Thomas Hoebel | Nachruf | 28.08.2023
View of the World from Chicago
Nachruf auf Howard S. Becker (1928–2023)
Wer von Zeit zu Zeit auf HOWIEs home page vorbeischaute („only my mother ever called me Howard“[1]), den versorgte Howard S. Becker zuverlässig mit Neuigkeiten. So wies er zum Beispiel vor einiger Zeit auf die Textsammlung Here and There hin, bestehend aus autobiografischen, meist unveröffentlichten Essays. Sein primär von eigenen Erfahrungen geleitetes Erzählen ist dabei kein Selbstzweck, sondern fungiert vor allem als Medium, um forschungspraktische Probleme und Tricks zu erläutern.[2] Auf diese Weise beschreibt Becker äußerst plastisch, wie (Sozial-)Forschung zu einem gehörigen Teil damit zu tun hat, Serendipität zu erkennen und für sich fruchtbar zu machen: glückliche Zufälle.
Besucher:innen der Website erfuhren auch von dem Buch Performing Social Science, eine Ethnografie zweier Universitätsseminare, die Becker Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre zusammen mit Dwight Conquergood an der Northwestern University in Chicago anbot.[3] In beiden Seminaren ging es darum, auszuprobieren, ob und wie soziologische Erkenntnisse durch künstlerische Ausdrucksformen abbildbar sind – und diese experimentellen Darstellungen selbst als eine Form der Sozialforschung zu begreifen. Die Publikation enthält zahlreiche Fotos, die von seiner zweiten Ehefrau Dianne Hagaman stammen. Sie zeigen eindrücklich, wie leicht sich konventionelle Seminarräume in Theaterbühnen verwandeln lassen.
Darüber hinaus hielt Becker alle Interessierten darüber auf dem Laufenden, wann er, eigentlich seit Jahren in San Francisco lebend, wieder für einige Monate in Paris sein würde, seinem zweiten Lebensmittelpunkt im Alter. Seine dortige Telefonnummer schrieb er gleich mit dazu. Im April 2023 teilte er allerdings mit, nun doch „full-time“ in den USA zu leben, weil ihm das Reisen zu beschwerlich geworden war.
‚Chicago‘ ist in Beckers Verständnis nicht nur ein Ort, sondern eine Perspektive auf soziale Welten, die es zu erforschen gilt.
Weitere Nachrichten dieser Art wird es nun leider nicht mehr geben. Am 16. August 2023 ist Howard S. Becker in San Francisco gestorben. Er wurde 95 Jahre alt. Here and There hat ein wunderbares Titelblatt, gezeichnet im Stil von Saul Steinbergs „View of the World from 9th Avenue“ [24.8.2023], mit dem das Magazin The New Yorker selbstironisch seine letzte März-Ausgabe des Jahres 1976 aufmachte, und das heute als Posterdruck in so mancher Wohnung oder so manchem Büro hängt. Im Fall von Here and There ist die Grafik unbetitelt, ganz passend wäre aber wohl „View of the World from Chicago“ – und zwar in Richtung Pazifik und der Golden Gate Bridge mit dem Eifelturm am Horizont. In Chicago wurde Becker am 18. April 1928 geboren, dort machte er seine ersten Schritte als Soziologe und war er von 1965 bis 1991 Professor an der Northwestern University, bevor er für acht weitere Jahre an die Washington University in Seattle wechselte. Viele zählen ihn zudem zur zweiten Generation der „sogenannten“[4] Chicagoer Schule der Soziologie. Er selbst mahnte allerdings, diese vermeintliche Schule nicht als kohärentes und konsistentes Denkgebäude zu begreifen, sondern als vielgestaltige kollektive Aktivität mit diversen Beteiligten, „die zusammen Dinge tun“.[5] ‚Chicago‘ ist in Beckers Verständnis nicht nur ein Ort, sondern eine (mehr oder weniger geteilte) Perspektive auf soziale Welten, die es zu erforschen gilt.
Seine Skepsis gegenüber einem typisierenden und klassifizierenden Label wie Chicagoer Schule rührte nicht zuletzt daher, dass er sich schon früh mit „abweichenden Karrieren“ befasste. Diese sind, so stellte er fest, hauptsächlich darin begründet, dass eine gesellschaftliche Deutungsmehrheit die betreffenden Personen als deviant kennzeichnet. Derlei Zuschreibungen wirken oftmals wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen, den Bezeichneten bleibt kaum etwas anderes übrig, als sich möglichst kreativ, aber dauerhaft in einem als abweichend geltenden Leben einzurichten – aus dem sie sich kaum noch befreien können.[6] In seinem bahnbrechenden Buch Outsiders,[7] das zu den wohl bedeutendsten und einflussreichsten soziologischen Studien zählt, erörtert Becker dieses Argument in so überzeugender Weise, dass er damit den sogenannten Etikettierungsansatz in der Soziologie abweichenden Verhaltens maßgeblich mitgestaltete. Insbesondere sein hier enthaltener Aufsatz, „Wie man Marihuana-Benutzer wird“, ist ein Must-Read.[8]
Becker wurde nicht müde zu betonen, wie sehr er insbesondere von Everett Hughes, aber auch von Herbert Blumer geprägt war, die beide in Chicago lehrten. Ebenso oft nutzte er die Gelegenheit, die Leistungen anderer hervorzuheben, darunter seine Freunde Anselm Strauss und Erving Goffman. Gleichzeitig war er deutlich und klar in seinem Urteil, wenn er mit bestimmten Konzepten und Herangehensweisen nichts anfangen konnte. Ein Beispiel ist die Habitustheorie von Pierre Bourdieu, die ihm zu sehr von „tief in Individuen sitzenden Tendenzen“ ausging, bei denen er sich fragte, wie sie sich eigentlich erschließen lassen.[9] Er selbst – Stichwort Chicago – bevorzugte es bekanntlich, symbolische Interaktionen zu beobachten und sie sowohl zum Ausgangs- wie auch Bezugspunkt seiner Argumente zu machen.[10]
Becker selbst vereinte diverse Karrieren in seiner Person. Schon in jungen Jahren schlug er sich die Nächte als Jazzpianist um die Ohren, weshalb er die Soziologie fast an den Nagel gehängt hätte. Als zeitweiliger Präsident der Society for the Study of Social Problems und in seiner Zusammenarbeit mit Irving Louis Horowitz rund um die Zeitschrift Trans-action (und dem späteren gleichnamigen Verlag) war er ein öffentlichkeitswirksamer Soziologe.[11] Anfang der 1970er-Jahre lernte er fotografieren und begann, sich intensiver mit Kunst zu befassen, was nicht zuletzt in seinen kunstsoziologischen Klassiker Art Worlds mündete.[12]
Die nötigen Tricks, um nicht nur zu überzeugenden, sondern auch zu interessanten Einsichten zu gelangen, lassen sich im Grunde nur in der eigentlichen Forschungspraxis entdecken.
Spätestens ab den 1980er-Jahren betrachteten ihn dann nicht nur diejenigen, die ihm persönlich begegneten, als Mentor, sondern ebenso die vielen, die zu seinen Ratgebern griffen: zunächst Writing for Social Scientists,[13] später Tricks of the Trade[14] oder What about Mozart? What about Murder? Reasoning from Cases.[15] Unnachahmlich beschreibt Becker darin, dass Soziologie (und soziologisches Schreiben) ein erlernbares Handwerk ist, dessen Methodologie man nicht den Methodolog:innen überlassen sollte.[16] Die nötigen Tricks, um nicht nur zu überzeugenden, sondern auch zu interessanten Einsichten zu gelangen, lassen sich im Grunde nur in der eigentlichen Forschungspraxis entdecken. In Deutschland lediglich rezipiert, machte Becker vor allem in Frankreich eine vielbeachtete Karriere als Inspirationsquell für eine Generation von Sozialforschenden, die sich lieber mit sozialen Welten befassen wollten statt mit Bourdieus sozialen Feldern.[17] Es ist nur ein kleiner Trost, dass uns seine lehreichen, augenzwinkernd geschriebenen Texte weiterhin zur Verfügung stehen. Howie wird fehlen.
Fußnoten
- Adam Gopnik, The Outside Game [23.8.2023], in: The New Yorker, 5.1.2015.
- Howard S. Becker, Here and There. A Collection of Writings [23.8.2023], San Francisco, CA 2021.
- Howard S. Becker, Performing Social Science [23.8.2023], San Francisco, CA 2021. Das Buch ist zugleich eine Würdigung seines bereits 2004 verstorbenen Kollegen.
- Howard S. Becker, The Chicago School, So-Called, in: Qualitative Sociology 22 (1999), 1, S. 3–12.
- Howard S. Becker, Doing Things Together. Selected Papers, Evanston, IL 1986; sehr lesenswert dazu die Arbeit von Dagmar Danko, Zur Aktualität von Howard S. Becker. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2015.
- Howard S. Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens [1973], hrsg. von Michael Dellwing, übers. von Monika Plessner, Wiesbaden 2014, S. 44–55. Lesenswert dazu auch Jack Katz, Jazz in Social Interaction. Personal Creativity, Collective Constraint, and Motivational Explanation in the Social Thought of Howard S. Becker, in: Symbolic Interaction 17 (1994), 3, S. 253–279.
- Howard S. Becker, Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York 1963; dt. Übersetzung: ders., Außenseiter.
- Howard S. Becker, Becoming a Marihuana User, in: American Journal of Sociology 59 (1953), 3, S. 235–242; dt. Übersetzung: ders., Wie man Marihuana-Benutzer wird, in: ders., Außenseiter, S. 57–71.
- Dagmar Danko, „I try to be civil about ‚theory“‘. Interview with Howard S. Becker, in: dies., Zur Aktualität von Howard S. Becker, S. 153–170, hier S. 164 (meine Übers., T.H.).
- Sandro Segre, Howard S. Becker’s Symbolic Interactionism, in: The American Sociologist 50 (2019), 3, S. 378–386.
- Howard S. Becker (Hg.), Campus Power Struggle, Chicago, IL 1973; ders. / Irving Louis Horowitz, The Culture of Civility. Deviance and Democracy in „The City“, in: Trans-action 7 (1970), 6, S. 12–20; dies., Radical Politics and Sociological Research. Observations on Methodology and Ideology, in: American Journal of Sociology 78 (1972), 1, S. 48–66; Howard S. Becker, Whose Side Are We On?, in: Social Problems 14 (1967), 3, S. 239–247. Siehe dazu auch Thomas Hoebel, Auf wessen Seite steht Howard S. Becker? Ein Nachwort, in: Howard S. Becker, Soziologische Tricks. Wie wir über Forschung nachdenken können, übers. von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann, Hamburg 2021, S. 321–338.
- Howard S. Becker, Art Worlds, Berkeley, CA 1982; dt. Übersetzung: ders., Kunstwelten, übers. von Thomas Klein, Hamburg 2017.
- Howard S. Becker, Writing for Social Scientists. How to Start and Finish Your Thesis, Book, or Article, Chicago, IL 1986; dt. Übersetzung: ders., Die Kunst des professionellen Schreibens. Ein Leitfaden für die Geistes- und Sozialwissenschaften [1994], übers. von Hanne Herkommer, Frankfurt am Main / New York 2000.
- Howard S. Becker, Tricks of the Trade. How to Think about Your Research while You’re Doing It, Chicago, IL 1998; dt. Übersetzung: ders., Soziologische Tricks.
- Howard S. Becker, What about Mozart? What about Murder? Reasoning from Cases, Chicago, IL 2014.
- Howard S. Becker, On Methodology, in: ders., Sociological Work. Method and Substance, Chicago, IL 1970, S. 3–24.
- Howard S. Becker / Alain Pessin, A Dialogue on the Ideas of „World“ and „Field“, in: Sociological Forum 21 (2006), 2, S. 275–286; Alain Pessin, Sociologue en liberté. Lecture de Howard S. Becker, Saint-Nicolas 2004.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Interaktion Kunst / Ästhetik Methoden / Forschung
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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