Laurin Berresheim | Rezension | 14.02.2023
Vom Schutz der Ehre zum Recht auf Unberechenbarkeit
Rezension zu „Soziologie der Privatheit“ von Carsten Ochs

Die rasant zunehmende Digitalisierung bringt in allen Lebensbereichen gewaltige Umbrüche mit sich. Im Zuge dessen ist auch der Schutz unserer Privatsphäre grundlegend in Gefahr geraten. Unser herkömmliches Verständnis von Privatheit als Rückzugsmöglichkeit aus dem Sozialen kann in einer Zeit der alles durchdringenden Vernetzung nur noch als überholt bezeichnet werden. Das schon 1890 von Samuel D. Warren und Louis D. Brandeis eingeforderte und bekannt gewordene ‚right to be let alone‘ ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr gewährleistet, und auch die individuelle Kontrolle über persönliche Informationen liegt zu großen Teilen nicht mehr in unseren Händen. Die Folgen dieses Verlusts sind schwerwiegend. Sozialphilosoph:innen und Rechtswissenschaftler:innen haben bislang vielfach hervorgehoben, dass das Private grundlegende Werte unserer liberalen demokratischen Gesellschaft schützt, etwa die Integrität der Person (Warren und Brandeis), die menschliche Würde (Bloustein), die Intimität zwischenmenschlicher Beziehungen (Inness) und schließlich auch unsere individuelle Autonomie (Rössler)[1]. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, welche Folgen diese Umbrüche für den Schutz des Privaten haben und wie mit ihnen umgegangen werden kann.
In seiner nun als Buch vorliegenden Habilitationsschrift Soziologie der Privatheit widmet sich Carsten Ochs genau diesem Thema. In seiner gesellschaftstheoretischen Analyse des Privaten zeichnet er ausgehend vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart die Entwicklung informationeller Privatheit nach, um schließlich die gegenwärtigen Herausforderungen einzuordnen. Der Fokus der Arbeit liegt somit auf der Form von Privatheit, bei der es um den Zugriff auf Informationen einer Person geht (im Gegensatz beispielsweise zum Zugriff auf einen privaten Ort oder private Meinungen). Dabei erarbeitet der an der Universität Kassel forschende Soziologe systematisch einen anspruchsvollen theoretischen Rahmen, um Privatheit als gesellschaftliches Phänomen zu analysieren, und gewährt darüber hinaus lehrreiche Einblicke in die historische Entwicklung der informationellen Privatheit. Seine Überlegungen bieten vielversprechende Anknüpfungspunkte nicht nur für weitere wissenschaftliche Arbeiten, sondern ebenso für die praktische politisch-rechtliche Bewältigung der Herausforderungen.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: 1.) eine gesellschaftstheoretische Analyse des Privaten, 2.) eine Genealogie der informationellen Privatheit seit der Moderne sowie 3.) eine Zeitdiagnose. Ochs beginnt mit einer Bestimmung von ‚Privatheit‘ als Überbegriff für „die heterogene Praxis der Teil-habe-Beschränkung Alters (hier: die potenziell Privatheit-kompromittierende Instanz) zur Eröffnung von Erfahrungsspielräumen Egos (hier: die Privatheit-genießende Instanz)“ (S. 19). Diesen praxistheoretischen Begriff von Privatheit erläutert er anhand einer systematischen Auseinandersetzung mit einer beachtlichen Bandbreite sozialwissenschaftlicher Theorien, darunter insbesondere der amerikanische Pragmatismus von William James und John Dewey, die Akteur-Netzwerk-Theorie, Anthony Giddens‘ Strukturtheorie sowie Anselm Straussens Theorie der Sozialen Welten und Arenen. Ochs zufolge sei Privatheit als das Ergebnis einer Vielzahl von kollektiven, normengeleiteten Praktiken zu verstehen, in denen performativ eine Grenze zwischen öffentlich und privat gezogen wird. Diese Grenzziehung trage für die sie ausübenden Akteure zu ihrer Konstitution als Subjekte bei und sei zugleich grundlegend für die Formierung von Gesellschaft, die Ochs als einen kontinuierlichen Prozess der Ver- und Entgesellschaftung beschreibt. Gesellschaft sei demnach nicht als apriorischer, umfassender Rahmen zu verstehen, sondern als dauerhafter Prozess des Erzeugens, Aufrechterhaltens und Auflösens von Zusammenhängen aus unterschiedlichen Praktiken. Basierend auf diesem Verständnis des Privaten entwickelt der Autor schließlich ein Modell unterschiedlicher Typen von Privatheit, die sich seiner Auffassung nach bis ins 20. Jahrhundert auf verschiedenen Ebenen herausgebildet haben, etwa die Privatökonomie und politische Öffentlichkeit gegenüber dem Staat, die familiale Privatsphäre gegenüber der Arbeitswelt oder die Privatsphäre der einzelnen Person gegenüber der Gesellschaft.
Auch wenn der erste Teil der Arbeit für fach- respektive themenfremde Leser:innen aufgrund seiner theoretischen Komplexität vergleichsweise schwer zugänglich sein mag, so ist er doch eine notwendige Vorbereitung der Genealogie, die im zweiten Teil die Entwicklung der informationellen Privatheit auf anschauliche wie aufschlussreiche Weise nachzeichnet. Ochs führt diese Form von Privatheit auf den Übergang zur Moderne im 18. Jahrhundert zurück. Etwa zu dieser Zeit habe sich das Subjekt nicht mehr wie bis dato mit einer fixierten ständischen Gesellschaftsordnung konfrontiert gesehen, sondern damit, in den unterschiedlichen Rollen einer funktional differenzierten Gesellschaft agieren zu müssen. Während informationelle Privatheit zuvor als ‚Ehrschutz‘ eher negativ konnotiert war, weil ihr hauptsächlich die Aufgabe zukam, gewisse Unstimmigkeiten im Privatleben vor dem Blick der anderen zu verbergen, kam ihr nun, verstanden als Möglichkeit zum ‚Rückzug aus dem Sozialen‘ und als schützender Rahmen für die Konstitution von Subjekten, eine positive Funktion zu. In Anbetracht einer neu entstehenden massenmedialen Presseöffentlichkeit wurde es allerdings zunehmend schwieriger, diese Form von Privatheit zu pflegen. So entwickelt sich im 19. Jahrhundert bereits eine neue Variante von informationeller Privatheit, die im 20. Jahrhundert schließlich zur dominanten Form informationeller Privatheit wird und durch ‚individuelle Informationskontrolle‘ gekennzeichnet ist, also dadurch, dass Individuen darüber verfügen, wer wann und wie auf sie betreffende Informationen zugreifen kann.
Seine gesellschaftstheoretische Analyse von Privatheit ermöglicht es Ochs die verschiedenen immer neuen Formen informationeller Privatheit als Antwort auf allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen verständlich zu machen. Jede Entwicklungsphase ist durch die Entstehung einer jeweils neuen medialen Öffentlichkeit gekennzeichnet, aus der widersprüchliche Anforderungen an die jeweils bestehenden Subjektivierungsformen hervorgehen. In diesem Kontext sieht Ochs, dass „informationelle Privatheit dann als jene Praxisform fungiert, die einen Umgang mit diesen konfligierenden Anforderungen erlaubt“ (S. 147). Um das zu verdeutlichen, beschreibt der Autor für jedes Jahrhundert eine paradigmatische öffentliche Debatte (sogenannte ‚Schwellenkonflikte‘), in der etablierte Praktiken des Privaten zum Ausdruck kommen, zugleich aber deutlich wird, dass Letztere in Anbetracht neuer gesellschaftlicher Entwicklungen überholt sind. So macht beispielsweise ein in Briefen dokumentierter und öffentlich gewordener Streit zwischen Johann W. Goethe und dessen Freund Johann Christian Kestner über die Verarbeitung biografischer Ereignisse in Die Leiden des jungen Werthers deutlich, wie die zu dieser Zeit etablierte Praxis von Privatheit als ‚Ehrschutz‘ angesichts einer neu entstehenden literarischen Öffentlichkeit, die individuelle intime Ereignisse verarbeitet und nach außen trägt, zunehmend unter Druck geriet.
Ochs erarbeitet die unterschiedlichen Formen der informationellen Privatheit schließlich, um „aus [deren] Genese und Entwicklung Lehren auch für [ihren] gegenwärtigen Status zu ziehen“ (S. 144). Da der Autor die Ereignisse nicht nur nacherzählt, sondern sie auch in eine gesellschaftstheoretische Analyse einbettet, kann er sich der Frage widmen: Welche Schlüsse lassen sich aus dieser historischen Entwicklung in Hinblick auf gegenwärtige Herausforderungen für die informationelle Privatheit ziehen? Seine Antwort hält leider nur wenig neue Erkenntnisse bereit. Vielmehr greift Ochs bereits vorhandene Analysen anderer Theoretiker:innen auf und ordnet sie in seine eigene Entwicklungslogik ein. Auf diese Weise beschreibt der Soziologe einen Widerspruch zwischen den neuen Anforderungen an Subjekte, die sich auf der einen Seite mit der Aufforderung zur digitalen Vernetzung konfrontiert sehen, um die Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen und Lebenschancen zu erhöhen (die sogenannte „Optionalität des Digitalen“); auf der anderen Seite geben sie dabei zahlreiche Daten preis, die algorithmisch erfasst, ausgewertet und schließlich sowohl von privaten Unternehmen als auch staatlichen Akteuren zur Profilbildung und Verhaltenssteuerung genutzt werden (die „Predikativität des Digitalen“). Ein Schritt zur Lösung des darin aufkommenden Konflikts könnte Ochs zufolge in der Herausbildung einer neuen Form von Privatheit liegen, die er als „Verschleierung“ bezeichnet und die sich bereits in Praktiken der „gezielte[n] Erzeugung von kommunikativer Unschärfe in Situationen weitreichender Sichtbarkeit“ (S. 496) beobachten lässt. An derartige Praktiken ließe sich, so Ochs‘ Vorschlag, anknüpfen, um ein „Recht auf Unberechenbarkeit“ zu formulieren, dessen regulatorische Umsetzung einerseits Möglichkeiten zur Profilbildung begrenzen, andererseits die Nutzung von Daten regulieren würde.
Derlei Forderungen und analytisch begründete Schlussfolgerungen können kaum als originell bezeichnet werden, entsprechen sie doch allenfalls bestehenden Bestrebungen etwa der Europäischen Union, die mit ihren Regelungen zur Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der 2016 verabschiedeten EU-Datenschutzgrundverordnung oder ihrem Verbot bestimmter Formen von zielgerichteter Werbung im 2022 verabschiedeten Digital Services Act die Nutzung personenbezogener Daten einzudämmen versucht. Dennoch sind Ochs‘ Ausführungen beachtenswert, da sie es ermöglichen, solche Vorschläge und Forderungen in eine umfangreiche Analyse der historischen Entwicklung informationeller Privatheitspraktiken einzubetten. Insbesondere seine These, dass Praktiken der ‚Verschleierung‘ sich als neue dominante Form von Privatheit etablieren, bietet Anregungen für die Entwicklung und Legitimation regulatorischer Maßnahmen. Am Ende wirft der Vorschlag eines „Rechts auf Unberechenbarkeit“ jedoch auch weiterführende Fragen auf: Wie ließe sich ein solches Recht juristisch umsetzen? Welche technischen Voraussetzungen bräuchte es? Wie viel Unschärfe ist für die betroffenen Akteure wünschenswert oder geboten? Hier offenbaren sich interessante Anknüpfungspunkte etwa für sozialphilosophische, rechtsphilosophische oder informatische Arbeiten.
Alles in allem leistet Ochs‘ Soziologie der Privatheit einen wertvollen Beitrag zur akademischen Diskussion über Privatheit. Er ist zwar nicht der erste, der auf die in einer digitalisierten und vernetzten Gesellschaft bestehenden Herausforderungen für Privatheit hinweist und beobachtet, dass unser herkömmliches Verständnis von Privatheit angesichts dieser Entwicklungen überholt ist. In vielerlei Hinsicht baut der Soziologe auf Erkenntnissen, Begriffen und Analysen anderer Theoretiker:innen auf. Er leistet allerdings insofern einen bedeutsamen neuen Beitrag, als er diese vorangehenden Arbeiten in eine Genealogie informationeller Privatheit bis ins 18. Jahrhundert zurückführt und somit eine neue Perspektive auf die gegenwärtige Lage bietet. Die gegenwärtigen Gefährdungen von Privatheit erscheinen nunmehr nicht als eine für das 21. Jahrhundert spezifische Neuheit, sondern stellen sich als Kontinuum einer historischen Entwicklung dar, was einen neuen Umgang mit diesen Herausforderungen ermöglicht. Schließlich verdient auch Ochs‘ systematisches Vorgehen lobende Erwähnung: In einem Themenfeld, das derart häufig von interdisziplinären Überschneidungen gekennzeichnet ist, macht sein Buch den spezifischen Beitrag einer Gesellschaftstheorie mit beachtlicher methodischer Stringenz sichtbar und kann somit als Vorbild für weitere systematische Arbeiten in derselben Thematik wie auch in anderen wissenschaftlichen Fachgebieten dienen.
Fußnoten
- Samuel D. Warren / Louis D. Brandeis, The Right to Privacy, in: Harvard Law Review 4 (1890), 5, S. 193–220; Edward J. Bloustein, Privacy as an Aspect of Human Dignity. An Answer to Dean Prosser, in: New York University Law Review 39 (1964), 6, S. 962–1007; Julie Inness, Privacy, Intimacy, and Isolation, New York 1992; Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main 2001.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Gesellschaft Kommunikation Moderne / Postmoderne Öffentlichkeit Sicherheit Technik
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