Stefan Kühl | Essay |

Volkswagen ist überall

Die alltägliche Normalität der Regelabweichung

Es fällt Beobachtern im Moment schwer zu verstehen, warum der Volkswagen-Konzern durch die Manipulation der Abgaswerte seine Existenz so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat. Weswegen riskiert ein Unternehmen durch Tricksereien bei der Messung von Abgaswerten Schadensersatzforderungen und Strafzahlungen, die es finanziell ruinieren könnten? Wie konnten elf Millionen Autos manipuliert werden, ohne dass in der Konzernspitze die Alarmglocken schrillten?

Aus einer organisationssoziologischen Perspektive sind die Regelabweichungen und Gesetzesverstöße von Volkswagen alles andere als überraschend. Vergleichbares findet sich – wenn man nur genau hinsieht – in jedem Unternehmen, jeder Verwaltung, jedem Ministerium. Organisationen werden mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die nicht alle durch Entscheidungen auf der Formalebene gelöst werden können. Deswegen bilden sich in Organisationen kleine Schleichwege jenseits des offiziellen Ablaufs aus.

In der Flugzeugindustrie ist beispielsweise der Einsatz von Gewindebohrern streng verboten. Ein nachgeschnittenes Gewinde stellt eine Abweichung vom Montageplan dar, das Auswirkungen auf die Spannungen an den Tragflächen haben kann. Müsste während der Montage ein Gewinde neu gebohrt werden, könnten sich durch die Vibration des Flugzeuges während des Fluges die Schrauben lösen. Trotz des strikten Verbotes wird jedoch – wie in einer inzwischen klassischen Studie zur Regelabweichung in Organisationen gezeigt wurde – der Gewindebohrer in Flugzeugfabriken breit eingesetzt. Der Termin- und Kostendruck macht es faktisch unmöglich, den Produktionsprozess für eine offizielle Neuberechnung von Bohrlöchern durch Ingenieure zu unterbrechen. Das Interessante ist, dass trotz der Missachtung der offiziellen Regeln bisher kein Flugzeug wegen mangelhafter Statik abgestürzt ist. Für den Einsatz von Gewindebohrern haben sich in der untersuchten Flugzeugfabrik strikte, informal durchgesetzte Regeln ausgebildet. Die Arbeiter werden schrittweise an die Verwendung des Gewindebohrers herangeführt. Neue Mitarbeiter verfügen selbst nicht über Gewindebohrer, können sich aber – wenn eine Schraube nicht in eine Mutter passt – an einen erfahrenen Mitarbeiter wenden, der dann ein neues Gewinde bohrt. Erst wenn sich ein neuer Mitarbeiter anderweitig bewährt hat, darf er unter strikter Aufsicht eines erfahrenen Mitarbeiters selbst Gewinde bohren. So wird sichergestellt, dass das eigenmächtige Bohren von Gewinden nicht überhandnimmt und dass die bewährte illegale Praxis nicht durch einen Flugzeugabsturz gefährdet wird.[1]

In der Automobilmontage ist es teilweise immer noch notwendig, dass die mechanisch vorgenommene Verbindung zwischen Achse und Lenksystem aus Produkthaftungsgründen durch Unterschriften des Fertigungsplaners und des Qualitätsmanagers zertifiziert werden muss. Da diese Unterschriften in einem mühsamen und zeitaufwendigen Umlaufverfahren eingeholt werden müssten, ist es in vielen Werken üblich, dass der zuständige Meister die Unterschriften auf Blankovordrucken vorher besorgt. Das ist zwar ein Verstoß gegen das Regelwerk, stellt aber in vielen Werken eine eingespielte Praxis dar, über die nie offiziell entschieden wurde beziehungsweise aus Produkthaftungsgründen auch nie offiziell entschieden werden wird. Die zuständigen Fertigungsplaner und Qualitätsmanager lassen sich auf diese informale Praxis ein, weil sie wissen, dass die Kollegen ihre Blankounterschriften nicht missbrauchen, sondern gewissenhaft darauf achten, sie nur zu verwenden, wenn die sogenannte „Hochzeit“ zwischen Achse und Lenksystem sorgfältig durchgeführt wurde. Es hat sich eine informale Vertrauenskultur ausgebildet, die wenig mit dem Typ von Vertrauen zu tun hat, den sich Manager als Grundlage der Zusammenarbeit im Konzern vorstellen.[2]

Der Fachbegriff für diese in jeder Organisation zu findende Form von Regelabweichungen lautet „brauchbare Illegalität“. Letztlich ermöglicht erst die brauchbare Illegalität, dass sich in Organisationen Regeln trotz ihrer Starrheit halten können. Regeln müssen von Zeit zu Zeit verletzt werden, damit sie als Regeln weiterexistieren zu können. Nur indem Organisationsmitglieder permanent situativ ausbalancieren, ob sie den formalen Strukturen entsprechend handeln oder ob sie informale Wege gehen, erreichen Organisationen überhaupt ihre schnelle Anpassungsfähigkeit.[3]

Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als eine der effektivsten Streikformen in Organisationen. Es müssten offizielle Regeln angewendet werden, die mit einer Situation vielleicht gar nicht so gut verträglich sind und deren Umsetzung im Regelbetrieb stillschweigend unterbleibt. Man erinnert sich beim Dienst nach Vorschrift an die überholten, aber nie offiziell aufgehobenen Regeln und blockiert durch deren Anwendung die Organisation. Alle Regeln und Anweisungen werden buchstabengetreu von den Mitarbeitern ausgeführt und die Organisation gerade dadurch lahmgelegt. Die Organisation würde durch die ausschließliche Stützung auf ihre formalen Strukturen und die damit verbundene Rigidität zerbrechen.[4]

Das Risiko von Gesetzesverstößen

Im Fall von Volkswagen haben wir es mit einer besonders riskanten Form von Regelabweichung zu tun. Extrem prekär wird es, wenn Regelabweichungen nicht nur gegen die formalen Bestimmungen der Organisation verstoßen, sondern dabei auch staatliche Gesetze verletzen. Man denke an die Manipulationen an der Tachoscheibe, um die Lenkzeiten für die LKW-Fahrer zu erhöhen, an die verbotene Überbrückung der Sicherungen von Produktionsmaschinen mithilfe von Drähten, um auch bei einem Schaden der Maschine die Produktion aufrechterhalten zu können, oder an die kleinen Gefälligkeiten gegenüber Betriebsräten, die, wenn sie denn öffentlich werden, vor dem Gesetz als Untreue zu werten sind. Werden solche Vorkommnisse bekannt, greifen nicht nur die Regeln der Organisation, sondern auch übergreifende staatliche Regelungen.

Derartige Fälle von Regelverletzungen sind empfindlich gegenüber Aufdeckung von innen oder von außen. Werden die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet, gibt es jedenfalls für Organisationen in der westlichen Welt kaum noch Möglichkeiten, die einsetzende strafrechtliche Prüfung zu unterbinden. Das systematische Schmieren von Auftraggebern, das große Elektronikkonzerne praktizieren, um an attraktive Aufträge für den Bau von Kraftwerken, U-Bahnen oder Flughäfen heranzukommen, geht mit dem Risiko einher, dass eine Aufdeckung dieser Regelverletzung Ermittlungen nicht innerhalb, sondern außerhalb der Organisation in Gang setzt.

Das Management des Volkswagen-Konzerns ist nicht so sehr durch die Dimension der Abgasmanipulationen überrascht worden, sondern davon, dass es nicht gelungen ist, diesen Skandal einzudämmen. Mit Ausnahme der Pharmaindustrie und der Energiewirtschaft existiert kaum eine Branche, in der Wirtschaft und Politik so eng verzahnt sind wie in der Automobilindustrie. Die Ernennung des ehemaligen Verkehrsministers Matthias Wissmann zum Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie, der Wechsel von Eckart von Klaeden vom Bundeskanzleramt zu Daimler und der nur leicht zeitverzögerte Übergang von Thomas Steg aus dem Amt des stellvertretenden Regierungssprechers auf den Posten des Generalbevollmächtigten für Außen- und Regierungsbeziehungen bei Volkswagen ‒ all das sind Beispiele für die nur an Personen unmittelbar zu beobachtende Verknüpfung von Wirtschaft und Politik.

Es gehört zur Aufgabe solcher Lobbyisten, ein möglichst förderliches politisches Umfeld für die Automobilkonzerne zu schaffen, in dem Gesetzesverstöße weitgehend folgenlos bleiben oder ‒ noch besser ‒ Gesetze gleich so abgefasst sind, dass sie die Praktiken der Unternehmen legalisieren. Dass das staatliche Kraftfahrtbundesamt immer mehr zu einem willfährigen Dienstleister für die deutsche Autoindustrie mutiert ist, dass das Tempolimit auf den Autobahnen sowie die City-Maut für PKWs in den meisten Parteien Tabuthemen sind und auch aktive Politiker gerne von sich behaupten, dass sie Benzin im Blut haben, zeigt, wie gut die Automobillobbyisten in Deutschland ihren Job gemacht haben.

Was jedoch Volkswagen – wie zuvor schon Siemens und die Deutsche Bank – schmerzhaft lernen musste, ist, dass die enge Verknüpfung zwischen der in Deutschland ansässigen Konzernzentrale und der deutschen Politik in Zeiten der Globalisierung nur noch einen begrenzten Schutz bietet. Die Skandalisierung setzt – was auch der Fall der FIFA zeigt ‒ häufig nicht mehr im „Heimatland“ einer Organisation ein, sondern in anderen Ländern, in denen die Unternehmen nicht in der gleichen Art und Weise Einfluss auf die dortige Politik ausüben. Ist ein durch strafrechtliche Ermittlungen ausgelöster Vorfall erst einmal zu einem internationalen massenmedialen Skandal avanciert, können die Automobilkonzerne noch so viele ehemalige Verkehrsminister und Kanzleramtsminister auf ihrer Lohnliste haben – der Skandal lässt sich nicht mehr begrenzen.

Die schleichende Ausbildung von informalen Prozessen

Angesichts des Ausmaßes der Manipulation bei VW wird jetzt immer wieder die Frage gestellt, wer die technischen Eingriffe angeordnet hat. „Ich wüsste zu gerne“, so zum Beispiel Niedersachsens ehemaliger Wirtschaftsminister Jörg Bode, „welcher Vollidiot entschieden hat, den Unternehmenserfolg von VW so leichtfertig aufs Spiel setzen“. Aber informale Prozesse in Organisationen gehen nicht auf die Einzelentscheidung eines Topmanagers oder eines Gremiums zurück. Sie schleichen sich langsam ein.

Der Prozess, der zur Manipulation der Abgaswerte von über elf Millionen Autos geführt hat, ist im Detail noch nicht rekonstruiert worden, aber es bedarf wenig organisationswissenschaftlicher Fantasie, um Vermutungen darüber anzustellen, wie es dazu kam: Die Ansage an die Motorenentwicklung lautet, dass bei der Prüfung die zulässigen Abgashöchstwerte deutlich unterschritten werden sollen. In der Unternehmenssprache heißt dies „Management by Objectives“. Diese Zielvorgabe setzt Kreativität in den Entwicklungs- und Prüfabteilungen frei, also werden die Instrumente entwickelt, um bei den Labormessungen möglichst gut abzuschneiden. Schmale Reifen mit sehr guten Abrolleigenschaften kommen zum Einsatz, sie reduzieren den Rollwiderstand. Es werden Testfahrzeuge ohne Spezialausstattung eingesetzt, weil sie weniger Gewicht haben. Testfahrten werden bei optimalen Temperaturbedingungen und in hohen Gängen durchgeführt, weil der Motor dann weniger Treibstoff verbrennt. Türschlitze werden abgeklebt, um die Aerodynamik zu verbessern, mithin den Verbrauch zu reduzieren.[5] Der Einsatz einer Software, die erkennt, wenn sie auf dem Prüfstand steht und den Motor anpasst, sodass die Abgaswerte verbessert werden, ist eine weitere innovative Möglichkeit, Autos als umweltfreundlich darzustellen.

Dabei wird in der Regel nicht irgendwann bewusst entschieden, zur Erreichung der Ziele auch verbotene Mittel einzusetzen. Man experimentiert zuerst – völlig legal – in einer kleinen Testserie mit einer Software, die den Motor bei Laborbedingungen „optimiert“. Dann wird die Software in Ländern eingesetzt, deren Überwachungsbehörden solche Softwareoptimierungen erlauben oder wenigstens dulden, und schließlich wird die Software in Ländern verwendet, in denen die Optimierungen über die Manipulation beim Abgastest nur bei einer großzügigen Interpretation der gültigen Vorschriften legal erscheinen. So etablieren sich Routinen, ohne dass es jemals einen von oben abgesegneten Masterplan zum Austricksen der staatlichen Umweltbehörden durch Gesetzesverstöße gegeben hätte. In der Regel kommt die für Organisationen „brauchbare Illegalität“ auf diese Weise zustande.

Das Wissen um die alltäglichen Regelabweichungen

Auch wenn sich diese illegalen Routinen langsam einschleichen, ist das Wissen über die Regelabweichungen in der Organisation gewöhnlich weit verbreitet. Ganz gleich, ob man den Skandal um den tödlichen Cholesterinsenker Lipobay von Bayer nimmt, die Vertriebsoptimierung durch Schmiergeldzahlung bei Siemens oder den Untergang des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia – im Nachhinein stellt sich stets heraus, dass an ganz verschiedenen Stellen der Organisation Wissen über die Regelabweichungen und Gesetzesverstöße vorhanden war. Und dann genügt interne Recherche, um die Wissensspuren bis hinauf in die Etagen des Topmanagement zutage zu fördern.

So wird es auch bei Volkswagen sein. Man kann davon ausgehen, dass – solange das massenmediale Interesse anhält – kontinuierlich neue Berichte erscheinen werden, denen zufolge das Management bei Volkswagen um die illegalen Praktiken bei den Abgaswerten wusste. Die Nachricht, Volkswagen sei bereits 2007 von Bosch darauf hingewiesen worden, dass die vom Zulieferer mitentwickelte Software nicht für den normalen Fahrbetrieb vorgesehen war, sowie die nun publik gewordene Mitteilung eines Mitarbeiters aus dem Jahr 2011 an den verantwortlichen VW-Manager der Motorenentwicklung, der Regeleinsatz der Software könnte illegal sein, sind erst der Anfang.

Die Frage, warum Hinweise auf illegales Handeln in den Hierarchien versanden, ist einfach zu beantworten. Großzügige Gesetzesinterpretationen wie kleine Regelabweichungen sind für die Organisation gleichermaßen funktional und werden daher geduldet. Allerdings achten die Führungskräfte darauf, von diesen Praktiken zumindest offiziell nichts zu wissen. Schließlich wären sie andernfalls für die Abstellung dieser Regelabweichung verantwortlich, was die Einhaltung der Effizienz-, Kosten- und Terminvorgaben erschweren würde. „Davon will ich gar nichts wissen“ ist die Kurzformel, mit der Führungskräfte ihre Haltung gegenüber Untergebenen zum Ausdruck bringen, die naiv genug sind, ihre Vorgesetzten mit Informationen über brauchbare Illegalität in der Organisation zu behelligen.[6]

Die Schwierigkeit, solche Regelabweichungen anzusprechen, bezeichnet man in der Organisationswissenschaft als „Kommunikationslatenz“. Fast alle wissen davon, doch ist Abweichung nicht oder nur unter Überwindung erheblicher Widerstände ansprechbar. Die Herausforderung für Organisationen besteht deshalb darin, dass ihre tatsächlichen Abläufe wegen der vielfältigen Kommunikationslatenzen nur unter großen Schwierigkeiten überhaupt besprechbar sind, weshalb die durch „Leitbilder“, „Mission Statements“ und „Corporate Principles“ geprägte Schauseite häufig für die faktische Organisationskultur gehalten wird.

Dass Unternehmen genauso wie Verwaltungen, Hochschulen und Armeen ihre Schauseite herrichten, ist funktional – es verschafft Legitimation und hilft, nicht nur drohende Konflikte zu verbergen, sondern anstehende Entscheidungen auch in Ruhe vorzubereiten. Ein Problem entsteht lediglich, wenn das Management die Schauseite mit der Realität der Organisation verwechselt. Wer davon überzeugt ist, bestimmte Powerpoint-Präsentationen sagten auf Managementkonferenzen irgendetwas über die alltägliche Wirklichkeit eines Unternehmens aus, glaubt letztlich auch, dass die afrikanischen Regenmacher mit ihren Tänzen für Niederschlag sorgen. Auf solchen Treffen lernt man in der Regel nur die neuesten Ornamente im Fassadenmanagement kennen – nie das, was in den Organisationen faktisch vor sich geht.

Das Management brauchbarer Illegalitäten

Wird ein Skandal aufgedeckt, besteht die erste Reaktion der Organisationsleitung darin, Verantwortliche zu identifizieren und abzustrafen. Topmanager, die bis vor kurzem über den grünen Klee gelobt wurden, werden von einem Moment auf den anderen zum Abschuss freigegeben. Die gleichen Manager, die noch vor einigen Monaten dafür gepriesen wurden, ihren Konzern zum Branchenführer gemacht zu haben, werden jetzt wegen der typisch deutschen „Kombination von Moral und Größenwahn“ an den Pranger gestellt.[7] Man müsse, so der Tenor, „mit dem eisernen Besen durchgehen“ und diejenigen herausfegen, die den Skandal verursacht haben.[8]

Weil Personen in Organisationen derart leicht greifbar sind, können sie für Fehler verantwortlich gemacht werden. Eine bestimmte Person trägt die Verantwortung, wird massenmedial wirksam entfernt und gestattet der Organisation mithin, neue Legitimität wieder aufzubauen. Die hohen Abfindungen sind dann mehr oder minder aufgezwungene Honorierungen dafür, dass Mitarbeiter aufgetretene Fehler bereitwillig auf sich nehmen. Allerdings verbaut diese Personalisierung von Problemen den Blick auf die strukturellen Schwierigkeiten, die Organisationen im Umgang mit Regelabweichungen haben.

In der Regel führen Skandale wie der bei Volkswagen zu Wachstumsprogrammen für die Complianceabteilungen – den Spezialisten für Regeleinhaltung – in Unternehmen. Die gleichen Politiker, die sich über Jahre in zentralen verkehrspolitischen Fragen von der Automobilindustrie am Nasenring haben führen lassen, fordern jetzt in Talkshows, auch Automobilkonzerne müssten gesetzeskonform handeln. Lobbyorganisationen wie „Transparency International“ beklagen öffentlich die Schwächen der bestehenden Compliancesysteme und setzen sich dafür ein, dass nicht nur die Annahme von Geschenken und die Abrechnung von Spesen überwacht, sondern auch die Umweltschutzstandards und Produktionsbedingungen kontrolliert werden sollten. Das skandalgeschüttelte Unternehmen kommt der Aufforderung zum Ausbau der Complianceabteilung gerne nach, weil das eine kostengünstige Maßnahme ist, die den guten Ruf der Firma schnell wieder stabilisiert.

Freilich gibt es dabei ein Problem: Die Mitarbeiter der Complianceabteilungen bringen wenig Verständnis für die Funktionalität alltäglicher Regelabweichungen auf. Gerade dafür werden sie ja bezahlt. So sind die Complianceabteilungen für die Schauseite der Organisation zwar notwendig, doch bekommen deswegen von den anderen Abteilungen auch immer nur eine Schauseite präsentiert. Die Anwesenheit von Mitarbeitern aus der Complianceabteilung führt bei Workshops, in denen über die realen Arbeitsprozesse gesprochen werden soll, automatisch zu Zensurmechanismen, die sonst nur beim Besuch von Topführungskräften zu beobachten sind. Folglich sitzen in diesen Abteilungen gewöhnlich diejenigen Mitarbeiter, die am wenigsten darüber wissen, was im Unternehmen gerade geschieht.

Die Herausforderung für die Führungskräfte besteht also darin, die brauchbaren Illegalitäten so zu managen, dass ein Konzern nicht an ihrem Bekanntwerden zerbricht. Um diese Aufgabe zu bewältigen, muss sowohl zugestanden werden, dass keine Organisation auf alltägliche Regelabweichungen verzichten kann, als auch vereinbart sein, dass nicht jede beobachtete Regelabweichung zur sofortigen Bestrafung der Verantwortlichen und zur Abschaffung der Regelabweichung führen muss. In den meisten Organisationen mangelt es jedoch an Kenntnissen darüber, wie man in Einzelgesprächen und Beobachtungsinterviews die informalen Prozesse erhebt und wie das damit erworbene Wissen so aufbereitet werden kann, dass es nicht gleich vom Immunsystem der Vorgesetzten abgestoßen wird. Es fehlt, anders gesagt, die Expertise, um die Prozesse wenigstens teilweise in Workshops besprech- und damit auch veränderbar zu machen. Das hingegen wäre nötig, damit das Management signalisieren kann, welche „innovativen Wege“, „großzügigen Regelinterpretationen“ und „Ausnahmen von der Regel“ akzeptiert und erwartet werden und welche zu weit gehen. Letztlich ist die Führung von Volkswagen nicht an ihren alltäglichen Regelabweichungen gescheitert, sondern an dem unprofessionellen Management ihrer brauchbaren Illegalitäten.

  1. Siehe dazu Joseph Bensman / Israel Gerver, Crime and Punishment in the Factory. The Function of Deviancy in Maintaining the Social System, in: American Sociological Review 28 (1963), S. 588–598.
  2. Siehe dazu Stefan Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 121f.
  3. Siehe dazu Erhard Friedberg, Le pouvoir et la règle, Paris 1993, S. 153.
  4. Siehe dazu Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963, S. 247ff.
  5. Eine Liste solcher Tricks findet sich in Niklas Doll, 16 Tricks, die Autobauer beim Abgastest einsetzen, in: Die Welt, 29.9.2015.
  6. Siehe dazu Kühl, Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung. Systemtheoretische Analyse eines Beratungsprozesses, in: Soziale Welt 58 (2007), 3, S. 269–291.
  7. So die Berichterstattung im Spiegel: siehe Johann Grolle u.a., Ende eines Mythos, in: Der Spiegel 40 (2015), S. 10–16, hier S. 11.
  8. So Ulrich Hocker von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Wirtschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke

Stefan Kühl

Professor Dr. Stefan Kühl ist Soziologe und Historiker. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Unternehmen, Verwaltungen, Ministerien und Nichtregierungsorganisationen.

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