Ludger Pries | Rezension |

Weder Bilanz noch Vorschlag

Rezension zu „Die Asyllotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg“ von Ruud Koopmans

Ruud Koopmans:
Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg
Deutschland
München 2023: C.H.Beck
269 S., 26,00 EUR
ISBN 978-3-406-79738-5

Ruud Koopmans neues Buch „Die Asyllotterie“ behandelt die Flüchtlingsdynamik und -politik. Laut Klappentext geht es um die Situation in Europa, der Inhalt konzentriert sich dann aber auf Deutschland und die Herkunftsländer der Flüchtlingsbewegung von 2015/16. Es hat insgesamt sieben Kapitel und kündigt auf dem Umschlag an, seine „schonungslose Analyse endet mit einem bestechenden Vorschlag, wie es auch anders ginge“. Das erste Kapitel präsentiert unter der Überschrift „Zehn Gründe, warum das europäische Asylregime todkrank ist" die Hauptargumentation: Erstens fordere das europäische Asylsystem mehr Menschenleben, als es rette; es ermögliche vielen Menschen, die es eigentlich nicht bräuchten (weil sie „Wirtschaftsmigranten“ (S. 12) seien), den Zutritt zum EU-Flüchtlingsschutz, während – so die zweite These – die Schwächsten, die eigentlich Flüchtlingsschutz bräuchten (Kinder, Frauen, Ältere) außen vor blieben, weil sie die beschwerlichen und gefährlichen Wege nicht bewältigen könnten. Die dritte These wiederholt zunächst die zweite („Viele Flüchtlinge haben keine Chance, Europa zu erreichen“) und argumentiert anschließend, dass vor allem die „Falschen“, nämlich die nicht besonders Schutzbedürftigen, vom europäischen Flüchtlingssystem profitierten: „Während Europa allen, die es über seine Grenzen schaffen – und zwar, ich betone es noch mal, weitgehend unabhängig vom Vorliegen schwerwiegender Fluchtgründe –, großzügig Recht und Schutz bietet, lässt es diejenigen, die es nicht dorthin schaffen können – auch wenn sie viel dringender schutzbedürftig sind –, herzlos in der Kälte stehen.“ (S. 18 f) Die vierte These betont die Variationen in den geografischen und politischen Bedingungen innerhalb der EU, wodurch fünftens besonders die Mittelmeeranrainerstaaten als wichtigste Erstaufnahmeländer mit den Herausforderungen des Flüchtlingsschutzes allein gelassen würden.

Eine sechste Behauptung bezieht sich auf die mögliche Überlastung von Aufnahmekapazitäten und die Schwierigkeiten bei der Integration, die folgten, wenn die Anzahl Aufzunehmender, wie etwa im Zuge der Flüchtlingsbewegung 2015/16, plötzlich vergleichsweise groß werde. Der unkontrollierte Migrationszufluss führe siebtens zu einer Bedrohung der inneren Sicherheit und stärke achtens den Rechtspopulismus. Weil die Interessen der EU-Mitgliedsländer im Hinblick auf Migration stark variieren (der Autor unterscheidet drei Ländergruppen mit je spezifischen Interesselagen), sei neuntens besonders die Flüchtlingspolitik ein ständiger Spaltpilz in der EU und mache sie zehntens durch autokratische Regime wie Belarus oder die Türkei erpressbar. Dieser Argumentationsbogen wird dann in den folgenden sechs Kapiteln ausgeführt.

Im zweiten Kapitel beschreibt der Autor die politische Genese der von ihm so genannten Flüchtlingskrise 2015/16. Es werden viele der seit dieser Zeit vielfältig publizierten und diskutierten Argumente zusammengetragen, vom sogenannten Arabischen Frühling über die Politik der Türkei bis zu den Wirren, die die ansteigenden Flüchtlingszahlen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Reaktionen der EU-Mitgliedsstaaten verursachten. Das dritte Kapitel geht auf den Fachkräftemangel und das Argument der daraus resultierenden Notwendigkeit von Zuwanderung qualifizierter Menschen ein und diskutiert kritisch die angeblich unterschätzten Probleme der Integration in den Arbeitsmarkt, die geringere Performanz auf ihm und die bei einigen Einwanderungsgruppen mutmaßlich dauerhafte Abhängigkeit von Sozialleistungen. Im vierten und fünften Kapitel, die zusammen knapp die Hälfte des Buchumfanges ausmachen, behandelt der Autor die seiner Meinung nach mit der Einwanderung von Flüchtlingen verbundenen Gefahren terroristischer Gewalttaten. Dabei werden den Abschnitten jeweils lange Zitate aus Zeitschriften und Zeitungen mit größtenteils boulevard-üblichen Überschriften wie „Mörder im Orientexpress“ (S. 107) oder „Der Terror kommt nach Deutschland“ (S. 113) vorangestellt. Auf die Frage nach flüchtlingsfeindlicher Gewalt von rechts geht Koopmans nur knapp ein, weil er diese als nicht so relevant beurteilt. Folglich werden auch Erkenntnisse zur Verschleppung der Aufklärung der NSU-Morde eher marginal behandelt (vgl. auch S. 155 ff).

Das (mit 44 Seiten insgesamt längste) fünfte Kapitel beansprucht, das Verhältnis von Flüchtlingen und Kriminalität differenziert zu diskutieren. Der Autor zitiert verschiedene Datenquellen, etwa die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), und kommt zu dem Ergebnis, dass die Flüchtlinge in der Kriminalstatistik auch bei Berücksichtigung aller Sonderfaktoren überrepräsentiert seien (S. 138 ff). Bei allem Bemühen um eine differenzierte Diskussion ist der Haupttenor, Flüchtlingsaufnahme sei mit erheblichen Sicherheitsrisiken verbunden und „nur dann vertretbar und akzeptabel, wenn es sich um eine begrenzte Erhöhung der Kriminalitätsrate handelt“ (S. 133). Zudem könne man sich auf die PKS-Daten (die Koopmans aber hauptsächlich nutzt) nicht verlassen und die „Behauptung des BKA, dass die Statistik so, wie sie ist, korrekt ist, [müsse] auf jeden Fall als unglaubwürdig eingestuft werden“ (S. 149). So waren etwa „Flüchtlingstäter insgesamt für fast zwölf Prozent aller Opfer von Mord und Totschlag verantwortlich, fünf Mal so viele, wie aufgrund des Bevölkerungsanteils von Flüchtlingen erwartbar wäre“ (S. 159, wobei hier offensichtlich keine Gewichtung nach Alters- oder Geschlechtsgruppen vorgenommen wurde). Über Rechtspopulismus müsse man sich nicht wundern, wenn „die leider ganz realen Probleme der weit überproportionalen Gewaltkriminalität durch Flüchtlinge in der Stadt und in ganz Sachsen“ geleugnet würden (S. 171). Errechnet hat der Autor diese übrigens auf Grundlage der – vorher als wenig aussagekräftig kritisierten – PKS, allerdings erneut ohne erkennbare Gewichtung durch Alters- oder Geschlechterstruktur (S. 168 ff).

Im Kapitel sechs wird die Fluchtmigration aus der Ukraine verhandelt. Koopmans verteidigt die erleichterte Einwanderung und argumentiert, dass keine Privilegierung der Menschen aus der Ukraine gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen stattfinde, dass sie eine kulturell größere Ähnlichkeit mit Deutschland aufwiesen und große Potenziale für den Arbeitsmarkt darstellten. Das letzte Kapitel hat den Anspruch, eine „realistische Utopie“ vorzustellen. Zu diesem Zweck werden diverse bereits bekannte und zum Teil heftig diskutierte Ideen für politische Maßnahmen vorgestellt, wie etwa der Abschluss individueller Rückführungsabkommen mit Drittstaaten und den verstärkten Einsatz von humanitären Visa und Resettlement-Programmen. Schließlich stellt Koopmans Australien als ein positives Beispiel für eine angemessene Flüchtlingspolitik vor, wobei die Abschottungspolitik des Landes durchaus kritisch kommentiert wird.

Das Buch ist insgesamt eher als politisches Statement denn als wissenschaftliche Analyse zu lesen. Es bietet eine erstaunliche Zusammenstellung von allseits Bekanntem (etwa den allgemeinen Fluchtkontexten in bestimmten Weltregionen, der unterschiedlichen Interessen und Politiken der EU-Mitgliedsstaaten), die eher selektive Diskussion und Interpretation allgemein zugänglicher Datenquellen und Forschungsbefunde und ein methodisch selbst für ein populärwissenschaftlich verfasstes Buch irritierendes Vorgehen. An einigen Stellen wird differenziert auf nationale Politiken der Externalisierung und Instrumentalisierung eingegangen (zum Beispiel für Griechenland, die Türkei und Ungarn). Letztlich bleibt „Die Asyllotterie“ aber weit hinter den durch Überschriften und Klappentext erzeugten Erwartungen zurück. Der Befund, dass das gegenwärtige europäische Asylsystem völlig unzureichend und ein Ausdruck „organisierter Nichtverantwortung“ ist, ist weder wissenschaftlich noch politisch strittig. Tendenziös ist die Botschaft, es fördere einseitig die irreguläre Zuwanderung von Menschen, die eigentlich nicht schutzbedürftig seien.

Die Argumente für eine proaktivere humanitäre (Resettlement-)Aufnahmepolitik, wie sie etwa in Kanada praktiziert wird, sind allseits bekannt, aber weder ein „bestechender Vorschlag“ noch für die geografischen Bedingungen Europas und Deutschlands hilfreich. Das Plädoyer für mehr Rücknahmeabkommen mit Transitländern ist ebenfalls nicht neu, es hat – wie der Autor an einigen Stellen konzediert – seine Probleme nicht zuletzt in der Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens gezeigt. Häufig von Zitierungen einzelner Fälle aus der – nicht selten aufmerksamkeitserheischend aufgemachten – Tagespresse ausgehend plädiert Koopmans für eine stärkere Berücksichtigung der durch Flüchtlingsgruppen ausgehenden Gefahren, die Herausforderungen durch Diskriminierung und rassistische Gewalt gegenüber Schutzsuchenden behandelt er dagegen eher marginal. Trotz häufiger Bezugnahmen auf Europa und die EU werden die Strukturprobleme des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) nicht explizit behandelt. Ohne deren Lösung ist aber weder ein „bestechender Vorschlag“ für den europäischen Flüchtlingsschutz noch das Lernen von nationalen Beispielen wie Kanada oder Australien denkbar.

Das Buch enthält viele starke Behauptungen, die nicht durch empirische Evidenz und präzise wissenschaftliche Arbeit gedeckt sind. So etwa, wenn konstatiert wird: „Insgesamt stellt die Asylmigration nach Europa das bei Weitem tödlichste Migrationssystem der Welt dar“ (S. 14). Für die These wird keinerlei Beleg angeführt, eine zuvor über zwei Umwege (Deutsche Welle, www.infomigrants.net) zitierte UNHCR-Veröffentlichung argumentiert gerade umgekehrt: „While the Mediterranean Sea remains a deadly route for migrants attempting to reach the European Union, the United Nations Refugee Agency (UNHCR) has warned that the African land journey to reach the Mediterranean coast remains far more lethal.“[1] Während der UNHCR und alle seriöse Forschung zwischen spezifischen geografischen Migrations- und Fluchtrouten oder -korridoren einerseits und politisch-regulativen Migrationssystemen oder -regimen andererseits unterscheidet, schreibt der Autor hier alle Migrationsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent (und folgerichtig mindestens auch die aus Asien) einem (europäischen oder mediterranen?) „Migrationssystem“ zu. Dass das Mittelmeer in den letzten Jahrzehnten für Zehntausende von Menschen zu einem für die Flüchtlingspolitik der EU beschämenden Massengrab wurde, ist wissenschaftlich unbestritten. Gemessen an der weltweiten Anzahl von während der Migration zwischen 2014 und 2022 Gestorbenen oder Verschwundenen macht die Mittelmeerroute allerdings etwas weniger als die Hälfte aus, wobei gilt: „The number of deaths recorded, however, represent only a minimum estimate because the majority of migrant deaths around the world go unrecorded.”[2] Wissenschaftliches Argumentieren sollte anders gestaltet sein, als im Buch an vielen Stellen vorgeführt wird, zum Beispiel sollten Quellen präzise und möglichst direkt, nicht über Zweit- oder Drittzitierungen benannt werden. Das Sterben so vieler Schutzsuchender im Mittelmeer ist ein politisches Armutszeugnis für die EU und ein humanitärer Skandal – gleichwohl gilt in globaler Perspektive, und die will der Autor hier ja eigentlich einbringen, dass alle Migration, besonders die unter gefährlichen Bedingungen, sozial selektiv verläuft, insofern in der Regel nur junge, kerngesunde Menschen solche beschwerlichen Routen erfolgreich bewältigen können.

Auch wenn man das Bemühen um ein verständlich geschriebenes Buch würdigt, erstaunt insgesamt, wie wenig der Autor seine Ausführungen auf differenzierte Daten und Analysen aufbaut. Es finden sich verschiedene Proklamationen hinsichtlich Häufigkeiten, aber keinerlei dem Gegenstand angemessene Verfahren zur Berechnung von Zusammenhangsmaßen. Nachdenklich stimmt auch, dass der Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema nur selektiv und sehr eingeschränkt aufgenommen wird. Das Buch ist weder eine differenzierte „schonungslose Bilanz“ noch liefert es einen „bestechenden Vorschlag“.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Internationale Politik Migration / Flucht / Integration Rassismus / Diskriminierung

Ludger Pries

Ludger Pries ist Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum.

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