Christine Magerski | Literaturessay |

Vom Gegenwartsroman zur Kulturkritik

Literaturessay zu „Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens“ von Moritz Baßler

Moritz Baßler:
Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens
Deutschland
München 2022: C.H.Beck
408 S., 24,00 EUR
ISBN 978-3-406-78336-4

Den Umschlag des 2022 im Beck Verlag erschienenen Buches Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens des Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler ziert ein pickender, bunt bemalter Vogel zum Aufziehen. Das massenhaft vertriebene, sich international großer Beliebtheit erfreuende Blechspielzeug nimmt das Ergebnis der Studie bildhaft vorweg: Die Literatur hat ihren Status als Leitkunst verloren, geht in der aktuellen Markt-, Medien- und Meinungsgesellschaft auf und steht daher unter dem Regime nicht nur des Populären, sondern auch des Ethisch-Weltanschaulichen. Nachgerade die Gattung des Romans, so zeigt Baßler, folgt heute einem internationalen, postheroisch-poetischem Stil; sie ist marktgängig, leicht lesbar und liefert routinierte Plots. Wenn die Romane trotz weitgehender formaler Anspruchslosigkeit nicht unter den Verdacht des Trivialen geraten, so weil sie gezielt mit bedeutungsschweren Inhalten aufgeladen werden. „Midcult“ lautet das von Umberto Eco entlehnte Schlagwort, unter dem Baßler das Missverhältnis verbucht. Doch bleibt die Studie, und das macht ihren Reiz aus, nicht stehen bei einer Kunstkritik alter Schule an der kommodifizierten middlebrow culture. Der Münsteraner Literaturwissenschaftler, der sich eingehend mit Popkultur und Gegenwartsästhetik beschäftigt hat, formuliert eine scharfe, unter diversen Textanalysen konstant brodelnde Kritik an der „‚strukturellen Lüge‘“,[1] der nicht nur die Gegenwartsliteratur, sondern unserer zeitgenössischen Kultur insgesamt anheimfällt.

I. Das Zeitgemäße verstehen wollen

Ganz im Stil unserer Zeit beginnt alles mit einem Branding, hier „Populärer Realismus“. Argumentiert wird, dass sich das populärrealistische Erzählen zu einem globalen, dem International Style in der Architektur vergleichbaren Erfolgsmodell entwickelt hat. Als Stil präge der populäre Realismus „heute beinahe das gesamte Spektrum unserer narrativen Formen, von anspruchslosen Thrillern und Kriminalromanen über die Fantasy-Literatur und den Mainstream des gehobenen Buchmarktes bis hin zu international hochgeschätzten, mit Preisen versehenen Werken ‚mit Anspruch‘“ (S. 9). Wer, wie Baßler, seine Maßstäbe am Umgang mit Schriften der klassischen Moderne geschult habe, könne die Texte der Gegenwartsliteratur daher nur für „unterkomplex“ (S. 10) erachten. Dass sie gleichwohl einer Studie von 400 Seiten für würdig befunden wurden, wird damit erklärt, dass sich der Autor nach „viele(n) Lektüren, Auseinandersetzungen und Gesprächen“ (ebd.) auch die positiven Seiten dieses Erzählstils bewusst gemacht habe. Nicht ohne Grund habe sich unter den demokratischen Bedingungen unserer offenen Überflussgesellschaft der populäre Realismus als dominanter Stil durchgesetzt. Von daher gehe es nicht länger allein um Kritik, vielmehr müsse das breite Spektrum qualitativ ganz unterschiedlicher Verfahren differenziert betrachtet werden, zumal sich darunter auch „die beste Literatur unserer Zeit“ befinde (ebd.).

Mit der Formulierung „beste Literatur unserer Zeit“ wird bereits deutlich, dass es Baßler neben einer Bestandsaufnahme auch um Wertung geht. Beides ist nicht leicht miteinander zu vereinbaren, wird einerseits doch dem Zeitgenössischen an sich ein Wert zugesprochen, andererseits jedoch auf einer wertenden Differenzierung innerhalb der kontemporären Literatur beharrt. Für letztere braucht es Maßstäbe, die außerhalb des Zeitgenössischen liegen. Diskutiert und zu lösen versucht hat Baßler dieses Problem bereits in seinem gemeinsam mit Heinz Drügh verfassten Buch Gegenwartsästhetik (2021). Populärer Realismus ist ein Follow-up, das erhebliche Schnittmengen mit seinem Vorgänger aufweist. In der Gegenwartsästhetik entwickelte Begriffe wie ‚Skalierbarkeit des ästhetischen Urteils‘, ‚Stilgemeinschaften‘, ‚Ästh-Ethik‘ oder auch ‚augmentierte Wirklichkeit‘ bereiten den Boden für die Auswahl der in Populärer Realismus analysierten Texte und deren Bewertung. Dahinter steht auch die Frage, wie sich der Umstand, dass dank sozialer Medien prinzipiell jeder sein Urteil verbreiten kann, auf die Bewertungskriterien auswirke. Der massenmedial beförderte Siegeszug des Populären fordert eben nicht nur die Ästhetik einschließlich der „zähen Reste intellektueller Lehnstuhl-Bequemlichkeit und bürgerlicher Kunstreligion“ heraus, sondern auch die Literaturkritik und -wissenschaft.[2]

Zugespitzt könnte man sagen, dass mit Populärer Realismus unsere Zeit nicht nur die Literatur bekommt, die sie verdient, sondern auch die Literaturwissenschaft.[3] Und diese Literaturwissenschaft ist nicht schlecht: Sie lässt neben der Lehnstuhl- auch die Lehrstuhl-Bequemlichkeit ein gutes Stück weit hinter sich und öffnet sich, ihrerseits ebenso populär wie kritisch, dem vorherrschenden Midcult sowie dem wohl wichtigsten Nahfeld der Literatur: der Literaturkritik. Dass die Grenzen zur letzteren dabei zuweilen überschritten werden und die Argumentation, die eng entlang der analysierten Romane verläuft, selbst zwischen den Resten bürgerlicher Kunst- und Literaturauffassung, verkaufsstarkem Midcult und zukunftsfrohem, ethisch aufgeladenem Avantgardismus changiert, spricht nicht gegen sie. Weil Baßler seinerseits um Maßstäbe der Bewertung ringt, ist die Studie weit mehr als die Summe ihrer Teile. Der Literaturwissenschaftler mag sich, salopp (und damit durchaus im Baßler-Style) formuliert, nicht zuletzt unter Konsensdruck zu einer Modifikation seiner vormals formal-kritischen Position ‚bequatschen lassen‘ haben, das Ergebnis aber zeugt zweifelsfrei von einer wirklichen Bewusstmachung der Komplexität der Gegenwartsliteratur. Baßler schraubt mit Populärer Realismus auf eine gemäßigte Kritik runter und bemüht dazu den systemtheoretischen Kunstgriff der Unterscheidung im Sinne des Ziehens einer Grenze. Wie sieht das konkret aus?

II. Alter Midcult / neuer Midcult und Ausgriff ins Weltanschauliche

Differenziert wird grundsätzlich zwischen einem altem und einem neuem Midcult. Dementsprechend teilt sich die Studie in zwei Teile: Der erste erläutert die Begriffe des populären Realismus und des Midcult anhand zahlreicher Beispiele, während sich der zweite dem neuen Midcult zuwendet. Was alten und neuen Midcult verbindet, ist die Dominanz des Was gegenüber dem Wie. In allen populärrealistischen Romanen findet sich der Leser Baßler zufolge unmittelbar in der erzählten Welt ein und kann sich mit den Personen, ihren Gefühlen und Gedanken identifizieren. Innerhalb der diegetischen Welt ist daher auch alles möglich: Der Begriff des Realismus bezieht sich hier ausdrücklich nicht auf ein wie auch immer geartetes Außerhalb der Literatur, sondern meint allein das im Kontext der erzählten Welt Mögliche. Anders als bei den Romanen der klassischen Moderne hängt hier alles an der Story und nicht an der Machart. Zwar gebe es auch heute „am radikalen Ende des Spektrums“ (S. 22) noch überaus komplexe Romane, doch herrsche der Stil des populären Realismus unübersehbar vor.

Angesichts dessen steuert Baßler nicht in Richtung einer Schelte der ‚Trivialliteratur‘, sondern betont, dass die Auflagenzahlen der in formaler Hinsicht eben nicht mehr avantgardistischen Werke so hoch sind, weil sie „ziemlich genau unser aller Präferenzen“ (ebd.) abbilden. Der Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Vorsitzende der Literaturkommission für Westfalen zählt sich also selbst zu diesem in der demokratischen und offenen Überflussgesellschaft situierten Kollektiv, das, ob als Leser oder als Autor, stets beides will: „hohe Auflagen und die Wertschätzung der literarischen Expertenzirkel, Popularität und Kunststatus“ (S. 25). In diesem Wunsch aber lebt die Unterscheidung ebenso weiter wie die ungleiche Bewertung ihrer Seiten. Ungeachtet der Rede von der „überkommenen Dichotomie“ (ebd.) ist auch Baßler selbst nicht bereit, allem Text beide Qualitäten zuzugestehen.

Denn auch wenn Baßler nicht von ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Midcult spricht, so ist der wertende Einschlag doch unübersehbar. Der erfolgreichste deutschsprachige Roman des Jahres 2020, Sebastian Fitzeks Psychotriller Der Heimweg, basiere auf einem klar zu umreißenden Erfolgsrezept: „Was diesen Text schnell, genussvoll und ohne Stockungen lesbar macht, ist vielmehr gerade das Abgegriffene, das Topische, das schon tausendmal Erprobte seiner sprachlichen Wendungen, der aufgerufenen Situationen und Gefühle“ (S. 18 f.). Anders als etwa in der bildenden Kunst, in der sich hohe Preise durch einzelne zahlungskräftige Käufer erzielen ließen, sei der Erfolg in der Literatur eben gebunden an eine breite Käuferschaft, von Baßler gelesen als „eine sozusagen demokratische Wertschätzung, wie sie sich auch in den Kundenrezensionen bei Amazon niederschlägt“ (S. 16).

Eben diese Wertschätzung aber erfährt auch der gute Midcult. Ein Erfolgsoman wie Tschick von Wolfgang Herrndorf wird dazugezählt, weil er auch ein Buch über die neue Form des Erzählens selbst ist. Herrndorf, wie Baßler ihn liest, unterschlägt gewissermaßen sein Gemachtsein nicht und ist in seiner Kopplung von populärem Realismus und Elementen der Pop-Literatur trotzdem erfolgreich. Er folgt dem Prinzip der „Leitkunst des Populären Realismus“, dem des Spielfilms, nur ein Stück weit: „Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung“ werden übernommen, zur einer „Naturalisierung“ jedoch kommt es nicht (S. 164). Guter Midcult zeichnet sich, so verstanden, eben vor allem durch Selbstreflexivität aus, wie sie sich in der Literatur spätestens seit der Romantik findet.

Eigentliches Neuland betritt die Studie erst da, wo die Literatur des neuen Midcults nicht nur formal gut gemacht ist und ihr Gemachtsein auch reflektiert, sondern wo sie zudem im ethischen Sinn gut sein will. Die Romane dieser Kategorie setzen nicht länger auch auf Teilhabe an der Hoch- oder auch Popkultur, sondern auf bedeutsame, insbesondere „ethische Problemdiskurse der Gegenwart (tendenziell eher weiblich und divers)“ (S. 10). Für den neuen Midcult jenseits seriell angelegter Krimis, Thriller oder auch Fantasy sei eine „Ethik der Erfahrung“[4] kennzeichnend, die den Text über die Autorperson und somit über eine außerhalb der Textwelt befindliche Instanz beglaubige. Baßler setzt diese Ethik mit dem Bedürfnis nach Bestätigung der eigenen ethischen Anliegen und Überzeugungen in Zusammenhang (S. 185). Über die ästhetische Stilgemeinschaft hinaus herrsche ein Wunsch nach Gemeinsamkeiten, die „ins Weltanschauliche ausgreifen“, vor (S. 184).

Mit der Weltanschauung aber erlebt ein Konzept seine Renaissance, das man (mit Lukács) bereits verabschiedet geglaubt hatte. Dass es heute als A priori nicht nur in der Literatur, sondern auch in Teilen der Literaturwissenschaft wieder auftaucht, wird von Baßler kritisch gesehen: „Für Gemeinschaften mit starker religiöser oder politischer Ausrichtung, womöglich auch für nerdige Fan-Communities, wäre dies eine erwartbare Haltung – aber für die Literaturwissenschaft?“ (S. 186). Der Autor lehnt ab, was mit Barthes als „empörte ‚Vorführung‘ der Anrechte des Realen auf die Sprache“ verstanden wird.[5] Dass diese Anrechte heute von rechts und links eingefordert würden, belege das Regime der Haltung des „Immer-schon-verstanden-Haben[s]“ (ebd.), die jeden Zugang zum Werk als literarischem Produkt verunmögliche. Und doch: „Weltanschauliche Dichtung“ (S. 190) provoziert nicht nur die Literaturkritik, sondern auch eine sich dem Populären öffnende Literaturwissenschaft. Baßler geht auf diese Provokation ein und fragt offensiv, was, wo sich Ethisches und Ästhetisches zu „Konglomeraten“ (S. 191) und einer „ästh-ethischen Haltung“ (S. 192) in der Literatur verdichteten, diese auf dem literarischen Feld der Gegenwart noch zu leisten vermöge.

Die Antwort fällt uneindeutig aus: Einerseits gebe es platte, vor Weltanschauung strotzende Texte, die jedoch (wie E. Marlitt oder Karl May) dem Verfahren einer „prästabilierten Frame-Harmonie“ (S. 201) folgten und damit als „strukturale Lüge“ (S. 208) auszuweisen seien. In dieser Gruppe finden sich – und ja, hier müssen zum besseren Verständnis sowohl Ross als auch Reiter benannt werden – Olivia Wenzel, Anke Stelling und Sharon Dodua Otoo. Nachgerade Stelling wird von Baßler eine avanciert ethische Position attestiert, die jedoch jedwede Selbstreflexion vermissen ließe und in ihrer Ernsthaftigkeit unfreiwillig komisch wirke. Eine solche Position verlasse sich ganz auf die „ideologisch-klebrige Solidarität“ (S. 216) ihrer Stilgemeinschaft. Andererseits aber gebe es eine Form des avantgardistischen Midcults – zu nennen wären hier die Bücher von Hengameh Yaghoobifarah, Lisa Krusche oder auch Mithu Sanyal –, der erfolgreichen Pop und avancierte Kulturtheorie verbinde und „tentakulär“ von einem ‚Making Kin‘ oder auch von „Öffnungs- und Schließungsfiguren weltanschaulicher Communities“ (S. 251) erzähle. Romane dieser Spielart des populären Erzählens gingen mit einem „zukunftsorientierten“ Erzählen „ins Offene“ (S. 249), wiesen gar „in die Zukunft“ (S. 239).

Zukunftsoffenheit, Dezentrierung und Theorienähe aber gelten erst seit dem Zenit der literarischen Moderne – der Avantgarde – als ästhetische Qualitäten.[6] Baßler legt hier unter der Hand jene Wertmaßstäbe an, von denen er sich laut Selbstauskunft doch zu distanzieren beabsichtigt, um die Gegenwartsliteratur möglichst unvoreingenommen sichten zu können. Ließe man diese Maßstäbe hingegen vollumfänglich gelten, so würde man sich ins radikal ästh-ethisch Offene begeben. Baßler tut das nicht. Das zeigt sich etwa daran, dass ein überaus populärer, von Öffnungs- und Schließungsprozessen erzählender Roman, der unter Rückgriff auf konservative Kulturtheorien durchaus zukunftsorientiert ist, keine Erwähnung findet: Michel Houellebecqs Unterwerfung. Die Frage aber, ob dieser durchaus populärrealistisch erzählte Roman auch ‚guter‘ Midcult wäre, wäre zu beantworten, wenn sich nicht auch die Literaturwissenschaft dem Verdacht aussetzen will, mit einer impliziten Sinnstruktur (etwa gut/böse) zu operieren, die sie nicht schreibend reflektiert.

Wo sich die Literaturwissenschaft aber, wie Baßler, ihrerseits auf die weltanschauliche Ebene begibt, landet sie – ob sie den Theorie- und Ideenroman oder Autofiktionen verhandelt – vor dem zentralen Problem der Bewertungskriterien. Baßler führt uns das eindrücklich vor, vermag das Problem aber nicht zu lösen. Jede Berufung auf eine Literatur der „Ethik der, sagen wir‘s, wie‘s ist: Liebe“ (S. 265) jedenfalls greift (sagen wir es, wie es ist) zu kurz, wenn man die Literatur tatsächlich mit dem Anspruch der Avantgarde konfrontiert. Sie wird, wo „Tentakeln in eine offene Zukunft (tasten)“ (S. 266) selbst klebrig. Mehr noch: Sie verpasst die Chance, die Literatur auf einer anderen Ebene als einzig der strukturalistischen zu verhandeln. Einem Roman wie dem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Schäfchen im Trockenen von Stelling wird man so wissenschaftlich nicht gerecht. Gewiss lässt sich, wie Baßler dies tut, Texten dieser Art vorwerfen, dass sie, indem sie ganz auf das eigene Milieu abstellen und dieses einschließlich der ihm eigenen Präferenzen vorführen, tendenziell keine Öffnung des Diskurses, sondern eine selbstbezügliche Schließung im Sinne des Immer-schon-Rechthabens und des Ressentiments bewirken. Gleichwohl aber eröffnen sie gerade darum einer soziologisch erweiterten Literaturwissenschaft auch die Chance, eben dieses relevante, weil innerhalb der kulturalisierten Gesellschaft normativ auftretende Milieu in seiner historischen und sozialen Verankerung wie auch in seinem Funktionieren im zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetrieb besser zu verstehen.[7] Diesen Weg geht Baßler trotz zahlreicher Bezüge auf die Gegenwartskultur nicht, sondern verheddert sich in einem kaum aufzulösenden Knäuel von Textanalyse, Literaturkritik und Poetologie.

III. Lüge oder poetologisches Problem?

Dabei ließe sich im Hinblick auf die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit einer inhaltlichen Avantgarde durchaus auch und gerade ‚schlechter‘ Midcult literaturwissenschaftlich produktiv machen: Wenn wir mit Baßler, der hier auf Jurij Lotman verweist, die Literatur grundsätzlich als ein sekundäres modellbildendes System begreifen, so kann in der Textwelt mit Aussagen aus dem primären System (etwa dem politischen Diskurs) gespielt werden. Joachim Lottmann etwa tut dies, indem er öffentliche Diskurse aufnimmt und sie in provokativer Absicht spielerisch-ironisch überzeichnet. Entscheidend ist dabei, dass die Literatur grundsätzlich für jeden Inhalt offen ist. Wird diese generelle Offenheit jedoch allein dafür genutzt, die Welt in gute (von außen bedrohte, diskriminierte, missverstandene) und schlechte (drohende, diskriminierende, missverstehende) Menschen einzuteilen, um eine „Culture of Pain“ (S. 227) zu inszenieren, dann fällt die Literatur hinter die ihr eigenen Möglichkeiten zurück und wird nicht nur trivial, sondern produziert systematisch das, was Baßler wertend als „strukturelle Lüge“ bezeichnet: „Und das ist deshalb eine strukturelle Lüge, weil das literarische Kunstwerk die Sinnstruktur (gut/böse) in diesem Fall immer schon voraussetzt, die es doch eigentlich selbst herstellen, an der es mitschreiben sollte.“ (S. 227) Diese Lüge aber, wie sie Baßler an Romanen wie eben denen von Stelling festmacht, scheint mir vor allem ein poetologisches Problem zu sein.

Noch eindrücklicher illustrieren lässt sich das etwa an den Romanen von Daniel Kehlmann – laut Baßler der deutschsprachige „Spitzenvertreter eines International Style“ (S. 72) – oder an Fantasy-Literatur. All diese Werke seien so gut gemacht, dass es, so Baßler, beinahe spitzfindig erscheinen müsse, auf das „grundsätzliche poetologische Problem“ (S. 61) aufmerksam zu machen, welches dem Populärrealismus im Allgemeinen und diesen Werken im Besonderen zugrunde liege. Um es dann doch zu benennen, holt Baßler weit aus:

„Aber jetzt kommt unsere Pointe: Wenn erstens Realismus dadurch definiert ist, dass wir die Zeichenebene der Texte praktisch nicht mehr wahrnehmen und sofort auf die Ebene der Textwelt und der Handlung springen, wenn zweitens Fantasy der Inbegriff eines Populären Realismus ist, drittens die für Fantasy typische Serialität sozusagen zum Prinzip des Populären gehört, Serialität sich viertens als Prinzip der Äquivalenz in einem Erzählzusammenhang definieren lässt, fünftens aber das Äquivalenzprinzip das poetische Prinzip schlechthin ist, jenes Prinzip, das uns die Zeichenebene des Textes spüren lässt – dann kann hier irgendetwas nicht stimmen!“ (S. 127)

Dass eine elementare Poiesis offenbar gelingt, obgleich sie dem realistischen Erzählverfahren abgesprochen wird, führt Baßler auf dessen Fiktionswert zurück. Es ist die bruchlose Darstellung „bewohnbarer Strukturen“ (S. 127), die uns ganz in eine Geschichte eintauchen lässt. Vergnüglich ausgestattet, bevölkert von identifikationsfähigen Charakteren und durchzogen von anregenden Dialogen während gelegentlicher Sex- und Gewaltszenen, lassen sich die fiktiven Welten um ihrer selbst willen genießen. Alles ist spektakulär selbstreferenziell, nichts weist in Richtung einer „sinntragende Handlung“ (S. 130) über sich selbst hinaus. Weil der Weg das Ziel ist, lässt sich der Sinn nicht mehr über die Referenz auf eine Umwelt der Texte herstellen. Die Einheit wird allein textintern produziert, die Textwelt zu einer „Art Großraum“ und einem eigenen „weltförmige(n) Zusammenhang“ (S. 131).

Wäre mit den weltförmigen Erzählstrukturen in einer „perfekten Mischung aus reiner Artifizialität und diegetischer Geschlossenheit“ (S. 132) dann aber das poetologische Problem nicht gelöst und die strukturelle Lüge schlicht nicht existent? Wenn Baßler diese Lüge nichtsdestotrotz auszumachen meint, so dies, weil er grundsätzlich davon ausgeht, dass ein Erzähltext, der unserer Wirklichkeit gerecht werden will, nicht geschlossen realistisch erzählt sein dürfe (S. 106). Weil unsere Welt nicht beschreibbar ist, sind epische Werke großen Formats unmöglich. Wenn die Literatur der High Fantasy eine eigene reale Welt erzählt, so lügt sie. Mit Fantasy – dem „Inbegriff einer international erfolgreichen All-Ages- und Crossover-Literatur“ (S. 110) – kommt nicht nur der Realismus erst eigentlich „zu sich selbst“ (S. 107), sondern der Trug wird total. Die autonome Literatur aber hätte dann nur ihr Recht auf Selbstgesetzgebung dazu genutzt, sich vom avantgardistischen Diktat formaler Innovation zu lösen, und setzt fortan erzähltechnisch konsequent auf die Produktion eigener geschlossener und gerade daher überaus anschlussfähiger, also populärer Welten. Das kann man mit Baßler als eine Art Verrat an der historischen Avantgarde verstehen. Doch könnte man angesichts dieser unübersehbaren Tendenz und unter Rückgriff auf die wissenschaftlichen Theorien der Avantgarde auch argumentieren, dass die Möglichkeiten formaler Innovation spätestens seit der Neo-Avantgarde schlicht ausgereizt sind und es folgerichtig ist, dass sich Literatur und Kunst angesichts dessen neuer Technikern bedienen, zu denen auch das populärrealistische Erzählen zu zählen ist.

So verstanden bliebe Selbstreferenz das letzte Prinzip der Literatur, weil wir es mit einer gezielten Entscheidung für populärrealistische Schließung zu tun haben. Wenn Baßler dies als problematisch erachtet, so spricht er der Literatur das Recht auf Selbstbestimmung ab und insistiert von der Warte der Literaturwissenschaft aus auf einen kritischen, von der historischen Avantgarde formal vollzogenen Bruch mit der Realität. Dass etwa der „Tatort“ nicht spannend ist, sondern die Serie nur über den lieb gewonnenen Effekt der Wiedererkennbarkeit funktioniert, steht bei Baßler daher auch für mehr als nur den Bedeutungsverlust der Handlung. Baßler attestiert einen Verlust von Bedeutung in der artifiziell-medialisierten Gegenwart insgesamt und steigert das poetologische Problem zu einer Kritik an der „Spielkultur“ oder auch einer „Spielgemeinschaft normalisierten Spektakels“ (S. 136 f.). Unter den Marktbedingungen der Kultur des Web 2.0 und der sozialen Medien gebe es zwar weiterhin das Bemühen, selbst noch in der Serie „Tatort“ gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und diese „im Anschluss bei Anne Will zu betalken“ (S. 136). Doch werde das im engeren Sinne Narrative – und eben darin besteht laut Baßler der „kulturpoetisch interessante Effekt“ (ebd.) – zugunsten des Entwurfs bewohnbarer Welten geschwächt. Mit anderen Worten: Die Literatur und ihre Kultur sind spielerisch, weil sie nicht mehr auf eine Welt außerhalb der Medien und der von ihnen selbst inszenierten Spektakel durchgreifen. Das poetologische Problem wird zu einem kulturpoetologischen. Eine Aufladung mit ethisch relevanten Themen – Unterdrückung von Frauen und Minderheiten und Ähnliches – könne daran nichts ändern. Bedeutsame Literatur sei es nicht und dies umso weniger, als hinlänglich bekannt sei, was als bedeutsam und angemessen zu gelten habe: „Auschwitz und Manufactum – die zwei bedrückenden Eckpfeiler eines Populären Realismus, der sich als Hochliteratur ausgibt. Leichte Muse, schwere Zeichen – nennen wir es Midcult!“ (S. 103).

Was aber wäre die Alternative? Und ist das Problem nicht ein aus der Autonomieästhetik herrührendes und mithin altbekanntes? In Baßlers „Beweise es, Alter, rede nicht nur!“ (S. 93) scheint mir Goethes bekanntes Diktum nachzuhallen, demzufolge der Künstler bilden beziehungsweise formen, nicht aber reden solle. Im Kern geht dabei um die literarisch überzeugende Darstellung echter, also authentischer und folglich nicht allein durch einfache Nennung aufgerufener Gefühle. Die explizite, abstrahierende Benennung innerer Vorgänge wie der Erinnerung oder auch der Gefühle von Angst und Diskriminierung können zumindest den Literaturwissenschaftler nur überzeugen, wenn sie Emotionalität nicht nur „beschwören“ (S. 93), sondern in ihrer Form auch das Chaos aufscheinen lassen, um das es inhaltlich geht. Wie aber soll „Alter“ es beweisen, ‚nur‘ im Text, oder auch außerhalb der Diegese? „Was erwarten wir denn?“ (S. 32) oder, anders gefragt, welche Ansprüche an Wahrhaftigkeit kann der Leser in einer Spielkultur an die Literatur außerhalb der Textwelt überhaupt stellen?

Die von Baßler aufgerufenen Themen berühren, so wird deutlich, zentrale Fragen einer Kultur, die Charles Taylor bereits am Beginn der 1990er-Jahre als eine „Kultur der Authentizität“ bezeichnet hat.[8] In ihrem Zentrum steht die Suche nach Authentizität, ob des Erlebens oder des Selbst. Das Streben nach Authentizität ist jedoch nachgerade in der Spielkultur verflixt und führt vor ein existenzielles Paradox, da es uns alle unter den Generalverdacht stellt, nur Rollen zu spielen. Dieses Paradox nun lässt sich sowohl politisch wie auch literarisch lösen. [9] Literarisch, dies hat Jacob Golomb gezeigt, geht damit zumeist ein Pathos einher, welches insbesondere von autofiktionalen Schriften (von Kierkegaard bis hin zu Sartre) beschworen wird.[10]

Baßlers Ausführungen zur Gegenwartsliteratur kreisen um diesen Problemzusammenhang, ohne ihn klar zu benennen und auszuführen. Stattdessen wird auf ein hochgradig komplexes, weil paradoxes Problem mit dem Vorwurf einer ‚strukturellen Lüge‘ reagiert, die zu entblößen als Movens seiner Studie gelten kann. Verortet man die ‚Lüge‘ hingegen innerhalb des Begriffsfeldes von Spiel, Authentizität, Literatur und Pathos, so lässt sich das poetologische Problem einordnen und tiefer hängen. Man kann sagen, dass die Leserschaft heute eben nicht mehr die literarische Entfaltung eines existenziellen Paradoxes erwartet, sondern ‚einfach nur‘ ein authentisches Leseerlebnis, für das es keine Rolle spielt, ob der Autor tatsächlich das ‚Chaos‘ und mithin eine existenzielle Erschütterung erfahren hat. Was in der um Authentizität ringenden Spielkultur zählt, ist allein die Überzeugungskraft des Gespielten. Wirkt das Pathos, so ist die Story glaubwürdig, ergo authentisch. Es gibt keine Lüge, weil weder Autor noch Leser etwas anderes erwarten als ein authentisches Rollenspiel. Kurz: Der Midcult hat seine eigene poetologische Wahrheit.

Wenn Baßler den Vorwurf der strukturellen Lüge behutsam erhebt, so weil er weiß, dass sich die Erwartungen des öffentlichen Publikums nicht nur hinsichtlich der Literatur, sondern auch der Literaturkritik verschoben haben, was wiederum den gesamten Diskurs über Literatur verändert hat. Als Literaturwissenschaftler zerreißt es ihn förmlich: einerseits nimmt er Partei für ein Publikum, das eben lieber Böll, Fitzek, Haderlap, Schlink, Kehlmann oder auch Knausgard und Rowling liest als Einstein, Döblin oder Breton. Anscheinend gelassen folgt er dem Siegeszug des populären Realismus, den er eben nicht als Unabwendbarkeit, sondern als gewollte Abkehr von der literarischen Moderne versteht. Andererseits aber ist es genau diese Abkehr von einer den Spielcharakter der Literatur vorführenden Moderne, die er der Gegenwartsliteratur vorwirft. Indem sie zum Avantgarde-Bashing ausholt, verschleiere sie gleichwohl, dass auch ihre Welten nur fiktionale sind. „Es ist“, so heißt es scharf in Richtung Kehlmann und Schlink, „eine bewusste Entscheidung, und das wissen gerade jene Autoren, die selbst einen hochliterarischen Anspruch mit ihrem Werk verbinden, sehr genau“ (S. 91).

Weil dem so ist, setzen die Vertreter der neuen Richtung auf alles, was zugleich Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit zu generieren verspricht, verlagern ihre Plots gern in eine „zeitlos-magische Sphäre“ (S. 103) und verzichten tunlichst auf Selbstironie. Was künstlich hergestellt ist, soll als natürlich erscheinen, weshalb Baßler in Naturalisierung und Identität eben nicht nur die „poetologische Grundformel des Realismus“ (ebd.), sondern auch dessen grundlegendes Problem sieht. Das kann man kritisieren oder aber, wie oben angedeutet, als eine Anpassung an jene Spielkultur deuten, die Baßler selbst seinen Ausführungen zugrunde legt. Denn ja, ein Großteil der Gegenwartsliteratur will lieber erfolgreich als ‚wirklich‘ bedeutsam sein. Doch ist auch diese Prioritätensetzung, man lese nur Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900), schon lange der Normalfall. Mann ließ bereits an der vorletzten Jahrhundertwende seinen von literarischen Ambitionen gesteuerten Protagonisten zwischen einer Zuordnung zur marginalisierten Avantgarde und der Aussicht schwanken, ‚Kasse machen‘ zu können – und sich schließlich für letzteres entscheiden. Angesichts einer derart langen Geschichte stilistischer Positionierungskämpfe kann dann auch nur allzu verständlich erscheinen, dass sich Vertreter der Gegenwartsliteratur über sich selbst und die öffentliche Wahrnehmung von Literatur lustig machen.[11] Baßler aber will es bei der spielerisch-innerbetrieblichen Selbstironisierung nicht bewenden lassen. Stattdessen bringt er eine „Theorie des Romans als Möglichkeitsmaschine“ (S. 335) in Stellung, die dem Begriff der Theorie zwar nicht gerecht wird, trotzdem aber viel über unsere Gegenwartsliteratur einschließlich der neuesten Literaturwissenschaft aussagt.

IV. Zweifelhafte Alternative: Literatur als „Möglichkeitsmaschine“

Skizziert und exemplifiziert wird diese ganz auf spekulative und fantastische Gesellschaftsentwürfe setzende Theorie von Dietmar Dath mit seinem Roman Gentzen oder: Betrunken aufräumen. Von der Literaturkritik aufgrund seiner „Außenseiterstellung“ gefeiert, wurde dem Roman bescheinigt, dass er „spielerisch“ die Geschichte eines Mathematikers mit Lady Gaga und aktuellen Themen wie „Corona, Flucht, Wohnungspolitik und kleinen Intrigen in der Redaktion einer großen deutschen Tageszeitung“ verbinde und sich die Leserschaft durch ein „Wirrwarr von Zeit- und Handlungsebenen“ hindurchkämpfen müsse, wobei die Montagetechnik ebenso überzeugend wie unterhaltsam sei.[12] Baßler nun fasst diesen Romantyp, der das „literarische Werk selbst denken und dabei womöglich ‚einiges vielleicht Verwendbare‘ hervorbringen“ (S. 329) will, mit der Bezeichnung „Kalkülroman“ und insistiert entgegen den Einschätzungen der Literaturkritik darauf, dass sich in diesen Erzählungen ein Posthumanismus im Sinne Donna Haraways artikuliere. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang insbesondere auf Daths Roman Die Abschaffung der Arten (2010), in dessen Schlusspassage es heißt: „Die Menschen mußten sterben, damit die Menschheit eine Chance hat.“[13] Damit aber ziele, so Baßler, der Roman nicht auf die Beseitigung des Menschen, sondern mache „genuin menschlichen Möglichkeiten“ und „positive Energie (Pop! Musik!)“ (S. 340) stark. So gelesen, votiert der „Kalkülroman“ für die Abschaffung der ‚alten Art‘ des Menschen und für einen neuen, erst noch literarisch zu entwickelnden.

Nun waren und sind Individual- und Gruppentherapie wie auch Erziehung als Funktionsbestimmung von Literatur immer eine Option. Auch mag ein Roman wie der von Baßler wohlwollend besprochene Allegro Pastell (Leif Randt) bezeugen, dass das Schreiben vom „guten Leben“ (S. 360) nachgerade in der westlichen Wohlstandgesellschaft durchaus seine Berechtigung hat. Baßler schließt sich der offenen gestellten Frage des Autors, „,What's wrong with the westlichen Wohlstandsgesellschaft?‘“ (S. 362) an und scheint keine grundsätzlichen Bedenken zu haben. Aufhorchen aber lässt auch hier, dass es laut Baßler zur ‚richtigen‘ Rezeption eines Romans wie Allegro Pastell nötig ist, den „post-ironischen Modus zu ‚getten‘“ (S. 363). Erneut zeigt sich der Literaturwissenschaftler dem eigenen Objekt gegenüber unentschlossen, wenn nicht irritiert. Und das ist durchaus verständlich. Könnte man doch argumentieren, dass auch die Freiheit von pragmatischen Zwecken schon immer eine solide Grundlage der Kunst und Literatur war. Wenn Randts ‚Post Pragmatic-Joy‘ (Eichendorffs Taugenichts lässt grüßen) zum neuen, ästhetische Selbst- und Lebensentwürfe verhandelnden Heldenepos avanciert, dann hätte unsere ästhetisierte Wohlstandgesellschaft die Literatur, die sie verdient. Ihr ästhetisches Programm und die ihm verschriebenen Romane setzen nicht länger auf eine Kritik an der Wohlstands- und Konsumgesellschaft, sondern auf eine Kritik an eben dieser Kritik; eine Kritik höherer Ordnung, in der die „gängige Kritik“ (S. 363), die auf dem Fehlen eines Wesentlichen beharrt, einer literarischen Korrektur unterzogen wird.

Oder doch nicht? Ist da vielleicht doch noch etwas, das die bislang gängige Kritik provozieren könnte? Randts jüngster Roman zumindest meldet leisen Zweifel an und erinnert daran, dass man heute „noch längst nicht in dem Zeitalter (lebt), von dem viele behaupten, dass man bereits in ihm lebe“.[14] Das wiederum kann aber nur heißen, dass heute manche postpragmatisch unterwegs sind und andere nicht. Unwillkürlich ist man an Hofmannsthals Gedicht Manche freilich… erinnert, in dem mit dem Symbol des Schiffes ein Bild von Gesellschaft evoziert wird, in der sich einige ‚droben‘ am Steuer des Lebens erfreuen und die Sterne fremder Länder kennen, während andere ‚drunten‘ darben und die schweren Ruder schlagen. Doch muss man so weit gar nicht gehen, um deutlich zu machen, dass unter den Labeln von „postironischer New Sincerity“ und „Achtsamkeit“ (S. 373) eine Richtung wiederbelebt wird, die man als aufgeklärten Ästhetizismus bezeichnen könnte. Diese wäre, bleibt man bei Hofmannsthal, klar abzugrenzen von einem reinen, alle ethische Bedenken strikt zurückweisenden Ästhetizismus, wie er etwa von Stefan George praktiziert und schulbildend propagiert wurde. Baßler, seinerseits in der Ausweisung der neuen Gattung des „Kalkülromans“ ganz höherer Literaturkritiker, steuert in diese Richtung, wenn er den „Kalkülroman“ mit Musils Mann ohne Eigenschaften zusammendenkt, auf das Potenzial der Literatur bezüglich der Erschaffung eines „Möglichkeitsraum(s)“ (S. 377) verweist und diesen, gegen weite Teile der Literaturkritik, als einen legitimen Raum für gesellschaftliche Projektionen ausweist. Die erzählte Welt wäre hier mehr als nur eine heimelige Diegese, sondern ein Raum für „paradigmatische Vergleiche und zukunftsoffene Reflexionen“ (S. 377). Zugespitzt ließe sich sagen, dass, liest man sie mit Baßler, Dath, Meier, Weber oder eben auch Randt nicht nur ein literarisches, sondern auch ein soziales Engineering betreiben und genau das ihre literarische Qualität ausmacht.

Spätestens hier rangiert die subjektive Wertung klar vor der Analyse. Der Eindruck drängt sich auf, dass Baßler seinen eigenen Wunsch nach einem (noch) besseren Leben in einer insgesamt besseren, die kalkülrealistischen Fiktionen real werden lassenden Welt zum Maßstab der Kritik macht: Der „Kalkülroman“ wird zum „gute(n) Realismus“ (S. 378); ein Realismus, der das „das Gut- und das Gernelesen“ miteinander versöhnt (S. 379). Verstanden als „paradigmatischer Realismus“ wird er am Ende (der eher kryptisch geratene Epilog darf unterschlagen werden) aufgewertet zu einer Alternative zum populären Realismus und der Leser mit der Hoffnung verabschiedet, dass sich ein öffentlicher Diskurs über diese Texte einstellt, der die Stilgemeinschaften aufbricht und eine „heuristische[] Idee einer (noch) besseren Literatur“ (S. 381) entwirft.

Unterschlagen wird dabei, dass der Möglichkeitsraum bei Musil ungeachtet seiner beachtlichen Kanonisierung eine „grandiose Ruine“[15] geblieben ist, die bis heute keine allzu breite Leserschaft anzieht. Wenn Baßler mit dem neuen Midcult von der Text- über die Darstellungs- zur Bedeutungsebene springt, dann verweist er nicht nur auf eine fatale Tendenz, in der der Übergang automatisiert ist, „sich also die Bedeutung und Wertung, die dem Text seinen Sinn geben (das Moralische), immer schon von selbst versteht“ (S. 300), sondern auch auf eine nicht weniger fatale Alternative. Wer kann denn, so möchte man Baßler fragen, ernsthaft behaupten, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, etwas zu formulieren, „womit man noch nicht fertig geworden ist“ (S. 303)? Doch nur ein Literaturwissenschaftler, der sich, ungeachtet aller anfänglichen Beteuerungen, die Konsequenzen einer radikalen Demokratisierung der Kultur letztlich doch nicht bewusst gemacht hat. Wie soll begründet werden, dass die Darstellung eines „Gemeinplatzes“ (S. 304), selbst wenn sie formal innovativ ist, keine Kunst ist, neue „Formen des Nichtseins“ (S. 311) oder auch einer „radikal erhöhten Literarizität“ (S. 326) aber sehr wohl?

Eine Kunst, „die man auch demokratisch nennen könnte“ (S. 50), geht eben ihre eigenen Wege. Eine solche Literatur mag nicht mehr sein als Ware, aber deshalb wird sie trotzdem nichts anderes als Literatur, gleich ob in Form von populärem Realismus oder „Minderheitenprogrammen“ (S. 31). Wir haben es immer nur mit konkurrierenden literarischen Versuchen des Umgangs mit einer Welt zu tun, die „bereits bekannt, formuliert und verdaut“ (S. 45) sein muss, soll der Text über den Status des Fragments hinauskommen. Allein der Umstand, dass alle von Baßler diskutierten Texte vollendet, publiziert und prämiert wurden, signalisiert die Differenz zu tatsächlichen Versuchen, den Möglichkeitsraum auszutesten.

Weil aber, wie Baßler anschaulich vor Augen führt, eine Ästh-Ethik nicht leicht einzulösen ist, der Realismus – gleich welcher Couleur – für ein über das Utopische hinausgehendes Möglichkeitsdenken nicht geeignet scheint und das Besondere heute in Serie geht (Stichworte: Authentizität, Engagement, Hingabe, von großem Leid Beglaubigtes etc.), muss die Literaturwissenschaft neue Maßstäbe entwickeln. Die Literatur ist schon lange „nicht mehr von derselben Art (…) wie die traditionelle Romanliteratur des Abendlandes“ (S. 120). Eine schlichte Rückkehr zu der in den 1960er-Jahren schon einmal wiederbelebten Wertungsfrage á la „new standards of beauty and style and taste“ kann nicht die Lösung sein.[16] Was es braucht, sind Standards in der Literaturwissenschaft, die nicht allein darauf beruhen, „strukturalistisch ausgebildet“ (S. 125) zu sein. Die Struktur von Werken ist und war immer nur die halbe Wahrheit über sie – in der Kunst wie in der Literatur.

V. Fazit

Baßlers Studie überzeugt sowohl mit Textwissen als auch mit analytischen Kenntnissen und fördert ein imposantes Bild unserer Gegenwartsliteratur zutage. Das Buch ist flott geschrieben, ohne Tiefgang vermissen zu lassen. Das Ringen um eine Bewertung dessen aber, was außerhalb der Stilgemeinschaften der Bewertung nicht mehr bedarf, bleibt zwangsläufig erfolglos. Zum Schiedsrichter in Fragen der ‚wahren Literatur‘ und des ‚richtigen Buches‘ taugt die Literaturwissenschaft schon lange nicht mehr. Baßler ist dann auch da am besten, wo er dem Prinzip der Pop-Literatur eines Christian Kracht folgend selbst zum Archivist des Zeitgenössischen wird und auch die Literaturwissenschaft in die „Verweishölle des Pop“ (S. 288) führt. Dort gibt es zwar keine Zukunftsoffenheit, dafür aber offenbart sie neben der „Absurdität moralisierenden Personalisierens“ (S. 293) auch eine Alternative zu jener Tendenz einer biografischen, ja biologistischen Beglaubigung von Literatur, wie sie spätestens mit Kim de l‘Horizons Performance anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 ihren Zenit erreicht haben dürfte. In ihr sind Autor und Erzählfigur nicht mehr zu trennen. Das oben angesprochene Authentizitätsproblem wird performativ gelöst, indem der Autor selbst zu einer öffentlich gefeierten Kunstfigur wird, die einerseits qua Selbstinszenierung ihre Literatur und andererseits qua Literatur ihr gelebtes Selbst authentifiziert. Das sich aus dieser Lösung wiederum für die Literatur ergebende Dilemma wird von Baßler förmlich antizipiert, wenn er am Beispiel Annie Ernaux festhält, dass man heute „nur noch als Charakterschauspieler:in seiner selbst gecastet“ (S. 299) werde und fortan im Grunde nur die immer wieder gleiche Rolle spielen respektive das gleiche Buch schreiben könne.

Um von hier aber zu einer Beobachtung zweiten Grades zu gelangen, hätte Baßler sein Bedürfnis nach Wertung und seine eigene, wie immer berechtigte Hoffnung auf eine ästh-ethische Gemeinschaft höherer Art stärker zügeln müssen. Zum besseren Verständnis des Kritikpunktes sei zum Ende hin ein längeres, Baßlers Ansatz unterstreichendes Zitat angeführt:

„Was haben wir denn aus unserer professionellen Warte sinnvoll, legitim und Erfolg versprechend zum Diskurs beitragen im Angesicht einer Rezeption, die sich weitgehend in Leseschaften [sic] und Stilgemeinschaften abspielt, in größeren oder kleineren Bubbles, die sich zur vollen Zufriedenheit selbst über das verständigen können, was ihnen gefällt und guttut?“ (S. 196)

Meine Antwort wäre: Sehr viel, und zwar mittels einer seit Beginn der klassischen Moderne überaus aktiven literatursoziologischen Forschung. Diese hat ‚gegettet‘, dass der Rahmen des Ensembles von Stilgemeinschaften ein spannungsvoll strukturiertes Gebilde ist, das sie als Gesellschaft bezeichnet. Weil Gesellschaft etwas anderes ist als eine größere Gemeinschaft, hat die Literatursoziologie eine lange Tradition der Erforschung unterschiedlichster Stilgemeinschaften und ihren Literaturen, angefangen vom Formwandel und Geschmacksträgertypen über deren Verknüpfung mit der Sozialstruktur und Sozialfiguren bis hin zur fortschreitenden Institutionalisierung und Professionalisierung des Literaturbetriebs.

Wenn sich, wie Baßler zeigt, die Literatur radikal demokratisiert und der Gesellschaft gänzlich geöffnet hat, dann kommt die Literaturwissenschaft ohne diesen Schulterschluss mit der Wissenschaft von der Gesellschaft nicht aus. Im Verbund wäre dringend auch die steuernde Funktion der Kulturpolitik zu diskutieren. Die von Baßler in einer Fußnote versteckte „Triade Race, Class und Gender“ (S. 177) hat weder zufällig noch anlasslos Einzug auch in die Literatur gehalten. Und ‚last but not least‘ wäre der von Baßler überzeugend dargelegte Triumph des populären Realismus produktiv zu machen mit zwei widersprüchlichen soziologischen Lesarten unserer Gegenwart – dem Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung einer- und dem „Ende der Illusionen“ andererseits.[17] Zumindest bei Andreas Reckwitz, dem gegenwärtigen Spitzenreiter des international populären Genres der Gesellschaftsdiagnose, führt der auch von Baßler zentrierte Prozess der Kulturalisierung, Medialisierung und Ästhetisierung in eine Sackgasse und zu einer Besinnung auf die Verluste.[18] Mit dem Ende der Illusionen zerplatzt auch der Traum einer „Literarisierung aller Lebensverhältnisse“ (Benjamin), wie er selbst noch Baßlers kritischer Diagnose der Gegenwartsliteratur latent zugrundliegt. Gerade darum aber bräuchte es einen neuerlichen, von jeder Art der Bequemlichkeit befreiten Anlauf zur Selbstverständigung unserer Kultur und ihrer Gesellschaft. Die Studie Populärer Realismus empfiehlt sich dafür als prominenter Ausgangspunkt aus dem Bereich der Literaturwissenschaft. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich jene öffentliche Diskussion gewünscht, die sich ihr Autor erhofft.

  1. Baßler übernimmt diesen Begriff ohne Quellennachweis von Umberto Eco, vgl. Baßler S. 71.
  2. Moritz Baßler und Heinz Drügh, Gegenwartsästhetik, Konstanz 2021, S. 11.
  3. Moritz Baßler im Interview, Wiener Standard, 26.07.2021. https://www.derstandard.at/story/2000128442425/germanist-bassler-jede-zeit-kriegt-die-literatur-die-sie-verdient (24.02.2023)
  4. Johannes Franzen, Der Maßstab der Wirklichkeit. Zur Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella, in: Merkur-Blog, 15.01.2019, https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/01/15/der-massstab-der-wirklichkeit-zur-kontroverse-um-takis-wuergers-roman-stella/ (22.04.2023), hier zitiert nach Baßler, S. 183.
  5. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 287, 308, hier zitiert nach Baßler, S. 189.
  6. Hierzu ausführlicher: Christine Magerski, Theorien der Avantgarde. Gehlen – Bürger – Bourdieu – Luhmann, Wiesbaden 2011.
  7. Dass gerade Texte wie Stellings einschließlich ihrer Paratexte und Prämierungen auch die Vorlage für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung bieten, die nicht bei der Kritik stehen bleibt, hat die Rezensentin an anderer Stelle zu zeigen versucht. Siehe hierzu: Christine Magerski, Von der Kunst simultaner Beobachtung, in: Artis Observatio. Allgemeine Zeitschrift für Kunstsoziologie und Soziologie der Künste, 1 (2022), www.biejournals.de/index.php/ao/article/view/5146 (22.04.2023).
  8. Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Harvard 1992.
  9. Siehe hierzu ausführlicher: Hans Schmid , Authentic Role Play: A Political Solution to an Existential Paradox, in ebd. / Gerhard Thonhauser (Hg.), From Conventionalism to Social Authenticity. Studies in the Philosophy of Sociality, Wiesbaden 2017, S. 261–274.
  10. Zu einer literarischen Lösung siehe Jacob Golomb, In Search for Authenticity. From Kierkegaard to Camus, London 1995.
  11. Siehe etwa: http://riesenmaschine.de/index.html?nr=20080625013556 (1.03.2023)
  12. https://taz.de/Neues-Buch-von-Dietmar-Dath/!5838494/ (25.03.2023)
  13. Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten, Berlin 2010, S. 548, zitiert nach Baßler, S. 340. Auch hier ließe sich an die Romane Houellebeqcs denken.
  14. Leif Randt, Allegro Pastell, Köln 2020, S. 36f., zitiert nach Baßler, S. 372.
  15. Horst Althaus, Zwischen Monarchie und Republik: Schnitzler, Hofmannsthal, Kafka, Musil, Stuttgart 1976, S. 185.
  16. Susan Sontag, On culture and the new sensibility, in: Against Interpretation an Other Essays, New York 1966 1965, zitiert nach Baßler, S. 121.
  17. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, Berlin 2019.
  18. Siehe hierzu ausführlich Christine Magerski, Singular sociology? On the work of the German sociologist Andreas Reckwitz, in Thesis Eleven, 173 (2022), 1, S. 127–136.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaft Kultur Kunst / Ästhetik Pop

Christine Magerski

Prof. Dr. Christine Magerski lehrt Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Zagreb. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Literatursoziologie, die Literatur- und Gesellschaftstheorie sowie die Literatur-, Kultur- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

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