Laura Affolter | Rezension |

Was wir von Pflanzen lernen können – und müssen

Rezension zu „Die Pflanzen und ihre Rechte. Eine Charta zur Erhaltung unserer Natur“ von Stefano Mancuso

Abbildung Buchcover Die Pflanzen und ihre Rechte von Stefan Mancuso

Stefano Mancuso:
Die Pflanzen und ihre Rechte. Eine Charta zur Erhaltung unserer Natur
übers. von Andreas Thomsen
Deutschland
Stuttgart 2021: Klett-Cotta
160 S., 18,00 EUR
ISBN 978-3-608-98322-7

Der Titel des zu rezensierenden Buches, Die Pflanzen und ihre Rechte, ist irreführend. Wer erwartet, dass Stefano Mancusos Publikation an Diskussionen zu Rechten der Natur anknüpft, wie sie vielerorts geführt werden,[1] wird enttäuscht sein. Es geht darin weder um Rechte, die Pflanzen gewährt werden sollen, noch um Rechte allgemein. Pflanzenforscher Mancuso schreibt selbst, dass er „nicht das Geringste von Rechtsfragen“ verstehe (S. 15). Der Untertitel hingegen verrät mehr über den Inhalt: Eine Charta zur Erhaltung unserer Natur. Der Autor will zeigen, was wir von Pflanzen lernen können, ja müssen, um als Spezies überleben zu können beziehungsweise um den Erhalt aller lebenden Organismen auf diesem Planeten zu gewährleisten. Mancusos Charta basiert auf acht Regeln, die uns die Pflanzen dafür an die Hand geben. Jeden Artikel erläutert er detailliert in einem Kapitel. Den acht Kapiteln sind eine kurze Einleitung und die Charta selbst vorangestellt.

Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass es ohne Pflanzen, die Fotosynthese betreiben, „keine Tiere und womöglich gar kein Leben auf der Erde“ gäbe (S. 13); eine Botschaft, die der Autor ständig wiederholt und vertieft. Mancuso kritisiert fortwährend die fehlende Wertschätzung der Pflanzen. Dass sie meist als Teil der „anorganischen Welt“ betrachtet würden statt als Teil der „lebendigen Welt“, sei ein „grundlegender Perspektivfehler, der uns teuer zu stehen kommen könnte“ (S. 12).

Der erste Artikel seiner Charta argumentiert, dass für das Überleben auf dem Planeten keine Spezies alleine die Macht übernehmen darf. Mancuso befasst sich hauptsächlich mit der seiner Ansicht nach absurden Tatsache, dass wir Menschen uns als Souverän der Erde fühlten und entsprechend selbstverständlich über sie herrschen würden. Dabei gäbe es nichts, was diese Alleinherrschaft rechtfertige.

Während in der „demokratischen Option“ die zahlenmäßig stärkste Spezies regiert, liegt die Macht im Falle der „aristokratischen Option“ bei der überlegensten oder am weitesten entwickelten Art. Beide Optionen, so Mancuso, legitimierten nicht die menschliche Herrschaft, denn wir repräsentierten „gerade einmal ein Zehntausendstel der gesamten Biomasse (d.h. der lebendigen Masse) des Planteten“ (S. 32) und wir seien anderen Spezies nicht überlegen – im Gegenteil.

Artikel 2 befasst sich mit der gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Arten. Bezugnehmend auf Darwin schreibt Mancuso, dass die Beziehungen zwischen den Arten so komplex sind, „dass sie sich zu einem einzigen Netzwerk des Lebens verweben, in dem alles mit allem verbunden ist“ (S. 43). Als Beispiel nennt er den Zusammenhang zwischen Katzen und Hummeln: Mäuse sind die Hauptfeinde von Hummeln, weil sie deren Larven fressen und Nester zerstören. Gleichzeitig sind sie die Lieblingsbeute von Katzen. Leben an einem Ort viele Katzen, gibt es dort in der Regel auch mehr Hummeln, was sich wiederum zum Beispiel auf die Fortpflanzung von Pflanzen auswirkt.

Zudem zeigt Mancuso anhand historischer Beispiele, was passiert, wenn Menschen in solche natürlichen Gemeinschaften eingreifen. So führte 1958 Mao Zedongs Entscheidung, Spatzen auszurotten, weil sie den Menschen das Getreide wegfraßen, dazu, dass es in China allgemein zu wenig Vögel gab. Weil Vögel nicht nur Getreide, sondern auch Insekten fressen, kam es aufgrund des Mangels an Vögeln zu Heuschreckenplagen, die in noch größerem Ausmaß Feldfrüchte zerstörten. Mancuso proklamiert daher ein unveräußerliches Recht natürlicher Gemeinschaften auf Unantastbarkeit, aus dem er wiederum die Botschaft des zweiten Artikels ableitet: Menschen sollen sich in natürliche Gemeinschaften nicht einmischen.

Die Hauptaussage des dritten Artikels lautet, dass wir Menschen „[t]ierische Hierarchien mit ihren Kommandozentralen“ nicht anerkennen sollten, stattdessen könnten wir von den „dezentralen Pflanzendemokratien“ einiges lernen (S. 58). Denn während Tiere, zu denen er uns Menschen zählt, spezialisierte Organe haben, sind bei Pflanzen alle Funktionen über das ganze Wurzelsystem verteilt. Wurzeln überstehen deshalb „ohne Schwierigkeiten umfangreiche Schäden […], selbst wenn sie einen Großteil des Wurzelgeflechts betreffen“ (S. 74). Einer der übelsten Auswüchse tierischer Organisation sei die Bürokratie. Bezugnehmend auf verschiedenste Kontexte und Studien – die Kolonisierung der Azteken und Inkas im Vergleich zu der der Apachen, Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem, die Whitehall Studies und das Milgram-Experiment – kritisiert er die Fragilität, Ineffizienz und Gefährlichkeit „zentral strukturierter Tierorganisationen“ (S. 75).

Im vierten Artikel, der die „universellen Rechte aller gegenwärtigen und zukünftigen Lebewesen“ fordert (S. 78), bezeichnet Mancuso den Homo sapiens als die invasivste aller Arten. Während Pflanzen Energie schaffen, verbrauchen Menschen sie bloß. Deshalb solle „jeder Einzelne von uns etwas mehr auf sein persönliches Konsumverhalten achten, denn nur um einige wenige [sic] zu belohnen, zerstört das gegenwärtige Entwicklungsmodell unser aller gemeinsames Zuhause“ (S. 86).

„Lasst die Pflanzen ran!“ (S. 96) ist das Credo des fünften Artikels. Mancuso beschreibt darin, wie Pflanzen durch Fotosynthese CO2 binden. Vor rund 450 Millionen Jahren sei die CO2-Konzentration auf der Erde schon einmal um ein Vielfaches höher gewesen als heute, was den Planeten solange zu einer lebensfeindlichen Umgebung gemacht hätte,

„bis etwas Unerwartetes geschah. In vergleichsweise kurzer Zeit ging die CO2- Konzentration in der Atmosphäre drastisch zurück und pendelte sich auf einem sehr viel niedrigen Niveau ein, das dem Leben zuträglicher war. Was war passiert? Ganz einfach, die Pflanzen waren passiert und hatten wie ein deus ex machina ein Problem gelöst, für das es keine Lösung zu geben schien.“ (S. 94)

Daraus leitet Mancuso seinen Lösungsansatz für die rezente Klimakrise ab: Wo eine Pflanze wachsen kann, sollte auch eine wachsen. Das heißt, Städte müssen begrünt, Wälder beschützt und Waldrodung als Verbrechen gegen die Menschheit geahndet werden.

Im sechsten Artikel führt Mancuso den Leser:innen vor Augen, wie absurd es ist, bei begrenzten Ressourcen nach unbegrenztem Wachstum zu streben. Wir Menschen seien die einzige Spezies, die dies tun würde. „Alle anderen Spezies orientierten sich an realistischen Daseinskonzepten.“ (S. 112) Pflanzen zum Beispiel „werden in Entsprechung zu den vorhandenen Ressourcen und Gegebenheiten kleiner, dicker oder dünner, verdrehen oder verbiegen sich, klettern oder kriechen, verändern ihre Form oder hören auf zu wachsen“ (S. 112 f.). An ihrer Kreativität, schreibt Mancuso, sollten wir uns ein Beispiel nehmen, um „Lösungen für unser Überleben zu finden“ (S. 113).

Der siebte Artikel beginnt mit einer Kritik an Linnaeus’ binärer Nomenklatur in botanische und zoologische Lebewesen. Pflanzen seien sehr wohl empfindsam, sie können „Licht, Temperatur, Schwerkraft“ und vieles Weitere wahrnehmen (S. 119). Außerdem wären sie durchaus in der Lage, sich zu bewegen, wenn auch langsamer als Tiere. Zwar könne sich eine einzelne Pflanze nicht (selbstständig) von ihrem Geburts- beziehungsweise Standort wegbewegen, doch als gesamte Spezies verbreiteten sich Pflanzen über weite Strecken. Im Anschluss daran deklariert Mancuso Migration – oder anders gesagt: Bewegungsfreiheit – als Menschenrecht, und zwar nicht nur im Fall von Verfolgung, „sondern immer dann, wenn das Verbleiben an einem Ort die eigenen Überlebenschancen mindert“ (S. 124). Auch die vom Menschen verursachte Erderwärmung sei ein Grund für Migrationsbewegungen. Als Beleg für seine These zitiert er aus einer Studie, die einen Zusammenhang zwischen Unruhen und Kriegen und „Abweichungen von den mittleren Temperaturen und Niederschlagsmengen“ (S. 123) nachweisen konnte. Das Kapitel endet mit dem faden Beigeschmack, der beim Autor zurückbleibt, wenn Menschen heute bei der Migration von Bäumen helfen, um der Klimaerwärmung entgegenzuwirken, während eine solche Möglichkeit „unseren eigenen Artgenossen“ (S. 126) verwehrt bliebe.

Im letzten Artikel wirft Mancuso den Sozialdarwinist:innen, aber auch der Gesellschaft (zum Beispiel im Sport) vor, dass sie die Evolutionstheorie falsch auslegten. Es seien eben nicht die „[S]tärksten, [I]ntelligentesten, [G]rößten und [R]ücksichtlosesten“, die überleben, sondern diejenigen, „die am besten angepasst sind“ (S. 129). Dabei spielten Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe eine zentrale Rolle. Pflanzen seien darin die großen Meister, so würden beispielsweise Flechten, die eine symbiotische Lebensgemeinschaft aus Pilzen und „Fotosynthese betreibenden Partnern“ sind (S. 135), als Lebensform unter Bedingungen gedeihen, zu denen keiner der beiden Symbionten alleine überleben könnte.

Mancusos Buch adressiert wohl nicht primär eine wissenschaftliche Leser:innenschaft und schaltet sich daher auch nicht in derzeitige akademische Debatten zur Umsetzung von Rechten der Natur ein. In rechts- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen ist zum Beispiel umstritten, wie sinnvoll es ist, einzelnen Entitäten – wie Flüssen, Wäldern oder bestimmten Tierarten – subjektive Rechte zu gewähren. Expert:innen überlegen stattdessen, ob man nicht besser ganze Ökosysteme durch Rechte schützen sollte. Aber was bedeutet dies dann genau: Wer/Was gehört zu einem Ökosystem dazu und wer/was nicht? Was geschieht, wenn die Rechte natürlicher Entitäten in Konflikt geraten mit Rechten, die Menschen zustehen? Mancuso äußert sich dazu nicht. Denn anders als es der Titel des Buches suggeriert, geht es ihm nicht um spezielle Rechte für Pflanzen, sondern um Rechte, die unser aller Zusammenleben regeln. Doch auch die Fragen, wie genau die von ihm geforderte tiefgreifende Umstrukturierung des Lebens auf der Erde geschehen soll und wie eine entsprechende Rechtspraxis aussehen könnte, bleiben offen.

Als Leserin hätte ich zudem gerne mehr über Pflanzen gelernt. Aber auch das scheint nicht der Anspruch des Autors gewesen zu sein. Die kurze Biografie am Ende des Buches erklärt Stefano Mancuso zu einem der führenden Autoren des nature writings, eines Genres also, das sehr politisch ist und in dem die Autor:innen „sinnlich, subjektiv und ästhetisch“[2] über Natur schreiben.

„Es geht um die Chance, Natur präzise, empathisch und subjektiv zu beschreiben und auch direkt zu erfahren: Was erzählt ein Stein, wenn ich ihm länger begegne? Welches Schauspiel vollführen Bussarde, wenn ich mich mit ihnen aufschwinge? Wie geht es Flüssen, wenn ich in ihnen untertauche?“[3]

Die – vorsichtig ausgedrückt – ökologische Achtsamkeitsliteratur richtet sich an ein Publikum, das Bestätigung für das eigene Umweltbewusstsein sucht. Damit ist das nature writing zu jenem wachsenden Marktsegment zu zählen, das aus der Klimakrise Kapital schlägt.

Mancusos Buch verfolgt einen holistischen Ansatz, indem es breite Zusammenhänge hervorhebt, zum Beispiel den zwischen Klimaveränderungen und Migrationsbewegungen. Solche Kausalitäten zu benennen, scheint mir wichtig, auch wenn dies im vorliegenden Fall auf Kosten von Komplexitäten und Ambiguitäten geht, die Mancuso in seinen Betrachtungen weitgehend ausblendet. Entsprechend oberflächlich bleiben seine Beschreibungen, in denen die Lebensarten von Pflanzen und Menschen/Tieren einander oftmals simplifizierend gegenüberstehen. Am Ende will das Buch wohl ein politisches Plädoyer sein, das für ein breites Publikum gedacht ist. Die politischen Forderungen des Autors sind – wenn auch weder neu noch besonders konkret – richtig und wichtig. Es ist daher zu begrüßen, dass Mancuso sie an einen größeren Adressat:innenkreis richtet als dies wissenschaftliche Publikationen in aller Regel tun.

  1. Für eine Übersicht siehe United Nations (Hg.), Rights of Nature Law and Policy [5.8.2021].
  2. Torsten Schäfer, Erfolgsfaktor Natur – das Genre „Nature Writing“ [5.8.2021], in: Fachjournalist. Fachjournalismus, Fach-PR & Fachmedien, 13.12.2018.
  3. Ebd.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Ökologie / Nachhaltigkeit Recht Zeit / Zukunft

Abbildung Profilbild Laura Affolter

Laura Affolter

Laura Affolter ist promovierte Sozialanthropologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Rechtssoziologie am Hamburger Institut für Sozialforschung. In ihrem derzeitigen Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit den Rechten der Natur und buen vivir in Ecuador und untersucht, wie deren normative Bedeutungen in der Praxis verhandelt werden.

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