Carsten von Wissel | Rezension |

Von Twitter aus in den Plenarsaal

Rezension zu „#IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland“ von Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon und zu „#95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft“ von ebd. (Hg.)

Am 31. Oktober 2020 haben die drei Wissenschaftler:innen Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon auf Twitter unter dem Hashtag #95vsWissZeitVG dazu aufgerufen, das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und seine problematischen Effekte zu kommentieren.[1] Die Resonanz war groß, und ein Jahr später lag der kleine Sammelband #95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft vor. Er besteht aus drei Essays der Herausgeber:innen und zehn kurzen Testimonials, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem deutschen Universitätssystem befassen. Der Historiker Sebastian Kubon geht im ersten Essay der Geschichte der heute allgegenwärtigen Befristungspraxis nach. Er sieht das Befristungswesen als mehr oder weniger direkte Folge der Hochschulexpansion der frühen 1970er-Jahre. 1985 seien im Hochschulrahmengesetz dann bundesweit kodifizierte Befristungsregelungen fixiert worden, die allerdings einen mindestens 10-jährigen Vorlauf gehabt hätten. Bereits seit Mitte der 1970er-Jahre schon sei beim deutschen Wissenschaftsrat die Rede von einer Gefahr der „Verholzung“ von Personalstrukturen gewesen, der man mit Befristung begegnen müsse.

Im zweiten Teil seines Textes stellt Kubon die Rechtfertigungsnarrative für flächendeckendes Befristen vor. Einerseits habe die Überzeugung geherrscht, dass Neues nur erforscht werden könne, wenn die forschenden Personen regelmäßig ausgetauscht würden und auf diese Weise kontinuierlich neuer Input das System bereichere; andererseits habe man Wissenschaftsorganisationen als Qualifizierungssysteme angesehen. Beides hält Kubon für nicht überzeugend, für Gedanken, die weder Menschen noch Organisationen gerecht würden und zudem in sich widersprüchlich seien. Zu allem Überfluss, so der Autor, hätten derartige Ansichten auch epistemische Konsequenzen, prämierten sie doch Netzwerkwissen und Beharrungsvermögen statt wissenschaftlicher Kompetenz.

Die Germanistin Kristin Eichhorn untersucht in ihrem Beitrag das Verhältnis zwischen dem Wissenschaftssystem und den darin tätigen Personen. Warum, fragt sie, blickten Menschen so irrational auf ihr System und ließen sich so vieles, das in anderen Beschäftigungsbereichen nicht durchginge, bieten? Eichhorn macht im Kern toxische Beziehungsmuster zwischen dem Wissenschaftssystem und den es nährenden Menschen dafür verantwortlich. Sie spricht von Gaslighting und buchstabiert aus, was sie damit meint. Zum einen werde Verantwortung in hohem Maße individualisiert zugeschrieben: Wer es nicht schaffe, eine Professur zu erringen, sei am Ende halt selbst schuld. Nicht für Geld, sondern für die Sache arbeite man und gebe aus Überzeugung mehr als 100 %. Und selbst wenn den Betreffenden aufginge, dass es irrational sei, stets freiwillige Selbstausbeutung zu betreiben und damit das System am Laufen zu halten, erscheine es im selben Moment doch alternativlos, etwa weil man Studierende doch nicht hängen lassen dürfe. Dieser Umstand führe zu immer neuen gefühlten moralischen Erpressungssituationen für die Beschäftigten.

Im dritten Essay des Bandes setzt sich die Philosophin Amrei Bahr mit dem Gerechtigkeitsargument auseinander, demzufolge auch anderen, die momentan keine Qualifikationsstelle im Wissenschaftssystem hätten, solch eine Stelle zustünde; um hier einer möglichst hohen Anzahl an Menschen eine Möglichkeit zu bieten, sei man quasi gezwungen, Stellen zu befristen. Folglich seien Dauerstellen schlichtweg keine Option. Bahrs Kritik des Argumentes setzt zunächst daran an, dass im Diskurs nicht zwischen vor und nach der Promotion differenziert würde, und zeigt, wie aus dieser Nichtdifferenzierung eine Rechtfertigung für die Tatsache gewonnen werde, auf beinahe sämtlichen Karrierestufen des Wissenschaftssystems zu befristen. Die Gründe, mit denen für Promotionen keine Dauerstellen einzurichten seien, würden zum Argument dafür, alle Stellen unterhalb der Professur zu befristen. Und dann sei da noch, betont Bahr, das Problem, dass das Wissenschaftssystem bereits ungleich verteilte Privilegien reproduziere, weil Prekarisierungsrisiken und Zukunftsunsicherheit in unterschiedlichen sozialen Lagen Unterschiedliches bedeuten würden.

Im zweiten Teil des Bandes folgen zehn Testimonials, kurze Beiträge, die ich in Hinblick darauf gelesen habe, ob sie zentrale Leistungsdefizite des Systems herausarbeiten. (Deshalb werden nicht alle der Beiträge im Folgenden erwähnt.) Den Aufschlag macht Achim Landwehr, auf Twitter als #Hannaschef zu einiger Bekanntheit gelangt. Er antwortet im Mai auf ein im Februar datiertes Schreiben, in dem er bis Ende April um Zusage über seine Mitwirkung an einem Sammelband zum Thema prekäre Arbeit in der Wissenschaft gebeten worden war. Er sagt ab, und begründet ausführlich: Er sei Dekan, keine Zeit habe er nicht, allerdings käme ihm die Obliegenheit zu, darüber zu entscheiden, welche der vielen möglichen Aufgaben verzichtbar seien. Auch an Dekansweiterbildungen des Deutschen Hochschulverbandes teilzunehmen, sei ihm nie gelungen. Larmoyanz habe im deutschen Universitätssystem keinen Platz, schreibt er und all diejenigen, die sie praktizierten, müssten sich fragen lassen, was sie selbst täten, um den beklagten Zuständen abzuhelfen. Jedenfalls missfalle ihm, dass mit Projekten eingeworbene Mittel offenbar weit wichtiger seien als die Ergebnisse derselben Projekte. Sein Fazit: Leute würden in das Wissenschaftssystem gelockt, nicht, um ihnen eine Perspektive zu bieten, sondern, um die Maschinerien des Systems am Laufen zu halten.

Cornelia Kenneweg, Hochschuldidaktikerin, formuliert fünf ihrer Beobachtungen zum Thema Lehre. Zunächst fehle es vielen an der Universität Lehrenden vor allem an Zeit für gute Lehre (1). Die Notwendigkeit, sich in der Forschung zu profilieren, gehe auf Kosten der Möglichkeit, sich in Sachen Lehre mit Kolleg:innen auszutauschen (2). Hochschuldidaktische Angebote seien anderslautenden Annahmen zum Trotz dennoch wenig geeignet, hier Abhilfe zu schaffen, weil sie zwar als Angebot, zugleich aber auch als zusätzliche Belastung wahrgenommen würden (3). Fördermöglichkeiten für gute Lehre passten zudem nicht immer zu den Bedarfen, weil es dabei in der Regel und im Vergleich zur Forschung einfach um zu wenig Geld gehe (4). Zuletzt erwähnt Kenneweg den prekären Status der Hochschuldidaktik zwischen Wissenschaft und Verwaltung (5).

Die Historikerin Hedwig Richter beschreibt absurde Ausprägungen hierarchischen sozialen Interagierens im Wissenschaftssystem. Ihrer Erfahrung nach würden beinahe alle, die in der Wissenschaft arbeiteten, Geschichten kennen, in denen etwa nächtens am Bahn­hof gestrandete Ordinarien ihre Assistent:innen anriefen mit der Bitte, sie am entsprechenden Bahnhof aufzulesen. Derart skurrile, aber dennoch alltägliche Begebenheiten kommentiert Richter treffend: Es gebe zu viel Unfreiheit im Wissenschaftssystem, insbesondere für Postdocs.

Christina Hölzel, Fachtierärztin für Mikrobiologie und Professorin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, berichtet darüber, wie es bei ihr gut gegangen sei, nämlich mit einer Mischung aus Leistung, Glück und Timing. Zu Ersterem seien die meisten fähig, eigentlich alle, die promoviert haben, findet sie. Punkt zwei und drei seien aber nicht allen beschieden. Das Beispiel Hölzel zeigt einmal mehr, wie das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit seinen Ergänzungen, etwa dass bleiben kann, wer die Mittel für die eigene Stelle selbst einwirbt, die Individualisierung im Wissenschaftsbetrieb weiter vorantreibt, weil es diejenigen bestraft, die auch an andere Menschen wie Dinge als nur an sich selbst denken.

Außerdem berichtet Hölzel darüber, was sie als Professorin gelernt habe. Nämlich dass es zum Beispiel Leute und keine Stellen seien, die lehrten. Diese simple Erkenntnis führe vor Augen, dass die Lehre zum Großteil von befristeten Dritt­mittelbeschäftigten (die sie machten, um beispielsweise ihre künftigen Berufungschancen zu verbessern) übernommen werde. In der Folge würden eigentlich verfügbare Dauerstellen nicht besetzt und immer gleiche Daueraufgaben von immer neuen Menschen wahrgenommen, die stets die immer gleichen Anfängerfehler (etwa zu volle Folien, mit zu viel Text und nicht erklärten Grafiken etc.) wiederholten, so dass ganze Studierendengenerationen fast alle ihre undergraduate Lehrveranstaltungen bei Lehranfänger:innen verbringen würden – ein hoher Preis dafür, ein System wie gewohnt am Laufen zu halten. Hölzel zeigt damit klar, wie absurd das Paradigma ist, dass nur professorale oder neue Angestellte Innovation und Qualität ins System brächten.

Der jüngst erschienene Band #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland – vom Verlag als „die Streitschrift zur Onlinekampagne“ beworben – ist von anderer Art und unterscheidet sich entsprechend stark von seinem Vorgänger. Es handelt sich um eine von den drei Initiator:innen des viel genutzten Hashtags verfasste Monografie. Sie beginnt mit einem Abschnitt dazu, wie aus einem Tweet (S. 7) erst ein Hashtag und später eine kollektive Episode, ja fast schon eine soziale Bewegung wurde, die bis in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition Spuren hinterlassen hat (S. 10). Die Autor:innen beschreiben unter anderem, wie die unbeholfenen Reaktionen aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie das unreflek­tierte Alternativlosigkeitsgerede von Vertreter:innen der Hochschulrektorenkonferenz (S. 19) dazu beitrugen, die Situ­ation weiter aufzuschaukeln.

Die Beschreibung der Entwicklung bis zum jetzigen Status quo beginnt damit, dass Universitäten heutzutage gar nicht mehr die „Rahmenbedingungen der Forschung“ stellen würden, sondern nur noch diejenigen für die „Konzeption potenzieller Forschung“ (S. 27). Dabei hätten befristet beschäftigte Wissenschaftler:innen den Autor:innen zufolge mehr Gemeinsamkeiten mit Uber-Fahrer:innen als zum Beispiel mit auf Lebenszeit angestellten Schul­lehrer:innen: In beiden Systemen, der Wissenschaft wie auch dem plattform­kapitalistisch vermittelten Personentransportgewerbe, habe man mit inhaltlicher Kernarbeit kaum mehr die Möglichkeit, Karriere zu machen oder auch nur eine sichere Anstellung zu erhalten (S. 28).

Bahr, Eichhorn und Kubon beschreiben außerdem einen Wandel in der Art und Weise, wie verschiedene öffentliche Stellen sich zu den Aufgaben, Problemen und Tätigkeiten von Wissenschaftler:innen unterhalb der Professur äußern. Eine wert­schätzende Kommunikation sei einer herabsetzenden gewichen, die meine, es nur noch mit Massen statt mit Individuen zu tun zu haben. Wo in den frühen 1960er-Jahren auch beim Wissenschaftsrat noch von einem Stellenmangel die Rede war (S. 34), schrieb man schon wenige Jahre später plötzlich von einem Überangebot an Bewerber:innen. Als nehme sich der Politikbetrieb die von ihm selbst in Gang gesetzte Hochschulexpansion übel und agiere das nun an den Menschen im Wissenschaftssystem aus.

Hinzu sei eine Technisierung des universitären Wissenschaftsbetriebs gekommen, denn es galt, immer mehr Menschen durch das System schleusen zu können. Losungen wie diejenige von der Untertunnelung des Studenten­berges, bei dem man wider besseres Wissen suggerierte, dass es sich tatsächlich um einen Berg und kein Plateau handele, brachen sich Bahn. Und auch die (Un-)Art, Qualifi­kand:innen als Sozialmaterial, als Mittel zu Zwecken anzusehen und zu behandeln, nahm in diesen Jahren ihren Anfang, ebenso wie ein Gerede von drohenden Verholzungen der wissenschaftlichen Perso­nalstruktur, die auch deshalb verhindert werden müsse, weil man gar nicht wisse, was die Studie­renden in 10 Jahren überhaupt würden studieren wollen (S. 37).

Darauf wiederum habe eine vom New Public Management angeregte Denkweise auf­gesetzt, der zufolge dem trägen Wissenschaftsbetrieb mit einer Trias aus Effizienz, Elite und Evaluation (S. 39) beizukommen sei. Aus einer Melange von Motiven (von denen gar nicht alle als schlecht verworfen werden müssen) sei man seit den späten 1990er-Jahren mit einer Situation konfrontiert, die dadurch geprägt sei, dass Entscheidungen darüber, ob jemand im Wissenschaftssystem verbleiben dürfe, immer weniger wissenschaftlichen Kriterien, sondern viel eher innovations-, zum Teil auch gleichstellungspolitischen Agenden und organisationalen Strategien folg­ten (S. 44). Befördert, so die Feststellung der Autor:innen, würden nicht die Besten, sondern bestenfalls die Besten aus einer nach bestimmten Kriterien vorsortierten Gruppe von Menschen.

In diesem Zusammenhang spielten Bahr, Eichhorn und Kubon zufolge auch Dogmen eine Rolle. Da sei zunächst das Dogma, dass Fluktuation für Innovation unerlässlich und das Wissenschaftssystem primär ein Qualifizierungssystem sei. Es wird ein Denken perpetuiert, dass es erfolgreich schafft, der Gesellschaft die Idee zu verkaufen, dass in der Wissenschaft andere Regeln gelten müssten als überall sonst in der Arbeitswelt. Wo in beinahe allen anderen Bereichen Erfah­rung durchaus als Kompetenz anerkannt würden, soll das im Wissenschaftssystem aus rätselhaften Gründen nur für Professor:innen, ja fast nur für eine Elite unter ihnen, gelten (S. 48).

Anschließend machen sich die Autor:innen daran, zu zeigen, wie das Mantra der personellen Fluktuation wissen­schaftliche Forschung entgegen aller Dogmen tatsächlich hemmt (S. 49 ff.). Das fange damit an, dass die Zahl der Forschungs­bereiche, in denen die Wissenschaft nicht als attraktiver Arbeitsbereich gelte, immer stärker zunehme (S. 51). Das habe neben der Abwanderung hochqualifizierter Leute in die Privatwirtschaft auch Kosten in Hinblick auf die wissenschaftliche Qualität dessen, was geforscht werde. Das Gleiche gelte für die aus der knappen Anzahl an vorhandenen Stellen resultierende Konkurrenz, die zu einer unhinterfragten und allgegenwärtigen Institution des Wissenschaftsbetriebes geworden sei. Sie sorge faktisch für eine innere Rückwärtsorientierung des Forschungsförderbetriebes, weil vergangene Meriten der Geförderten für den Förderer sehr wichtig seien, um damit in der Gegenwart glänzen zu können. Der Forschungsförderbetrieb halte also nicht nur Leute vom eigentlichen Forschen ab, sondern lenke den Blick weg von den Potenzialen gegenwärtiger Forschung zu Bewertungen vergangener (S. 60). Übertragen auf den Bereich der öffentlichen Sicherheit sei das in etwa so, als würde die Polizei vor allem Konzepte zur Verbrechensbekämpfung entwickeln anstatt tatsächlich Verbrechen zu bekämpfen.

Das dritte Kapitel des Buches trägt die Probleme des deutschen Wissenschaftssystems zusam­men. Die Uferlosigkeit des Qualifikationsbegriffes sorge dafür, dass Zukunftsperspektiven für die Phase nach der Promotion unklar seien. Die dadurch entstehende Intransparenz sorge, so die Autor:innen, für große Unsicherheit: Am Ende könne jede berufliche Entscheidung zum eigenen Vor-, genauso aber auch zum Nachteil werden, so zum Beispiel eine fehlende aber auch eine vorhandene Habilitation (S. 68). Diese Uferlosigkeit des Qualifikationsbegriffes garantiere zugleich dessen universelle Anwendbarkeit, so dass zunehmend auch bei Stellen befristet würde, wenn es gar nicht um wissenschaftlichen Qualifikationserwerb geht. Zugleich werde die Arbeitszeit derart entgrenzt, dass das wissenschaftliche Weiterkommen – das stets vorgetragene Argument für die umfassende Befristungspraxis – als eine Art Privatangelegenheit der Betreffenden angesehen werde, weil die Beschäftigten in ihrer regulären Arbeitszeit all die ihnen obliegenden Dienstleistungsaufgaben zu erledigen haben und eigene Forschung nur in der Freizeit möglich ist. Außerdem sei es in der Praxis bei aller Komplexität der Materie durchgängig üblich, keine Arbeitsverträge zu schließen, sobald auch nur im Geringsten damit zu rechnen sei, jemand würde versuchen, sich nach dem Auslaufen eines befristeten Vertrages einzuklagen.

Und dann sei da noch das Kapazitätswesen. Überkommen aus Zeiten, in denen es im Rahmen der Bildungsexpansion vor allem galt, maximal vielen Interessierten ein Hochschulstudium zu ermöglichen, würden bis heute Verhältnisse reproduziert, die einem Mangel an Studienplätzen geschuldet waren. Allerdings hat sich die Wirkrichtung inzwischen umgekehrt, nämlich einerseits gegen die Studie­renden, die zu gut zu betreuen in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unter das unsägliche juristische Fachverdikt der unzulässigen Niveaupflege fällt, andererseits hindern die Kapazitätsverordnungen der Länder (KapVo) Menschen daran, eine wissenschaftliche Tätigkeit aufnehmen zu können (S. 78). Dennoch, sie einfach abzuschaffen ist weder rechtlich ohne weiteres möglich noch politisch verhandelbar.

Die individuellen Folgen all dessen fallen in der Gesellschaft allerdings nicht gleichverteilt an. Es spielt eine große Rolle, ob risikoabfedernde Res­sourcen und Netzwerke in der Herkunftsfamilie vorhanden sind oder eben nicht. Prekarität stellt sich an jedem sozialen Ort in der Gesellschaft anders dar, es macht einen großen Unterschied, ob man beispielsweise Wohn­eigentum finanzieren muss, oder die dafür nötigen sechsstelligen Summen von der Familie erhält. So kommt es, dass Wissenschaft als biografische Option eigentlich nur für diejenigen in Frage kommt, die es sich leisten können. Das hat auch für Wissenschaft und Studium Konsequenzen (S. 87 ff.). Das Schreiben und Begut­achten von Anträgen etwa ist eine zeitaufwendige Angelegenheit, die, weil ein Großteil der Anträge abgelehnt wird, allzu oft ohne Ertrag bleibt. Zudem sind Fehlallokationen alltäglich, beispielsweise weil es oft geboten erscheint, bei Antragstellung nicht den Namen der Person, die den Antrag tatsächlich geschrieben hat, anzugeben, sondern den einer bereits mit Meriten geschmückten Professorin. Wechselt dann ein Antragsautor den Arbeitsort, kann es zu Mismatches von Forschungsgelegenheit und Forschungspotenzial kommen, schließlich müssen dann Personen gesucht werden, die den Antragsslot ausfüllen und die Arbeit im Projekt übernehmen. Das ist ineffizient und im Resultat allzu oft schlechter als es sein müsste. Schlimmer ist es eigentlich nur, wenn Leute eigene Stellen einwerben, dazu fertige Forschung in Antragsforme(l)n gießen und mit dem hoffentlich eingeworbenen Geld echte Forschung betreiben können, die dann das Material für die Anträge von morgen generieren soll. Wie ineffizient das ist, liegt auf der Hand. Fachliche Ent­wicklungen werden damit auch karrierestrategischen Kalkülen überantwortet (S. 92), was sich negativ auf wissenschaftliche Organisationen auswirkt.

#IchBinHanna, da sind sich die Autor:innen sicher, habe Spuren hinterlassen (S. 97 ff.). Die Blockade, die Gesprächsverweigerung, die für die Jahre vor 2020/2021 typisch war, existiere nicht mehr. Die Debatte um die Neuregelung des Berliner Hochschulgesetzes habe zudem gezeigt, dass einzelne Universitäten, sogar einzelne Bundesländer damit überfordert seien, an der Lage etwas zu ändern. Solange die Rechtslage es ermög­liche, Angestellte bis zur Professur (und teils sogar Professor:innen) in einer Art Dauerprobezeit zu halten, werde das auch geschehen. Der immer wieder zu hörende Vorwurf von Seiten des BMBF, es seien ja die anderen, die konkret für missglückte Umsetzungen verantwortlich seien, verfängt insofern nicht.

Das große Verdienst von #IchBinHanna scheint nicht in fertigen Lösungen zur Verbesserung der Situation an deutschen Universitäten zu liegen, sondern vielmehr in der Tatsache, dass jetzt endlich konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation eine Chance auf mehr Resonanz und sogar Realisierung haben. Das war bisher leider anders, weil es aus der Opportuni­tätsperspektive keinen Anlass für Organisationen des Wissenschaftssystems gab, sich der Angelegenheit anzunehmen.

Viele abwehrende Reaktionen arbeiteten mit der Haltung, die im Zusammenhang mit #IchBinHanna vorgebrachte Kritik sei naiv, perfekte Alternativlösungen gebe es nun einmal nicht und jede Reform könne wieder dazu führen, sich nichtintendierte Nebenfolgen und neue Formen von Indikatorenopportunismus aufzuhalsen. Derlei Einwände sind auch nicht komplett von der Hand zu weisen, geben die Autor:innen zu. Dennoch seien die Kollateralkosten des Status quo bereits bekannt und zu hoch, es gebe zudem den einen oder anderen Gegenstand, der ohnehin anzugehen sei: So müssten etwa vernünftige Promotionsbedingungen geschaffen werden, die Schicksalhaftigkeit der Professur, die eklatante Unterscheidung zwischen Professur und Nicht-Professur müsste aufgebrochen werden und die Entscheidungen darüber, wer auf eine Professur berufen werden soll, müssten wissenschaftlichen Kriterien folgen und von nichtwissenschaftlichen Nebenlogiken ent­frachtet werden. Darüber hinaus brauche das Wissenschaftssystem eine Bestenauslese, die diesen Namen verdient, denn Wissenschaftler:innen könnten nun mal Wissenschaft am besten, nicht irgend­etwas anderes.

Der knappe Band gibt Anhaltspunkte, mit denen es möglich sein kann, diesen Postu­laten nachzukommen, und zeigt zugleich, an welchen Stellen noch Forschungsbedarfe bestehen. Es ist ihm deshalb zu wünschen, von vielen, erst recht von jenen in zuständigen Ministerien Tätigen, gelesen zu werden.

  1. Im Ergebnis sind aus den vielen Antworten in Anspielung an Luthers Thesen 95 Thesen gegen das WissZeitVG entstanden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Arbeit / Industrie Medien Politik Soziale Ungleichheit Universität Wissenschaft

Carsten von Wissel

Carsten von Wissel hat nach einem Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin einige Jahre in Studienreformprojekten gearbeitet und danach am Institut für Soziologie der TU Berlin über den Wandel hochschulpolitischer Geltungsansprüche promoviert. Er lebt und arbeitet in Bremen und Berlin, schreibt in seinem Blog (https://sciencepolicyaffairs.de/) über hochschul- und wissenschaftspolitische Fragen und publiziert gelegentlich zu Theorieaspekten transformativer Wissenschaft oder politikwissenschaftlichen Fragestellungen.

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