- und Drohnenbeschuss Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate und schließlich auch die Verbreitung eines neuen Typus islamistischer Terroranschläge in Europa.

Was sieht Kepel in all diesen Dynamiken? Und was ist neu für ihn an diesem spezifischen Chaos? Für Kepel zeigt sich in all diesen Ereignissen nichts weniger als eine Allianz von zwei bislang voneinander getrennten und sich teilweise in Gegnerschaft befindenden islamistischen Achsen: die Allianz von Muslimbrüdern und Schiiten. Zumindest in der gegenwärtigen Konsequenz habe es die Welt laut Kepel bisher noch nicht mit einer solchen strategischen Partnerschaft gegen das pro-westliche Lager zu tun bekommen, welche als Mitglieder so verschiedene Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Israel in sich vereint. So bemüht sich der Autor zu erklären, warum Staaten wie Türkei und Iran miteinander kooperieren, obwohl sie nicht ins gleiche ideologische Raster fallen, warum in Syrien trotz gegensätzlicher Interessen eine gemeinsame Achse gegen den Westen und seine Stellvertreter agiert, die die über Jahrhunderte gefestigte Trennung von sunnitischem und schiitischem Islam(ismus) gleichsam vom einen auf den anderen Tag aufheben konnte. Bei allen Nuancen und allem zusätzlichem „Chaos“ ist diese Allianz die entscheidende Akteurin des Buches. Sie gilt es, präzise darzustellen und zu erklären, ihre Folgen gilt es zu abzuwägen und einzuschätzen.

Diese Allianz konnte aus Sicht des Autors einen solchen bedrohlichen Einfluss entfalten, weil Staaten wie Türkei und Katar nach den revolutionären Umbrüchen von 2010 Teil der Muslimbrüder-Allianz wurden. Beide machten sich nach 2010 die Öffnung der arabischen Regime und die auch damit einhergehende neue Entfaltung von islamistischen oppositionellen Gruppen zunutze, um das Verhältnis von Islam und Demokratie, Glaube und Fortschritt, kultureller Authentizität und Autonomie im regionalen Systemwettstreit neu zu artikulieren. Die Zerschlagung der Muslimbrüder als parteipolitische Macht in Ägypten hat solche Ambitionen vermeintlich zunichtegemacht. Für Kepel hat das der Gefahr einer islamistischen Unterwanderung durch Muslimbrüder-Netzwerke jedoch keinen Abbruch getan, da die simultane Schwächung des Wahhabismus unter Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien eine Lücke im religiösen Systemwettstreit hinterlassen habe, „und in diese versuchte sofort [sein] wichtigster Rivale im Herzen des politischen Islam vorzustoßen, die nebulöse, transnationale Muslimbruderschaft.“ (S. 22) Die islamistische Internationale, bestehend aus Muslimbrüdern und allerhand Schiitenallianzen, lebt gleichsam davon, dass sich ihre Mitglieder in der Zurschaustellung ihrer islamistischen Haltung und Auslegung gegenseitig zu überbieten versuchen, was die Religionspolitik Erdoğans und seine offene Unterstützung der Hamas gegen die Abraham Accords ebenso erklärt wie die militärische Unterstützung der Hamas durch Iran (mit seiner „Strategie des schiitischen Halbmonds“, S. 145): „Die Vereinbarung zwischen Ankara, Doha und Teheran, den Chef der islamistischen Palästinenserbewegung über die zwischengeschaltete Hisbollah in den Vordergrund treten zu lassen, gehört zur Strategie der Achse, mit der sie auf das Abraham-Abkommen reagiert.“ (S. 143 f.) Allerdings bemerkt Kepel gleich im Anschluss einschränkend: „Eine der scheinbar widersprüchlichsten Konsequenzen daraus ist, dass Katar, der wichtigste Geldgeber der Hamas, ausgerechnet von Israel zur Finanzierung der Palästinenser ermutigt wird, das die Hamas doch zur Terrororganisation schlechthin erkoren hat!“ (S. 144) Und etwas später: „Das Geld aus Doha dient dem verarmten und überbevölkerten Gaza als Schutzwall, der die Zahlungsfähigkeit garantiert. Nur dank dieser Mauer ist Israel derzeit von der unausweichlichen Explosion der tickenden Zeitbombe geschützt.“ (S. 152)[2]

Glaubenskrieg oder Machtkampf?

Kepels passionierte Betrachtung des sogenannten Abraham-Abkommens führt dabei zu teils subtilen Bedeutungsverschiebungen, aber häufig nicht unerheblichen Bedeutungsverwischungen bei seiner Darstellung der Allianzen. Kepel urteilt: „Abgesehen von den persönlichen Vorteilen des Abkommens für ‚Bibi‘ beendete es den Status des ‚israelisch-arabischen Konflikts‘ als alleinigen strukturierenden Faktor des Nahen Ostens“ (S. 71). Diese Ansicht beherrscht jedoch schon seit einigen Jahrzehnten, spätestens seit den Ölpreisrevolutionen der 1970er-Jahre und den Golfkriegen, nicht mehr den Blick auf die Region – zumindest wird der Konflikt von kaum jemandem noch als alleinige strukturierende Kraft aufgefasst. Dazu kommen etwas vorschnell und oberflächlich gefällte Urteile, was die Zustimmung zum Abkommen betrifft. In allen vorangehenden arabischen Kalten Kriege galt allein die geopolitische Zugehörigkeit als Faktor der Positionierung, ungeachtet ideeller Überzeugungen oder Übereinkünfte mit dem Hegemon. Konkret heißt das: Regierungen in Beirut, Amman und anderswo waren nicht im proamerikanischen Lager, weil sie sich dort ideologisch gut aufgehoben sahen, sondern weil sie realpolitische Entscheidungen trafen, die ihren Machtinteressen und Bedrohungswahrnehmungen entsprachen. Bei Kepel gilt solch eine Unterscheidung scheinbar auf einen Schlag nicht mehr, was sich unverblümt zeigt, wenn in den kartografischen Darstellungen alle Staaten jenseits der Muslimbrüder-Schiiten-Achse als Unterstützer des Abraham-Abkommens gekennzeichnet werden. Dabei ist dies nicht die erste und sicher auch nicht die letzte Friedensinitiative einer US-Regierung, welche den eigenen Führungsanspruch besiegeln soll, ohne zu tatsächlichem Frieden, geschweige denn zur Gründung eines palästinensischen Staates zu führen.

Auch die Passage zu den Beziehungen zwischen Israel und Katar verkennt, dass die staatlichen Akteure der Region seit jeher zu äußerst flexiblen Ausrichtungen in der Lage sind, dass die Einnahme von Vermittlungspositionen in den zahlreichen militärischen Konflikten zu einer Machtfrage und zu einem Herrschaftsinstrument geworden ist und dass Israel in diesem Geflecht an Allianzen bereits seit Jahrzehnten einen festen Platz hat. Dass die sozialen und finanziellen Kosten von Besatzung und Isolierung der Palästinenserinnen von in der Region aktiven Lagern getragen werden, die EU und USA eher für Westjordanland und die Fatah, die Golfmonarchien für Gaza, ist längst Normalität, ungeachtet der Tatsache, ob solche bemerkenswerten Praktiken israelischen Haltungen zum Kooperationstabu mit vermeintlichen oder tatsächlichen Terrororganisationen zuwiderlaufen oder nicht. Hier überbieten Macht- und Realpolitik sowie das Mitspielenwollen in schnell sich wandelnden Allianzen die vermeintliche Vorherrschaft von islamistischen und Muslimbrüderideologien.

Mit den außenpolitischen Richtungswechseln der Türkei seit Erscheinen von Kepels Buch verhält es sich im Grunde nicht anders. Denn hier zeichnet sich eine teilweise Aussöhnung mit den ehemaligen Gegenspielern Ägypten und Saudi-Arabien ab und damit auch die Aussicht, dass die Türkei die ägyptischen Muslimbrüderexilanten aufgeben und ihre politischen Interessen nicht mehr verteidigen wird. Vorbei ist auch die Blockade Katars durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Das deutet erstens darauf hin, dass bei der Suche nach politischer Vormachtstellung in der Region niemand mehr an Akteuren wie Saudi-Arabien und Ägypten vorbeikommen wird. Sie werden die Rolle der Bewahrer regionaler Ordnung und Stabilität verteidigen und vermutlich beibehalten. Zweitens zeigt es, dass die Region keinen Platz für dauerhafte ideologische und religiöse Allianzen bietet.

Selbstverständlich gibt es temporäre Interessenkonstellationen. Aber Erdoğan war niemals nur irgendein zufälliger Akteur, ein blinder Anhänger der Muslimbruderschaft oder gar ein Spielball in einer von letzterer dominierten Allianz. Türkische Islamisten verfolgen ihre ganz eigenen Ziele, müssen sich im Staatenwettbewerb auf andere Art behaupten als ihre Konkurrenten und Machtchancen machiavellistisch nutzen, wie sie sich ergeben. Dabei kommt auch das Fabrizieren ganz neuer Machtchancen nicht zu kurz. Doch nicht immer gelingt das. Oder nur kurzfristig, für ein paar glückliche Jahre, bis zur nächsten nicht vollständig voraussag- oder kontrollierbaren Machtverschiebung. In den 2000ern basierte die regionale Vorherrschaft der Türkei im Wesentlichen darauf, als einziger Staat und NATO-Mitglied weitgehend ungebunden zwischen den beiden Blöcken verhandeln und handeln zu können,[3] ohne selbst Wetteinsätze im arabischen Spiel haben zu müssen. Die Kriege in Syrien, Jemen und Libyen boten wiederum neue Entfaltungsmöglichkeiten, ebenso wie es die russische Rettung der Assad-Herrschaft ab 2015 und die Trump’schen Nahost-Visionen taten. Der aktuelle türkische Umschwung und die Aussöhnung unter den Golfstaaten sprechen gegen Kepels Auffassung einer anpassungsfähigen islamistischen Internationale. Für Kepel könnte man immerhin ins Feld führen, dass die türkische Umorientierung schlicht der eigenen anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise geschuldet ist, die das Land abhängiger von regionalen Finanzströmen gemacht hat, was durch ökonomische Negativfolgen der Covid-Pandemie weiterhin verstärkt wurde.

Das Buch beinhaltet eine problematische Rahmung. Sie vermittelt die Auffassung, die Verhältnisse in der Region seien einst stabiler gewesen, als der Westen noch stärker in sie involviert war und sich aus dem Wettbewerb zwischen den Staaten noch nicht zurückgezogen hatte. Gleich im Prolog heißt es demnach, der von den Präsidenten Obama und Trump eingeleitete Rückzug aus der Region habe eine „außergewöhnliche destablisierende Phase“ eingeleitet (S. 14). Dies steht im direkten Widerspruch zu Äußerungen kurz zuvor, in denen Kepel ausführt, welche verheerenden Bürgerkriegsdynamiken schon lange herrschten und wie katastrophal erfolglos die US-geführten Kriege in Afghanistan und Irak zu bewerten sind. Zu welchem Zeitpunkt also unter westlicher Führung der Region und ihrer Staaten mehr Stabilität und Sicherheit erreicht wurde, ergibt sich schon aus Kepels eigener Darstellung nicht. Es scheint zwar schon zu Beginn des Buches eine diffuse Sehnsucht nach mehr westlicher Führungsstärke und einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie der Europäischen Union durch (S. 15), aber wie diese konkret aussehen soll und aussehen könnte, wird auch nach Beendigung der Lektüre nicht ganz klar.

Gut gelungen wiederum sind die Analysen und Zusammenstellungen von terroristischen Anschlägen und Attentaten auf europäischem Boden, die überzeugend darlegen, auf welchen Wegen die Verwerfungen und Krisendynamiken in die Lebenswelt westlicher Gesellschaften durchschlagen. Dass für islamistische Gewalt in Europa keine straff strukturierten Organisationen und sonstigen unterstützenden Elemente mehr notwendig sind, sondern der Nährboden längst durch individuelle Überzeugungen und religiöse Motive ausreichend angereichert ist, zeigt die erschütternde Auflistung von Anschlägen aus dem Jahr 2020: das gescheiterte Attentat gegen Personen in den ehemaligen Räumlichkeiten der Charlie-Hebdo-Redaktion (25. September), die brutale Ermordung des Lehrers Samuel Paty (16. Oktober), die Ermordung von drei Personen in der Basilika Notre-Dame de l’Assomption in Nizza (29. Oktober), der Anschlag in Wien am 2. November mit vier Toten und Dutzenden Verletzten. 2021 folgten Anschläge mit Todesfolgen in Rambouillet (23. April) und Würzburg (25. Juni). Für diese neue Gewaltform findet Kepel den Begriff Stimmungsterrorismus (jihadisme d’atmosphère). Dieser stellt für hiesige Sicherheits- und Geheimdienstapparate eine ganz neue Herausforderung dar, da sich solche individuellen religiösen Radikalisierungen ohne starke Netzwerkunterstützung und ohne komplizierte Muster von Geld- und Waffenbeschaffung (alle hier präsentierten Attentate wurden mit Messern ausgeführt) kaum überwachen und verhindern lassen. Die ausführliche Darstellung der Motive der Attentäter und ihr Rückbezug zu den im Buch behandelten regionalen Gewaltkomplexen sowie der Rolle von islamistischen Organisationen gehört zu den gelungensten Passagen.

Schwache Kausalität, starke Deskription

Das Fazit dieser Besprechung muss also einigermaßen uneindeutig ausfallen. Einerseits gelingt es Kepel, auf eindrückliche Weise die verschiedenen Konfliktfelder in und außerhalb der Region des Nahen und Mittleren Ostens miteinander zu verbinden und auf einen einheitlichen analytischen Rahmen zu beziehen. Andererseits wünscht man sich von einem Buch eines derart renommierten Autors, selbst wenn es eine breitere Leserschaft adressieren möchte, nuanciertere Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen plausiblen Deutungen von Islamismus, regionalem Staatenwettbewerb und Gewaltdynamiken, die sich derzeit anbieten. Unerklärlich bleibt – zumindest in der deutschen Ausgabe – das Fehlen von Quellenangaben und Bibliografie, wodurch oft überhaupt nicht ersichtlich ist, gegen wen und wessen Argumente und Erklärungen sich Kepel konkret richtet. Überhaupt schweben seine Ausführungen oft über verschiedenen in der Regionalforschung geteilten Auffassungen und Konzepten und Debatten, aber wie sie zusammenhängen, wird überhaupt nicht ersichtlich, am wenigsten für fachfremde oder gar nichtakademische Leserinnen. Seitenhiebe gegen Olivier Roy sind das einzige Anzeichen für einen direkten Austausch mit einem anderen Akteur des Feldes, seine These einer „Islamisierung der Radikalisierung“ (S. 239), die die rapide Zunahme islamistischer Anschläge in Europa erklären soll, verwirft Kepel durchaus nachvollziehbar.

Weitaus grobschlächtiger und ungerechtfertigter ist da schon der Rundumschlag im Abschnitt „Der Konkurs der Arabistik und die westliche Unwissenheit angesichts des Islamismus“ (S. 255 ff.). Hier widmet sich Kepel nicht, wie man hätte annehmen können, wichtigen disziplinären Debatten. Stattdessen verknüpft Kepel lediglich ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat von Roy mit dem Fehlen einer effektiven arabischsprachigen Kommunikationsstrategie des französischen Präsidialamts. Allein das führe laut Kepel dazu, dass sich Macrons Warnung vor der Gefahr eines islamistischen Separatismus sowohl von muslimischen Organisationen als auch der internationalen Presse als islamophob auslegen ließ, weil von beiden so im Handumdrehen aus „islamistisch“ „islamisch“ gemacht werden könne (S. 257). Diese gegnerische „breite Front, die vom Obersten Führer Chamenei bis hin zur Financial Times“ (S. 256) reiche, denunziere den französischen Laizismus auf unfaire Art und Weise, unterstützt von „Islamo-Linksradikalen“, „Dekolonialisten“ und „Intersektionalisten“, die „jede kritische Annäherung an den muslimischen Glauben untersagen“ (S. 257). Raum für eine kritische und öffentliche Auseinandersetzung mit dem islamistischen Separatismus hätte der im September 2020 begonnene Prozess gegen die Charlie-Hebdo-Attentäter liefern können, was durch den medialen Einfluss solcher Kampagnen jedoch verunmöglicht worden sei. Kepel schreibt: „Das Verfahren hätte im Kleinen eine Art Nürnberger Prozess für diese Ideologie und ihre Verbrechen werden können, doch die Pandemie und dann der Lockdown trugen das ihrige dazu bei, dass es ins Wanken geriet, bis es hinter der Nebelwand einer vielgestaltigen Kampagne gegen die ,französische Islamophobie‘ verschwand.“ (S. 259) Was das nun mit einem angeblichen Konkurs der französischen Arabistik zu tun hat und worin dieser konkret besteht, bleibt in diesen Passagen gänzlich unausgesprochen.

Dennoch: Bei allen Schwächen bleibt Kepels „Covid und Chaos“ ein überaus nützliches Werk, auch für Leserinnen, die von der Islamismus-Konzeption des Autors wenig bis nichts halten dürften. Selbst wenn die hier nachgezeichnete Kausalkette schwach ausfällt, bleibt die deskriptive Darstellung der chaotischen Konfliktdynamiken des letzten Jahrzehnts doch sehr verdienstvoll. Wer sich durch die geostrategischen Feinheiten des Nahen und Mittleren Ostens und die regionalen Allianzen in und nach der Ära Trump kämpfen möchte, hat mit diesem Buch jedenfalls eine hilfreiche und wichtige Ressource zur Hand.

  1. Unerwartet siegreich aus den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 hervorgegangen, wurde Saied in seiner Amtszeit immer mehr zum antipluralistischen und antiparlamentarischen Akteur. So ließ er das Parlament im Juli 2021 suspendieren und im März 2022 auflösen. Eine ihm hörige Regierung wurde eingerichtet und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Eine neue Verfassung wurde im Frühling 2022 ausgearbeitet, welche viel stärker auf das Amt des Staatspräsidenten zugeschnitten wurde. Am 25. Juli 2022 wurde sie der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Von den knapp 30 Prozent Teilnehmenden haben sich laut offiziellen Angaben 94,6 Prozent für die Annahme des Entwurfs ausgesprochen.
  2. Auch die Überbevölkerung Gazas lässt sich nicht einfach als kontingente Erscheinung beschreiben, sondern ist vielmehr als Resultat einer Vielzahl ausagierter Taktiken und Strategien verschiedener Akteurinnen zu verstehen, „denn die vorherrschende islamistische Ideologie ermutigt die Bewohner zu Kinderreichtum, will sie mit diesem demografischen ‚Geburten-Dschihad‘ doch eines nicht so fernen Tages den jüdischen Staat überschwemmen“ (S. 144).
  3. Vgl. André Bank / Roy Karadag, The „Ankara Moment“. The Politics of Turkey’s Regional Power in the Middle East, 2007–11, in: Third World Quarterly 34 (2013), 2, S. 287–304.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Gewalt Globalisierung / Weltgesellschaft Macht Politik Religion Sicherheit

Roy Karadag

Dr. Roy Karadag ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen. Im Sonderforschungsbereich 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik" erforscht er die Geschichte der ägyptischen Sozialpolitik.

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