Dirk Baecker | Interview |

Von außergewöhnlichen und Neid auslösenden Lektüren

Sieben Fragen an Dirk Baecker

Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein:e andere:r?

Entscheidend war für mich die Begegnung mit Adornos Noten zur Literatur (in vier Bänden, 1958 ff.). Unser Deutschlehrer Helmut Henseler am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln las sie mit uns in der Deutsch-AG in der fünften und sechsten Stunde des samstäglichen Vormittags. Wir saßen als Unterprimaner zusammen mit der Oberprima, die an unserer Schule die erste Klasse war, die dank einer Kooperation mit der benachbarten Kaiserin-Augusta-Schule das Prinzip der Koedukation einführte. Vielfache Aufregung also: ein außergewöhnlicher Lehrer, eine außergewöhnliche Lektüre, eine außergewöhnliche Stunde und außergewöhnliche Mitschülerinnen, die uns auch noch in jeder Hinsicht überlegen waren. Adornos Texte hatten sich dagegen zu behaupten und das gelang ihnen auf großartige Weise. Die Auseinandersetzung mit Literatur und Drama (Beckett!) als Prisma einer Verständigung auf die gesellschaftliche Situation, in der wir uns Mitte der 1970er-Jahre befanden, das war in jeder Hinsicht beeindruckend und mitverantwortlich für meinen Wunsch, Soziologie zu studieren, nachdem mir jemand nach dem Abitur steckte, Adorno sei übrigens Soziologe gewesen. Ich dachte tatsächlich, ich bekäme es nur noch mit solchen Texten zu tun! Mein Erwachen im Studium der Soziologie, VWL und Wirtschaftsgeschichte an der Kölner Universität kann man sich vorstellen. Adornos Texte wurden zur Folie, an der ich alle weiteren Texte und auch die Modelle der Ökonomie maß.

Eine ähnliche Rolle wie Adornos Noten zur Literatur spielte für mich sechs Jahre später Jean Baudrillards Buch Der symbolische Tausch und der Tod (1976), das ich in Paris studierte und das mir dabei half, den Moralfallen, die Adorno mit seinen Texten aufgestellt hatte, auch wieder zu entkommen.

Welches war die beste/schlechteste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?

Wirklich geärgert habe ich mich bisher nur über die Empfehlung, David Corfields Modal Homotopy Type Theory (2020) als Inbegriff einer philosophischen und mathematischen Reflexion auf den aktuellen Stand der mathematischen Forschung zu studieren. Geärgert habe ich mich dabei sowohl über das Buch als auch über mich selbst. Zum einen ist es verblüffend, wie sehr man angeblich Grundsätzliches zur Lösung von Problemen entwickeln kann, deren Natur man im Dunkeln lässt. Und zum anderen ist es deprimierend, wenn einem das Wissen fehlt, um sich die Fragestellung eines Buches auch unabhängig von den mangelnden didaktischen Bemühungen des Autors zu erschließen.

An eine beste Buchempfehlung kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an viele gute, nicht zuletzt in jüngerer Zeit an die Empfehlung eines Studenten, mir Christopher Alexander und seine Bücher The Nature of Order in vier Bänden (1980 ff.) anzuschauen, weil seine Idee, dass unsere Wahrnehmung der architektonischen Gestaltung von Wirklichkeit durch „Zentren“ organisiert wird, einige Verwandtschaft mit George Spencer-Browns „cross“, also einer Form der Unterscheidung, die einen Raum hervorruft und strukturiert, aufweist.

Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?

Nur eins, eigentlich, und zwar Harrison C. Whites Identity and Control: A Structural Theory of Action (1992). Ein großartiges Buch mit einer Fülle tiefer soziologischer Einsichten, das sich jedoch aus einer höchst ungewöhnlichen, nämlich physikalisch-mathematischen Intuition speist, die sich nicht etwa auf die Physik der Sterne und Atome, sondern auf die Physik der Gele und amorphen Massen beruft. Jeder unbestreitbar soziologische Satz in diesem Buch speist sich aus einem Vorstellungsvermögen, das alle mir bekannten soziologischen Selbstverständlichkeiten sprengt. Es gibt viele Bezüge, die White etwa mit Goffman und Parsons verbinden, aber eben nur in der Weise, dass Goffman und Parsons auf neue Weise lesbar werden. In Rage hat mich das versetzt, weil mir deutlich wurde, wie anspruchsvoll das theoretische Vorstellungsvermögen ist, auf das man zurückgreifen sollte, um auch die scheinbar einfachsten sozialen Phänomene zu erfassen.

Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?

Die Frage kann ich nicht beantworten. Wenn mich ein Buch beeindruckt, denke ich an Texte, die ich selbst gerne schreiben würde, ohne dass sie mit dem identisch wären, was ich gerade lese. Allenfalls bei Jorge Luis Borges‘ Erzählungen erinnere ich mich daran, dass ihre ebenso schlanke wie verwickelte Struktur bei mir den Neid auslöste, so nicht schreiben und mir solche Geschichten nicht ausdenken zu können.

Welches verliehene Buch hätten Sie gern zurück?

Eric A. Leifers Actors as Observers: A Theory of Skill in Social Relationships (1991). Es fehlt mir, weil es ein brillantes Buch ist, und es fehlt mir, weil ich an seinen Autor denke, der sich Ende der 1990er-Jahre aus der Soziologie zurückzog und Farmer in Upstate New York wurde. Leifer verdanke ich die aus Interviews mit Schachgroßmeistern gewonnene Beobachtung, dass Schachgroßmeister sich nicht dadurch auszeichnen, dass sie sich besonders viele Züge im Vorhinein vorzustellen vermögen, sondern dadurch, dass sie möglichst lange eine möglichst gleichgewichtige Situation mit ihrem Gegner herzustellen und aufrechtzuerhalten versuchen, um unbemerkte Anfangsfehler im Nachhinein korrigieren zu können.

Welches Buch haben Sie nur seines schönen Covers wegen gekauft?

Das kommt bei mir nicht vor. Ich lasse mich von Covern beeindrucken, aber nur dann, wenn das Cover mit dem Inhalt des Buches korrespondiert. Das galt zuletzt für das im Merve Verlag erschienene Buch Dissonanz. Ein austauschbares Jahr (2021) von Max Dax, dessen Cover bereits den Sinn für eine Kombination von Namen, Begriffen und Phänomenen verrät, die in dem tagebuchartig geschriebenen Band dann wunderbar zum Tragen kommt. Dem Autor ebenso wie der Gestaltung des Buches gelingt es, das Schreiben und Lesen von Büchern ganz selbstverständlich mit einem alltäglichen Leben zu verknüpfen, dessen Interessen, Wahrnehmungen und Vorlieben bis in die Küche hinein auch durch die Bücher geprägt sind, die man gelesen hat oder gerne schreiben würde.

Aus welchem Buch lesen Sie am liebsten vor?

Das kommt auch nicht mehr vor, seit ich meinem Sohn in den Ferien aus Homer vorgelesen habe. Aber ich erinnere mich an ein Seminar, in dem wir George Spencer-Browns Laws of Form (1969) diskutiert haben und in dem eine aus England stammende Studentin das erste Kapitel vorgelesen hat. Ihre Diktion war so präzise, die Intonation so genau, dass die meisten Fragen nach der Bedeutung dieses ersten Kapitels sich mit ihrem Vortrag beantwortet hatten. Das war eine schöne Variation der Bemerkung Wittgensteins, dass die Wahrheit eines Satzes sich zeigt. In unserem Fall ließ sie sich hören.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Bildung / Erziehung Kultur Medien Wissenschaft

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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