Stefanie Michels | Literaturessay |

Von einem Tsunami, einer niedergerissenen Mauer und einem Bumerang

Literaturessay zu „Afrikas Kampf um seine Kunst. Die Geschichte einer postkolonialen Niederlage“ von Bénédicte Savoy, „The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution“ von Dan Hicks und „Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit“ von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer (Hg.)

Im Sprechen über die Restitution von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten werden derzeit aufschlussreiche Metaphern verwendet. Der international renommierte kenianische Archäologe George Abungu sprach in einer Konferenz im Dezember 2021 von einem „restitution tsunami“.[1] Mit dieser Metapher rief er das Bild einer gewaltigen Welle auf, deren Ursprung weit entfernt liegt und die dennoch potenziell zerstörerisch wirkt, wenn sie an Land aufschlägt. Er machte sich dafür stark, dass Afrika sich auf diesen „Tsunami“ vorbereiten und starke Institutionen wie Strukturen aufbauen müsse, um für ihn gewappnet zu sein. Die ebenfalls international renommierte Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy hatte wenige Wochen zuvor, ebenfalls auf einer Konferenz zum Thema Restitution, die Metapher einer niedergerissenen Mauer verwendet.[2] Ihr 2021 erschienenes Buch Afrikas Kampf um seine Kunst. Die Geschichte einer postkolonialen Niederlage präsentierte sie als eine Art Waffe, mit der sie die Festung der Museen erfolgreich beschossen und schließlich niedergerissen hätte.[3] Beide konstatieren epochale Änderungen, die Ende letzten Jahres ihren Anfang genommen haben.

Kampf

Der Kampf gegen die Lügen und das Mauern westlicher Museen in Bezug auf die Restitutionen von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten sei gewonnen, so Savoy im November 2021. Die Mission, die sie mit ihrem Buch und ihrer Kampagne verfolgt habe, sei erfüllt. Anlass dieser positiven Einschätzung war die Rückgabe von 26 Objekten aus dem Pariser Musée du Quai Branly an die Republik Benin in einer feierlichen Zeremonie, der sie, Bénédicte Savoy, persönlich beiwohnte. Die Übergabezeremonie in Cotonou hatte wenige Tage zuvor stattgefunden. Vier Jahre hatte es gedauert, von der Ankündigung Emanuel Macrons in Ouagadougou afrikanische Kulturgüter zurückgeben zu wollen bis zur ersten Umsetzung. Bénédicte Savoy war zuvor gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr vom französischen Präsidenten damit beauftragt worden, einen Bericht darüber vorzulegen, wie die Restitution der afrikanischen Kulturgüter in französischen Museen praktisch gehandhabt werden könne. Der Bericht erschien 2018.[4]

Schon vor Erscheinen ihres viel rezipierten Buches hatte Savoy ihre Erkenntnisse über die „Lügen“ der deutschen Museen in die in Feuilleton und Politik geführte Restitutionsdebatte eingebracht, beispielsweise bei einer Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien des deutschen Bundestages im April 2019.[5]

Das im März 2021 erschienene Buch Afrikas Kampf um seine Kunst wurde in allen großen Tageszeitungen und Leitmedien überschwänglich rezensiert, führte im April und Mai 2021 die Sachbuchlisten an und war ein Bestseller. Im Juni 2021 wurde es bereits zum dritten Mal aufgelegt. Das Buch besticht durch seine kluge, weitgehend chronologische Komposition, durch seine solide empirische Basis, die Stringenz seiner Argumentation und die Klarheit seiner Sprache.[6] Ein „Spiel auf Zeit“, wie in den 1970er-Jahren, sei für die westlichen Museen heute nicht mehr möglich. Restitutionen müssten vollzogen werden, so die klare Botschaft der Autorin. Dieser Impuls wurde in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen, auch durch die Person Savoy mit ihrem immer wieder öffentlichen Auftreten und ihrem internationalen Renommee. Gemeinsam mit Felwine Sarr wurde sie im September 2021 vom US-Magazin Time zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt gezählt. Die Tatsache, dass Savoy als Leibniz-Preisträgerin, als Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie mit zwei Professuren (an der Technischen Universität Berlin und am Collège de France) bereits renommiert war, bevor sie sich mit Themen wie Restitution und kolonialem Raubgut befasste, hat sicher dazu beigetragen, dass die von ihr gegebenen Impulse die Debatte derart befeuerten.

Bestialische Museen

Ähnlich kämpferisch wie Savoy gibt sich auch das Buch The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution des britischen Archäologen und Ethnologen Dan Hicks, das bereits 2020 erschien. Hicks blickt – im Gegensatz zur Kunsthistorikerin Savoy – aus der Perspektive der Museen auf die Debatte. Er ist Kurator am Pitt-Rivers-Museum in Oxford und Professor an der dortigen Universität. In seinem Buch betreibt er eine empirisch solide Rekonstruktion der kriegerischen Zerstörung und Plünderung des Königreichs Benin durch britische Truppen im Jahr 1897. Das Buch findet eine deutliche Sprache, die dennoch niemals moralisierend wirkt, sondern durch neue Begriffe ganz bewusst mit einer bisher dominanten, eurozentrischen Erzählung bricht. Hicks spricht hier vom „framing“ in der Erzählung westlicher Museen, das insbesondere in ihren Ausstellungen zum Ausdruck kommt. Er fordert dazu auf, diese „frames“ zu brechen und die bisherige Abwesenheit afrikanischer Geschichte darin zu beenden. Sein Hauptargument lautet, dass westliche Museen struktureller Teil des „corporate-military colonialism“ gewesen seien und sie deshalb als „brutish“, also „bestialisch“, zu bezeichnen seien. Hicks zeigt eindrücklich, dass westliche Museen nicht nur an der gewaltsamen materiellen Plünderung in den Kolonien beteiligt waren, sondern darüber hinaus auch die ideologische Grundlage kolonialer Herrschaft und Gewalt mit schufen und diese bis heute reproduzieren.

Das Ausmaß kolonialer Gewalt im 19. Jahrhundert bezeichnet er als „World War Zero“. Damit kritisiert er eine Sichtweise, die diese als marginal einstuft und erst die Ereignisse ab 1914 als relevante Massengewalt anerkennt. Statt von „Objektbiografien“ spricht Hicks – in Anlehnung an Achille Mbembe – von Nekrografien, also nicht vom Leben, sondern vom Sterben der Kulturgüter durch deren Plünderung und Überbringung in westliche Museen. Mit dieser Sicht zerstört er die Idee und oft postulierte Überzeugung, afrikanische Kulturgüter in europäischen Museen als universales Erbe der Menschheit zu bewahren.

Benin-Bronzen als emblematischer Fall

Das Buch gibt Auskunft darüber, dass das Königreich Benin bereits seit 1936 offizielle Restitutionsforderungen stellte. Als Schlüsselmoment gilt das 1977 in Nigeria veranstaltete Second World Black and African Festival of Arts and Culture (FESTAC). Als dessen Symbol wurde die 1897 geraubte Benin-Elfenbeinmaske der Queen Idia gewählt, die seither im britischen Museum zur Schau gestellt wird. Die Festival-Veranstalter:innen hatten die Maske zweimal als Leihgabe beantragt, was das Museum jedoch verweigerte. Auch Savoy befasst sich in ihrem Buch mit diesem Fall; sie schildert den ganzen Vorgang minutiös und beschreibt die Ablehnung der Leihgabe 1977 als Höhepunkt afrikanischer Frustration.

Obwohl Hicks weit über den Fall der Benin-Bronzen hinausgeht und ebenso beispielsweise die koloniale Gewalt gegen das Asante-Reich im heutigen Ghana und das Reich Dahomey in der heutigen Republik Benin thematisiert, stehen die Benin-Bronzen aus Nigeria im Vordergrund. Im umfangreichen Anhang seines Buches listet er die Standorte aller ihm bekannten Benin-Bronze-Tafeln auf – der umfangreichste Bestand mit 255 Exemplaren ist im Ethnologischen Museum in Berlin zu finden. Insgesamt nennt er 23 Länder, in denen sich Benin-Bronzen befinden, die meisten davon in Großbritannien, in den USA und in Deutschland. Auch Hicks schließt sein Buch mit der dringenden Empfehlung, endlich zu handeln, und stellt eine Dekade von Rückgaben in Aussicht.

Dass der Fall der Benin-Bronzen emblematisch für das Thema Restitution steht, zeigt sich auch ikonografisch. Alle hier erwähnten Bücher bilden auf ihrem Cover 1897 in Benin geplünderte Kulturgüter ab; auch bei der Bebilderung von Feuilletonbeiträgen zum Thema Restitution kolonialer Raubgüter wird meist eine Benin-Bronze gewählt. Die Benin-Elfenbeinmaske der Queen Idia war bereits nach 1977 zu einer pan-afrikanischen Ikone geworden, die im Bildrepertoire afrikanischer und diasporischer Kunstproduktion fest verankert ist. Auch Savoy bringt in ihrem Buch hierzu aussagekräftige Bildbeispiele (vgl. Tafel 7 und 8).

Beschleunigung von Restitutionen

Hicks sieht in der „Rhodes Must Fall“-Initiative in Cape Town, Südafrika, und deren Ableger in Oxford im Jahr 2015 einen entscheidenden Angriff auf das Selbstverständnis des Pitt-Rivers-Museums – möglicherweise auch eine ganz persönliche Erfahrung, da er dieses Museum institutionell vertritt. Studierende der Universität Cape Town verlangten damals – letztlich erfolgreich – die Entfernung der Statue von Cecil Rhodes, die sie als Symbol für weiße Suprematie und Rassismus ansahen. Damit steht Hicks stellvertretend für eine neue Generation von westlichen Museumsdirektor:innen und -kurator:innen (die Mehrheit in der Tat weiblich), die sich proaktiv für schnelle Rückgaben einsetzen. Es sind dabei bisher eher dezentral gelegene Museen, die vorangehen. In Deutschland etwa gab das Stuttgarter Linden-Museum im Jahr 2019 bereits Kulturgüter nach Namibia zurück. Deutschland und Nigeria haben im Oktober 2021 eine Absichtserklärung zur geplanten Rückgabe der Benin-Bronzen aus Deutschland unterschrieben, die im Frühjahr 2022 formal vollzogen werden soll. Auch die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth, seit Dezember 2021 im Amt, treibt das Thema aktiv voran und ruft alle Museen in Deutschland, die Benin-Bronzen in ihren Beständen haben, zu einer Rückgabekonferenz auf. Die Stadt Köln beispielsweise hat Anfang Februar diesen Jahres die Rückgabe der 96 Kulturgüter aus Benin im Bestand des Rautenstrauch-Joest-Museums beschlossen. Wie von Hicks und Savoy gefordert wird zur Tat geschritten, die Mauer ist niedergerissen, der Tsunami rollt. Das British Museum mauert jedoch weiterhin.

Eine globale Geschichtskultur durch Restitution?

Sind mit diesen Erfolgen nun alle Bücher, die vor November 2021 zum Thema Restitution geschrieben worden sind, überholt? Der im Mai 2021 erschienene umfangreiche Sammelband Restitution als Geschichtskultur. Ein Kunst-Historikerstreit lässt das Gegenteil vermuten. Bei Restitution, so die Herausgeber:innen in der programmatischen Einleitung des Buches, handele es sich um weit mehr als nur die materielle Rückgabe von Kulturgütern. Vielmehr ginge es „um Gerechtigkeit und moralische Wiedergutmachung” (S. 23). Die Debatte darüber müsse sowohl transkulturell als auch transdisziplinär geführt werden. Der Sammelband vereint zu diesem Zweck ein beeindruckendes Spektrum an Positionen und Perspektiven. Wer sich einen tiefergehenden Einblick in die Debatte und den State of the Art verschaffen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen.

Die Bandbreite der Zugänge in den 21 Beiträgen auf über 400 Seiten ist in der Tat eindrucksvoll. Alle Beitragenden arbeiten entweder an Universitäten oder in Museen. Immerhin vier Personen aus dem Globalen Süden sind vertreten: Safua Akeli Amaama vom Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa, Flower Manase vom Nationalmuseum Tanzania in Dar es Salaam, Osarhieme Benson Osadolor von der Universität Benin (Nigeria) und David Simo von der Universität Yaoundé (Kamerun). In disziplinärer Hinsicht stammen die Beiträge aus den Geschichtswissenschaften (8), aber auch aus der Rechtswissenschaft (4), der Ethnologie (4), der Kunstgeschichte (2), der Philosophie (1), der Museumswissenschaft (1) und der Medientheorie (1). Über die Hälfte der Texte wurde von Professor:innen verfasst. Wie prominent die Geschichtswissenschaft hier vertreten ist, fällt auf, allerdings findet sich darunter nur ein ausgewiesener Afrika-Historiker.

In der Einleitung wird die Restitutionsdebatte – ganz ähnlich wie bei Savoy und Hicks –historisch situiert. Auch die Herausgeber:innen artikulieren Forderungen nach schnellen Rückgaben in Richtung Politik und Museen (und sind damit vielleicht in der Tat von den letzten Entwicklungen überholt worden). Zeitlich gesehen wurde der Band unter dem Eindruck der Veröffentlichung des von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten verfassten Berichts geschrieben. Die Herausgeber:innen rekapitulieren zunächst die aus ihrer Perspektive wichtigsten Aspekte des Berichtes: Die dort genannten Zahlen würden „erschüttern” (S. 165). „Nach Einschätzung der Autorin und des Autors befinden sich 95 Prozent aller afrikanischen Kulturgüter in Europa oder allgemein im Globalen Norden” (S. 15), „Afrikaner*innen [können] ihre eigene Kultur und Geschichte nur in den Museen des Globalen Nordens bestaunen und studieren” (S. 16), deshalb sei eine neue Ethik der Beziehungen zwischen den Kontinenten nötig. Viele der folgenden Beiträge des Bandes arbeiten sich am Sarr/Savoy-Bericht ab, stimmen zu, differenzieren, widersprechen oder ergänzen.[7] Insofern ist das Buch eine Momentaufnahme, aber als solche aufgrund der Prominenz der Beitragenden und der disziplinären Bandbreite gewichtig.

Da der Sammelband sich an ein deutsches Publikum richtet, positionieren die Herausgeber:innen sich entsprechend innerhalb der deutschen Diskussion um die Restitution von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Letztere verbinden sie mit der Debatte um den Wiederaufbau des alten Berliner Stadtschlosses und der Errichtung des Humboldt-Forums, in dem die Sammlungen des ehemaligen Völkerkundemuseums Berlin ausgestellt werden sollten. Ende 2021 (also nach Drucklegung des Bandes) eröffnete das Humboldt-Forum – nicht ohne Protest – und einige der rückgefordeten Stücke der Sammlung sind in der Tat heute dort zu sehen. Wie die Herausgeber:innen konstatieren, sind auf diese Weise die „Themenkomplexe ‚Raubkunst‘ und koloniale Massenverbrechen zusammengeführt” (S. 16) worden, und zwar mitten in der Hauptstadt Deutschlands.

Der Band bringt die Vision zum Ausdruck, durch Restitution könne möglicherweise eine gemeinsame global geteilte Geschichtskultur entstehen. Zu Recht weisen die Herausgeber:innen darauf hin, dass durch die Restitutionsdebatte zwei Entitäten konstruiert werden: zum einen die „Herkunftsgesellschaft”, zum anderen die „Gesellschaft, die gegenwärtig die fraglichen Exponate besitzt” (S. 19). Eine gemeinsame Geschichtskultur erfordere ein hermeneutisches Verstehen durch Anerkennung und könne zur Versöhnung beitragen.

Transdisziplinärer Streit

Mit dem – missverständlichen – Untertitel Ein Kunst-Historiker-Streit wenden sich die Herausgeber:innen des Sammelbandes bewusst gegen eine Aussage der einstigen Bundesministerin für Kultur und Medien Monika Grütters, die von einem Streit ausschließlich unter Kunsthistoriker:innen sprach. Es seien mitnichten nur Kunsthistoriker:innen an der Debatte beteiligt. Die Herausgeber:innen lassen vielmehr Stimmen aus zahlreichen Disziplinen, namentlich der Ethnologie, Kunstgeschichte, Geschichte, Philosophie, Jura sowie Wissenschaftsgeschichte, zu Wort kommen. Die weitgehende Abwesenheit der Geschichtsdidaktik wird im Vorwort bemängelt, was verwundert, denn auch dieses Fach hat das Thema unterdessen für sich entdeckt.[8]

Die Altamerikanistin und Kulturanthropologin Viola König geht in ihrem Beitrag ausführlich auf das Verhältnis von Kunstgeschichte und Restitutionsdebatte ein: Die deutsche Kunstgeschichte sei ein öffentlich sichtbares, wichtiges Fach in Deutschland, das großen Einfluss auf die Kulturpolitik habe, sich jedoch bis in die 1990er-Jahre fast ausschließlich mit westlicher Kunst beschäftigt und somit eine „Nichtbeziehung zu Kolonialismus und Restitution” (S. 305) gepflegt habe. In der Besetzung sowohl der Leitungsgremien als auch des Beirats zum Humboldt-Forum 2011 dominierte wiederum die Kunstgeschichte. König vertritt den Standpunkt, dass es gerade der öffentlichkeitswirksame Austritt einer Kunsthistorikerin – nämlich Bénédicte Savoy – aus diesem Gremium im Jahr 2017 war, der dem Thema in der deutschen Kulturwelt vermehrt Aufmerksamkeit bescherte. Savoy machte auf die Leerstelle der kolonialen Kontexte der Sammlungen aufmerksam und wählte dabei eine drastische Sprache, unter anderem wollte sie wissen, „wie viel Blut von den Kunstwerken tropft“ (zit. n. König, S. 307).

Erst als ein Streit unter Kunsthistoriker:innen ausbrach, so ließe sich Königs These überspitzen, konnten die staatliche Kulturpolitik und ihre höchsten Repräsentanten wie etwa die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters das Thema nicht mehr ignorieren. König hat als Leiterin des ethnologischen Museums in Berlin jahrelang Konzepte für das Humboldt-Forum entwickelt, die letztlich nie umgesetzt wurden. Savoy gelang es durch ihren Austritt aus dem Beratungsgremium des Humboldt-Forums, durch den mit Felwine Sarr verfassten Bericht zur Restitution im Auftrag des französischen Präsidenten, durch ihre Bücher sowie durch ihre öffentliche Präsenz zu einem Motor der Debatte zu werden. Dass Savoy Kunsthistorikerin ist, sei bei alledem von zentraler Bedeutung, meint König. Vieles von dem, was Savoy in eloquenter Art und Weise vortrage oder schreibe, sei im Prinzip nicht neu (König verweist beispielsweise auf das Buch Nofretete will nach Hause des Ethnologen Herbert Ganslmeyer aus dem Jahr 1984). Neu allerdings sei, aus welcher disziplinären Perspektive es nun gesagt werde und wie breit diese Publikationen und anderen Äußerungen rezipiert werden.

Viele der Beitragenden in dem Band beschäftigen sich bereits seit Jahrzehnten mit Themen der außereuropäischen Welt, während andere sie derzeit neu entdecken. In mehreren Beiträgen ist – ähnlich wie bei König – eine gewisse Bitterkeit, manchmal gepaart mit Süffisanz oder Ironie zu erkennen, wenn es darum geht, dass dem Wissen und den Kompetenzen der oftmals in marginalen Aufmerksamkeitsbereichen tätigen Ethnolog:innen, Afrikahistoriker:innen und verwandten Disziplinen auch in den nun öffentlichkeitswirksam geführten Debatten immer noch wenig oder nicht ausreichend Aufmerksamkeit zuteilwird.

Bumerang

Der Bumerang ist eine Waffe, die einmal abgeworfen an einem gewissen Punkt ihre Richtung wechselt und zu ihrem Ursprungsort zurückkommt. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass er auch die Person treffen kann, die ihn geworfen hat. Übertragen auf das Feld der Restitutionsdebatte ist es durchaus möglich, dass Argumente, die vorgebracht werden, um das Ziel („Gerechtigkeit und moralische Wiedergutmachung“) zu erreichen, das Gegenteil bewirken. Auch hierzu finden sich im Sammelband Geschichtskultur durch Restitution einige warnende Stimmen.

Erhard Schüttpelz beispielsweise schließt seinen Beitrag Der kurze Moment der Restitutionsdebatte und seine lange Dauer mit der „grausamen Ironie”, „dass die Antikolonialisten von heute durch ihr Vertrauen auf die postkoloniale Staatsbildung das Erbe des Kolonialismus besiegeln werden, wo sie meinen, es zu bekämpfen und aufzulösen” (S. 54), da die heutigen aus ehemaligen Kolonien entstandenen Nationalstaaten ihre eigenen Interessen verfolgen würden, die nicht unbedingt denen der Herkunftsgesellschaften entsprächen.

Ähnlich argumentiert der Afrikahistoriker Andreas Eckert. Er legt dar, dass in jüngerer Zeit auf dem afrikanischen Kontinent immer mehr Museen gegründet würden und Intellektuelle in afrikanischen Ländern mit Forderungen aufträten, die Restitutionsdebatte müsse eine nationale Debatte werden (Flower Manase differenziert in ihrem Beitrag allerdings zwischen drei verschiedenen Akteursgruppen: dem Nationalstaat, den lokalen Gruppen und der Diaspora). Mit Verweis auf die lange Geschichte der afrikahistorischen Forschung stellt Eckert fest, dass diese – statt den grundsätzlichen Gewaltcharakter von Kolonialherrschaft gegen vermeintliche Leistungen der Europäer:innen aufzurechnen – vielfältige, polyphone, uneinheitliche, widersprüchliche und multidirektionale Geschichten zu Tage befördert hätte. Demgegenüber, so Eckert, würden Afrikaner:innen in der Restitutionsdebatte „in der Regel entweder als Opfer unwiderstehlicher europäischer Gewalt dargestellt werden oder als Personen, die mit fiesen Tricks übers Ohr gehauen wurden” (S. 258). Eine „gemeinsame Geschichte” sei unter solchen Bedingungen nicht zu schreiben.

Noch weiter geht der Beitrag von Brigitta Hauser-Schäublin, der die grundlegende Annahme, es gäbe „starre, auch durch die Zeit hindurch unwandelbare Gruppen mit homogenen egalitären Identitäten” (S. 56), als geschichtsvergessen kritisiert. Pointiert fragt sie, ob der Pro-Restitutionsdiskurs nicht vielmehr ein Diskurs zwischen der Elite Europas und derjenigen Afrikas sei, der die sozioökomische Situation breiterer Bevölkerungsschichten ausblende. In den Restitutionsdebatten (wie auch im Savoy/Sarr-Bericht) konstatiert sie einen Hang zur Verwendung emotionalisierender Begriffe, etwa ist von „cultural heritage” die Rede statt von „cultural property”. Heritage impliziere eine biologische Verbindung und suggeriere, Identitäten seien ebenso starr wie homogen. In dieser Fehlannahme liege auch die Krux des immer wieder angeführten Konzeptes von der „Herkunftsgesellschaft”. Die Protagonist:innen der Restitutionsdebatte selbst, so Hauser-Schäublins Feststellung, betrieben durch die Verwendung bestimmter Begriffe Politik.

David Simo schließt hier mit seinem Beitrag inhaltlich an. Als Kulturwissenschaftler interessiert er sich für unterschiedliche Erzählweisen der Vergangenheit. Die dichotome und hierarchische Sicht auf die Welt könne anhand der Objekte in ethnologischen Museen entlarvt werden, so seine Überzeugung. Die Narrative der ethnologischen Museen dienten der scheinbar empirischen Begründung von Hierarchien und Differenzen. In verschiedenen Beiträgen des Bandes wurde dieser Mechanismus in der europäischen bürgerlichen Geschichte verortet und mit dem Topos der „Rettung" beschrieben (siehe etwa der Beitrag von Rebekka Habermas, S. 79–100). Simo argumentiert, dass die ehemals zur Legitimation kolonialer Ideologien ausgestellten Kulturgüter Anfang des 20. Jahrhunderts von Europäer:innen zu „Kunst” umgedeutet worden seien. All diese Narrative blieben unverbunden nebeneinanderstehen. Das gesamte in Europa existierende Wissen über „Afrika” stellt Simo in Anlehnung an Mudimbes Idee der „Erfindung Afrikas“[9] in europäischen Texten als „koloniale Bibliothek” dar. Ziel müsse aber eine Überwindung dichotomer und hierarchischer kolonialer Weltdeutungen sein – etwa indem hybride Zwischenräume aufgezeigt würden.

In diesem Sinne steht Simos Beitrag in einem Spannungsverhältnis zu der Beobachtung Eckerts, dass ebendiese Zwischenräume in der Restitutionsdebatte kaum eine Rolle spielten. Wie Eckert bezieht auch Simo sich auf Achille Mbembes Rede über afrikanische Objekte in westlichen Museen aus dem Jahr 2018.[10] Ähnlich wie Mbembe sieht auch Simo die Gefahr, dass eine (zu) schnelle Restitution zu einer weiteren großzügigen Geste der Europäer:innen verkommen könne und eine systematische Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit weiterhin ausbliebe – ähnlich verfährt Osadolor in seinem Beitrag zur Kritik an der „Benin Dialogue Group“. Simo schlägt eine kooperative Semantisierung und ein gemeinsames Wundern über die „Tragödie der Geschichte” vor. Die aus kolonialen Kontexten stammenden Kulturgüter in westlichen Museen sollten zu Mahnmalen werden.

So stringent und beinahe hoffnungsfroh in der Einleitung über eine „global wirksame Geschichtskultur“ durch Restitution geschrieben wird, so widersprüchlich und komplex stellt sich das Bild dar, das in der Gesamtschau der einzelnen Beiträge entsteht. Klar wird, dass eine solche „global wirksame Geschichtskultur“ nicht innerhalb der nächsten Dekaden erreicht werden kann, sondern eher eine Jahrhundertaufgabe ist, wenn sie nicht gar – und das ist eher wahrscheinlich – eine Utopie bleiben wird.

Dies wird durch die sehr beeindruckende Fallstudie des Ethnologen Till Förster überdeutlich. Förster moniert die Abwesenheit lokaler Perspektiven in der Restitutionsdebatte. Ähnlich wie Hauser-Schäublin verweist er darauf, dass der lokale Raum nicht homogen und ohne gute Kenntnisse der Verhältnisse vor Ort schwer einzuschätzen sei. Er greift dazu auf die Ergebnisse seiner eigenen beinahe vierzigjährigen Forschungsarbeit im Norden der Côte d’Ivoire zurück. 1990 etwa sprach er dort mit erfahrenen Schnitzern über Kulturgüter aus europäischen Sammlungen. Bereits die in Europa üblicherweise verwendete „ethnische” Bezeichnung der Kulturgüter („Senufo") stellte sich in diesem Zusammenhang als koloniale Kategorie heraus, die historisch gesehen im lokalen Raum nicht verwendet wurde. Aber, „dass ethnische Gruppen und deren Kunst durch den Kolonialismus konstruiert wurden, heißt […] nicht, dass sie nach der Unabhängigkeit irrelevant wurden oder sind” (S. 167). Förster nimmt die Leserin mit in die Welt des Kunsthandels an der Côte d’Ivoire, die in den 1920er- und 1930er-Jahren von Hausa- und Senegal-Händlern geprägt war. Nach der Unabhängigkeit veränderten sich die Strukturen wenig, das heißt, die Praktik des Verbringens von Kulturgütern über regionale Handelsstrukturen auf den westlichen Kunstmarkt ging auch unter postkolonialen Bedingungen quasi ungebrochen weiter. Viele Kulturgüter wurden durch die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren, manchmal gar mit den Schnitzern selbst, gestohlen, andere wurden aufgekauft. Eine haarscharfe Trennlinie zwischen Tätern und Opfern zu ziehen, sowie Restitution ohne Kenntnis über derlei Praktiken umzusetzen sei, so Försters Fazit, „im Grunde unmöglich” (S. 179).

Der Sammelband zeigt, dass der Tsunami der Restitution auf sehr unterschiedliche Gegebenheiten trifft. Aus den Waffen, mit denen dieser Tsunami in Gang gesetzt wurde, könnte jedoch ein Bumerang werden. Wenn die ehemaligen Kolonialgebiete und die Menschen, die damals dort lebten, in der Restitutionsdebatte ausschließlich als Bestohlene, Besiegte, Ermordete und Gedemütigte wahrgenommen und behandelt werden, wird deren lange Geschichte unzureichend reduziert und stereotyp verengt. Verfestigt die Restitutionsdebatte also alte Stereotype über Afrika? Im Moment sieht es danach aus.

  1. „Restitution, Return, Repatriation and Reparation (The 4Rs) in Africa: Reality or Transcultural Aphasia?”, organisiert von der IFG5 des Merian Instituts for Advanced Studies an der University of Ghana, Africa am 13.–14.12.2021).
  2. „The Long History of Claims for the Return of Cultural Heritage from Colonial Contexts“, organisiert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste am 17.–18.11.2021); das Video von Savoys Abendvortrag ist in voller Länge verfügbar.
  3. Ähnlich formulierte sie dies in der Folge in verschiedenen Formaten. Die Metapher entlehnte sie anscheinend einer Aussage des Kulturministers der Republik Benin ihr gegenüber. Bereits im März 2021 verwendete Savoy diese, als sich verschiedene deutsche Museen und die deutsche Außenpolitik zu möglichen Rückgaben an Nigeria äußerten, vgl. Benin-Bronzen: Kunsthistorikerin Savoy spricht von "kulturellem Mauerfall", in: https://www.dw.com, 28.3.2021; Nicola Kuhn, Der Schmerz bleibt, in: Der Tagesspiegel online, 21.11.2021; Claudia Mäder, Bénédicte Savoy: «Vor einigen Jahren sagte der Kulturminister von Benin zu mir: Wenn es eines Tages zu Restitutionen käme, wäre es wie der Fall der Berliner Mauer», in: https://www.nzz.ch, 8.12.2021.
  4. Er erschien sowohl online als auch gedruckt gleichzeitig auf Französisch und Englisch. Mittlerweile ist er – leicht gekürzt – auch auf Deutsch übersetzt: Vgl. Felwine Sarr / Bénédicte Savoy, The Restitution of African Cultural Heritage, Toward a New Relational Ethics, 2018; dies., Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019.
  5. Vgl. https://www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2019_04/633464-633464.
  6. Das unterscheidet den Band deutlich von anderen Büchern, die inhaltlich ähnlich argumentieren, bereits früher erschienen sind, aber nicht annähernd die gleiche mediale Beachtung fanden bzw. mittlerweile in der Aufmerksamkeit völlig untergegangen sind, vgl. etwa Moritz Holfelder, Unser Raubgut. Eine Streitschrift zur kolonialen Debatte, Berlin 2019.
  7. Am deutlichsten sticht der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz heraus, der gleich zwei Kommentarstränge dazu veröffentlicht.
  8. Vgl. die Sonderhefte von Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9/10 (2021) und der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), ebenso: Bernd-Stefan Grewe, Das schwierige Erbe des Kolonialismus. Probleme und Potenziale für den Geschichtsunterricht, in: Marianne Bechhaus-Gerst / Joachim Zeller (Hg.), Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2021, S. 475–504.
  9. Valentin Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge, Bloomington et al. 1988.
  10. Achille Mbembe, Reflections on African Objects and Restitution in the Twenty-First Century, Acceptance Speechfor Gerda Henkel Prize 2018; die Rede ist auch in gedruckter Form erschienen: Achille Mbembe, Of African Objects in Western Museums, Verleihung des Gerda Henkel Preises 2018, herausgegeben von der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf 2019.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Erinnerung Geschichte Gewalt Kolonialismus / Postkolonialismus Kultur Kunst / Ästhetik Recht

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Stefanie Michels

Stefanie Michels leitet die Abteilung Globalgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2021 führte sie gemeinsam mit Aba Gertrude Mansah Eyifa-Dzidzienyo eine Internationale Fellow-Group zum Thema Restitution am Merian Center for Advanced Studies in Africa an der University of Ghana durch.

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