Hanna Engelmeier | Rezension | 02.02.2022
Von kollektiven Assemblagen und digitaler Textualität
Rezension zu „Postprint. Books and Becoming Computational“ von N. Katherine Hayles

N. Katherine Hayles veröffentlichte bereits 1999 mit How We Became Posthuman ihre Anthropologie eines gewissermaßen computerisierten Menschen. Darin verband sie medientheoretische Überlegungen zu Digitalität mit Literaturgeschichte, wobei sie schon damals davon ausging, dass sich menschliche Intelligenz den Affordanzen von Computern anverwandelt. Diese Entwicklung kommt im für Hayles’ zentralen Begriff „Posthuman“ zum Ausdruck und schreibt die Geschichte der menschlichen Evolution als Koevolution von Menschen und Maschinen fort.
Individuelle und kollektive Kognition
Wohl wissend, welche historiografischen sowie methodischen Probleme und Kontroversen mit ihrer eigenen Begriffsbildung, aber auch mit anderen Post-Bindestrich-Begriffen einhergehen, greift Hayles in ihrer neuesten Studie Postprint. Books and Becoming Computational gleich zu Beginn möglicher Kritik vor: „‚Oh no,‘ I hear you groan, ‚not another ‚post-‘‘!“ Das Phänomen und die Epoche, mit denen sich Hayles beschäftigt, seien aber so begriffsbedürftig, dass sie dabei bleiben müsse, beide unter „Postprint“ zu subsumieren. Das Präfix „Post-“ bezeichne dabei „wie immer“ Nachfolge und Verdrängung, Fortsetzung und Bruchstellen (S. 2). Als Epoche des Postprint bestimmt Hayles den Zeitraum von 1950 bis 2000, in dem sich die Transformation von analoger zu digitaler Buchproduktion vollzogen habe. Damit sei ein Umbruch vonstattengegangen, der nur mit der Erfindung der Gutenberg’schen Druckpresse vergleichbar sei, so die Autorin. Zwar werden nach wie vor Papierexemplare produziert, aber auch diese gedruckten Bücher beruhen im Zeitalter des Postprint grundsätzlich auf einem digitalen Code, der allerdings bei den unterschiedlichen Interfaces zur Lektüre (gedrucktes Buch, Tablet, Reader, Smartphone etc.) unsichtbar bleibt.
Hayles’ These ist nun, dass sich dadurch das Verhältnis von Materialität und Immaterialität der (Text-)Medien verschiebt. Darüber hinaus verändert sich grundlegend, wie Menschen mit Texten umgehen, das heißt: wie sie sie lesen und schließlich das Gelesene verarbeiten und speichern. Die genannten Prozesse passen sich nämlich laut Hayles der Art und Weise an, in der die Texte gemacht und vorgelegt werden, und zwar vor allem, weil die Buchproduktion unserer Tage mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Hayles sieht hier einen von Menschen und Computern gemeinsam geleisteten Kognitionsprozess am Werk, der das Zentrum der kognitiven Revolution des Postprints bildet. Kognition definiert Hayles mittels eines Selbstzitats als einen „process of interpreting information in contexts that connect it with meaning“ (S. 6).
Mit weitreichenden Folgen spricht sie dieses Vermögen nicht allein Menschen, sondern auch anderen Lebewesen und eben Maschinen zu. Dieses Vermögen ist jedoch nicht nur auf der Ebene von Individuen zu betrachten, meint Hayles und dehnt den Begriff noch weiter aus:
„I also want to emphasize that interpretations and meaning-making practices circulate through transindividual collectivities created by fluctuating and dynamic interconnections between humans and computational media, interconnections that I call cognitive assemblages.“ (S.8)
An solchen Assemblagen nehme man unweigerlich teil, sobald man mit dem Handy telefoniere, einen Lichtschalter betätige oder Lebensmittel bei Amazon bestelle – schließlich seien alle Bereiche unseres alltäglichen Lebens von computerbasierten Medien durchdrungen und würden ohne sie überhaupt nicht mehr funktionieren.
Das schon auf den allerersten Seiten des Buches vorgestellte, sehr dichte und theoretisch voraussetzungsreiche Konzept der „kognitiven Assemblage“ entwickelt Hayles in den darauffolgenden fünf Kapiteln und verfolgt seine Wirksamkeit in unterschiedlichen Bereichen von Textkulturen. Zugleich möchte sie – zumindest bezüglich des Lesens von Printtext – die verschiedenen Schichten von Schrift, Programmcode und Interface sichtbar machen. Sie fügt in ihre Studie gelegentlich einzelne Seiten mit dem HTML-Code ein, auf dem bestimmte Zitate der Druckseite des Papierbuchs beruhen. Der Code ist, wie meist auf den Bildschirmen von Programmierenden, weiß auf schwarz gedruckt und soll die verschiedenen Schichten zeitgenössischer medialer Materialität veranschaulichen. Daneben fallen die mit kleinen schwarzen Quadraten bedruckten Seitenleisten auf. Die Ornamente erinnern an pixelige Grafiken, finden darüber hinaus aber wenig Resonanz in Hayles’ Theoriebildung. Das liegt möglicherweise auch am Maximalismus eines anthropologischen Konzepts wie dem der „kognitiven Assemblage“, der allzu knapp erläuterten zentralen Begriffen wie beispielsweise dem Lesen gegenübersteht.
Entgegen Hayles’ in den Eingangssätzen geäußerter Vermutung habe ich ihren Text nicht auf Papier, sondern als PDF auf dem iPad und dem Computerbildschirm gelesen und mit den unterschiedlichen, jeweils zur Verfügung stehenden Annotationsmöglichkeiten bearbeitet: handschriftlich mit dem Apple-Pencil und mit den Kommentar-Tools des Acrobat Readers. Was als Buchseite auf dem jeweiligen Interface erscheint, kann ich dementsprechend und insbesondere durch die vor allem ornamental wirkende Buchgestaltung auch als Bild auffassen. Ein fachsprachliches Kunstwort wie „Schriftbildlichkeit“, das – bei aller akademischen Sperrigkeit – insbesondere in Leseszenen wie der hier beschriebenen unmittelbar sinnfällig wird, führt Hayles allerdings nicht ein. Vielmehr versucht sie immer wieder, der Leserschaft die verschiedenen Schichten der Buchproduktion zu vergegenwärtigen. Die Leserinnen und Leser beherrschen aber vielleicht gar kein HTML oder andere Programmiersprachen und bekommen durch den abgedruckten Code vor allem ihr diesbezügliches Defizit vorgeführt.
Zur Intelligenz von Maschinen
Um verständlich zu machen, wie Print zu Postprint wurde, untersucht Hayles im zweiten Kapitel des Buches, wie die kognitiven Aufgaben zwischen Mensch und Maschine verteilt sind, wenn es um das Erzeugen von und den Umgang mit Büchern geht. Dabei fasst sie die vor allem auch andernorts gut erforschte Technikgeschichte knapp zusammen, beginnend mit der Erfindung des Paige Compositors im späten 19. Jahrhundert über die Glasfaseroptik in den 1970er-Jahren bis hin zum Lumitype Phototypsetters in den 1980er-Jahren. 1990 stellte die Firma Xerox die DocuTech-Maschine vor, die verschiedene Schritte des Print-Produktionsprozesses, für die zuvor mehrere Geräte notwendig waren, ausführen konnte. Hayles’ Erläuterungen gipfeln schließlich in der Herstellung der sensorischen Empfindlichkeit von E-Reader-Oberflächen. Dabei findet eine Kollaboration von Gerät und lesender Person statt: „cognizer“ (auf Deutsch in etwa: Kognition Leistende), zu denen eben sowohl Menschen als auch Lesegeräte gehören, nehmen in für Hayles bisher größtmöglichem Maß wechselseitigen Einfluss aufeinander. Die Auseinandersetzung mit deren Verhältnis beendet den historischen Durchgang der Autorin.
In der Tradition ihrer eigenen Forschung zum Posthumanismus ist die Autorin von der Frage danach geleitet, ob die jeweiligen Maschinen intelligent sind – und nicht, ob sie denken können. Hayles vermeidet das Verb „denken“ bewusst zugunsten des Begriffs der „Kognition“, um eine anthropozentrische Verzerrung ihrer Überlegungen zu verhindern (S. 49). Die über das Buch verteilten Ausführungen zur oben genannten Frage erinnern an Alt- und bisweilen Gutbekanntes (bspw. an Hayles’ eigene Forschung!). Das mag auch an Hayles’ extensiver und (erfreulich) skrupulöser Zitierpraxis liegen, mit der sie zwar eine Art Literaturübersicht schafft, aber nicht unbedingt einen Nachweis für die Tragfähigkeit ihres zentralen Konzepts der „kognitiven Assemblage“ liefert. Dass sich diese Assemblagen ‚halt irgendwie‘ in den geschilderten historischen Situationen wiederfinden, mag sein, aber was die Einführung eines voraussetzungsreichen Kompositums an neuen Einsichten liefert, bleibt unklar.
Wissenschaftliches Publizieren im Postprintzeitalter
Ein wirklich originärer Beitrag ist hingegen das dritte Kapitel des Buches, das auf Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern großer Universitätsverlage aus den USA beruht. Hayles schildert hier sehr aufschlussreich die Publikationsstrategien, mit denen prestigeträchtige Häuser wie Columbia oder Duke University Press reduzierten Bibliotheksanschaffungen und sinkenden Privatkäufen, erhöhten Publikationskosten und dem E-Book-Segment begegnen. Zu ihrem eigenen Anliegen passt dies insofern, als die Verlage mit „mixed ecologies“ umgehen müssen. Sie entwickeln „networked books“, die als rein digitale Formate beispielsweise einen Quellenanhang haben, der das Format herkömmlicher, analog publizierter Bücher sprengen würde.
Die Interaktion, die hier zwischen Autoren, Leserinnen, Texten und Software stattfindet, ist für Hayles der Beleg für die Existenz kognitiver Assemblagen:
„All of the issues articulated earlier [gemeint sind hier Eigenheiten des wissenschaftlichen Publizierens im Postprintzeitalter, H.E.] – speed, accessibility, interoperability, remixing, software as collaborator, and criteria for scholarship – crucially depend on envisioning postprint book productions as cognitive assemblages, so it may be regarded as the umbrella term under which everything else fits.“ (S. 130)
Wiederum scheint der Begriff aber vor allem für Hayles selbst absolut notwendig: Alle ihre Gesprächspartnerinnen und -partner haben sich zuvor vor allem auf ökonomische Aspekte oder die Funktionalisierung von Forschungsliteratur in akademischen Berufungsverfahren konzentriert.
Postprint-Lektüren
Das vierte Kapitel wendet die bislang erarbeiteten Einsichten schließlich bei der Analyse von Romanen an. „[N]ot so much [to] seek to arrive at a conclusive answer to that conundrum as to clarify the stakes, analyze the contributing factors, and, most of all, argue that postprint and the related concept of cognitive assemblages should become part of the intellectual tool kit for people interested in these issues.“ (S. 169) Hayles führt The Silent History (2014) von Eli Horowitz, Matthew Derby und Kevin Moffet und The Word Exchange (2014) von Alena Graedon als Postprint-Romane ein. Die Kategorisierung stützt sich jedoch allein auf den Inhalt der Romane, die sich eben mit den Themen von digitaler Textverarbeitung, Posthumanismus und so weiter befassen, die auch Hayles beschäftigen. Müssten nicht auch formale Elemente eine Rolle spielen, um eine neue Gattung zu benennen? Und müssten nicht mehr als zwei oder drei exemplarisch analysierte Texte, die (noch zu definierenden) Gattungsmerkmale aufweisen?
Kapitel 3 und 4 des Buches machen besonders deutlich, inwiefern Hayles’ Auseinandersetzung mit Lektüre und (historischer) Leseforschung eigentümliche Leerstellen aufweist. Denn sie konzentriert sich zu sehr auf die Art und Weise, in der wir ambitionierte Romane und wissenschaftliche Studien rezipieren. Annotation, Exzerpieren, Zitieren und alles, was Lektüre mit Schreiben verbindet, ist ein Ausnahmefall im Umgang mit Texten. Jede Form von Alltagslektüre in Sozialen Medien, von Zeitungen, Verpackungsaufschriften, Plakaten oder Waschzetteln müsste doch auch mit dem Konzept der „kognitiven Assemblage“ zu erfassen sein, wenn dieses als neues Paradigma für die Gegenwart haltbar sein sollte. Jedoch sind keine Hinweise darauf erkennbar, wie Hayles hier Übertragbarkeit herstellen oder gar absichern will.
Daran ändert auch das letzte Kapitel nichts, auch wenn es eine erhellende und sorgfältige Lektüre des Werks Between Page and Screen (2012) von Amaranth Borsuk und Brad Bouse anbietet. Der Inhalt des Gedichtbands ist vom menschlichen Auge nicht zu erfassen: Auf seinen Seiten sind Codes abgedruckt, die nur eine Digitalkamera auslesen und als Webseitenadressen interpretieren kann.[1] Eine derartige Verbindung von Print- und Digitaltechnologie bezeichnet Hayles als die „celebration of the book“, die anzeige, dass „digital textuality has not led to the demise of print, as some have predicted, but on the contrary has stimulated a renewed interest in book history, book culture, and ‚bookishness‘ in general“ (S. 179).
Das ist sicherlich richtig. Schließlich beruft sich Hayles besonders häufig auf Dennis Tenens Plain Text (2017), aber auch auf Matthew Kirschenbaums Track Changes (2016), beides exzellente Studien zur Frage nach Textualität als Digitalität. Sie nennt aber auch Autorinnen und Autoren wie Johanna Drucker, Bernhard Stiegler und andere Forschung, die auf der Tradition der sogenannten german media theory basiert. Zumindest weiß man am Ende von Hayles’ Studie, welche Texte aus ihrem Handapparat man noch einmal durchgehen möchte, um daraus Instruktives zu erfahren.
Fußnoten
- Eine genauere Beschreibung des Projekts ist hier zu finden.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Wissenschaft
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