Detlef Pollack | Rezension | 21.02.2023
Wenn es nicht schwingt und singt …
Rezension zu „Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis“ von Hartmut Rosa

Was ist eine gute soziologische Theorie? Die Frage ist forsch gestellt und nicht so leicht zu beantworten. Ein paar Einsichten dürften sich nach 150 Jahren soziologischer Theoriegeschichte jedoch formulieren lassen. Eine gute soziologische Theorie sollte so einfach wie möglich, aber so komplex wie nötig sein, also mit möglichst wenigen, aber hinreichend trennscharfen und aufschlussreichen Unterscheidungen starten. Sie sollte ihre eigene Produktivität nicht mit ihren Kernaussagen blockieren, also lernfähig, erweiterbar und partiell korrigierbar sein. Sie sollte sich gegenüber empirischen Befunden als sensibel, adaptiv und rezeptiv erweisen, also in der Lage sein, möglichst viele empirische Erkenntnisse aufzunehmen und mit ihnen Kompatibilität herzustellen. Vor allem aber sollte sie originell sein, also uns befähigen, mit ihr etwas zu sehen oder schärfer zu sehen, was wir ohne sie nicht zu Gesicht bekommen hätten.
Worin besteht Hartmut Rosas Grundunterscheidung? Klassiker der Sozialtheorie wie Hegel arbeiten mit der epistemologischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt und wenden sie ins Soziale oder mit der Unterscheidung von sozialer Struktur und Kultur, so wie etwa Durkheim, der aus dem Missverhältnis zwischen weit entwickelter arbeitsteiliger Struktur und schwach ausgeprägtem Kollektivbewusstsein die anomischen Zustände moderner Gesellschaften verständlich zu machen sucht. Oder sie arbeiten wie Luhmann mit der Unterscheidung von System und Umwelt oder wie Habermas mit dem spannungsvollen Verhältnis von System und Lebenswelt. Bei Rosa sucht man ein derartiges Begriffspaar vergeblich. Sein Werk, das ihn vor fast 20 Jahren bekannt gemacht hat, trägt nur einen Begriff im Titel: „Beschleunigung“.[1] In diesem Werk sind so viele theoretische Ansätze auf produktive Weise aufgenommen – die von Marx, Durkheim, Weber, Parsons, Luhmann, Fromm und vielen anderen – und zu einer perspektivenreich angelegten Beschleunigungstheorie zusammengezogen, dass die monistische Argumentationsstruktur kaum auffällt. Das letzte Großwerk Rosas, dessen Grundideen das hier zu rezensierende Buch „Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis“ folgt, hat wieder nur einen einzigen Begriff im Titel – „Resonanz“ –, und einen Augenblick könnte man versucht sein, in ihm den gesuchten Komplementärbegriff zu vermuten. So bietet sich das Buch auch an. Sein erster Satz lautet: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“[2] Mit diesem Buch will Rosa über die Kritische Theorie hinausgehen und ihren verfallsgeschichtlichen Ansatz modifizieren und erneuern.[3] Doch die beiden Begriffe liegen auf unterschiedlichen argumentativen Ebenen. Der eine Begriff ist ein analytisches Instrument, mit dessen Hilfe aufgeschlüsselt werden soll, was der Fall ist: Unsere Gesellschaft bewegt sich immer schneller, sie kann aus dem ihr innewohnenden Beschleunigungszwang nicht aussteigen und driftet daher unausweichlich in eine Katastrophe hinein. Der andere Begriff analysiert nicht, was der Fall ist, sondern was der Fall sein sollte. Er ist normativ konnotiert: Wir sollten aufeinander hören, uns von dem Anderen unserer selbst anrühren und verwandeln lassen, damit die eigentlich unausweichliche Katstrophe vielleicht doch noch abgewendet werden kann. Hier kommen nicht zwei analytische Begriffe nebeneinander zu stehen und ergänzen sich wechselseitig in ihrer Kapazität, die Diagnose der Gesellschaft aufzuhellen. Analyse und Utopie stehen sich dichotomisch gegenüber, und ihre Verbindung führt nicht zu einer spannungsreichen Aufladung des Theoriepotenzials. Vielmehr sind die beiden Gegenbegriffe so eng aufeinander bezogen, dass die Dynamik der soziologischen Denkbewegung in einem Kurzschluss endet.
Doch der Reihe nach. Zunächst soll die Gesellschaftsdiagnose Rosas vorgestellt werden. Dann folgt die Beschäftigung mit seinem Lösungsvorschlag für die apostrophierte Krise. Diese Zweiteilung weist auch das kleine Buch auf, das hier zu besprechen ist.
Die Krise, in der sich unsere moderne Gesellschaft befindet, führt Hartmut Rosa auf das innere Bewegungsprinzip des Kapitalismus zurück, das in einer nicht begrenzbaren Steigerungslogik besteht, die alle Bereiche der Gesellschaft durchzieht: die Wirtschaft ebenso wie die Politik, die Wissenschaft und die Bildung, die Psyche des Einzelnen nicht minder als die Gesamtheit des sozialen Lebens. Moderne Gesellschaften müssen wachsen, ihre Weltreichweite ausdehnen, immer schneller laufen, da sie sich nur so erhalten können. Rosa spricht, um diesen Beschleunigungszwang zu erfassen, von einem „Strukturimperativ moderner Gesellschaften“.[4] „Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch stabilisieren kann, das heißt, wenn sie systematisch und strukturell auf permanente Steigerung angewiesen ist, um sich zu reproduzieren und den institutionellen Status quo zu erhalten.“ (S. 29) Auch der Einzelne ist in diesen Beschleunigungszwang hineingerissen. Er muss schneller werden, mehr leisten, innovativere Ideen entwickeln, mehr Ressourcen anhäufen und sich bessere Chancen erarbeiten, damit er sich im sozialen Raum behaupten kann. Angetrieben wird diese Steigerungslogik durch die die Gesellschaft beherrschende Konkurrenz. Sie ist der „entscheidende Motor moderner Gesellschaften“.[5]
Die Konsequenz dieses Steigerungszwanges besteht darin, dass sich das auf Ressourcenvermehrung, und Weltreichweitenvergrößerung hin ausgerichtete Streben in ein verdinglichendes, ja aggressiven Weltverhältnis verkehrt, das das Andere nicht mehr als lebendiges Gegenüber sehen kann, sondern nur noch als „tote Ressource und gestaltbares Objekt“.[6] „Die Industrien agieren immer rücksichtsloser, bohren immer tiefer nach Öl“, holen immer mehr seltene Rohstoffe aus der Erde heraus, doch das Ergebnis besteht in der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt. Die Politik setzt auf Fortschritt und Wachstum und erklärt, „wir müssen uns steigern, wir müssen besser werden“, aber im demokratischen Diskurs betrachten wir die anderen mehr und mehr nur noch als „ein Hindernis“ (S. 42), das der Durchsetzung unserer Position entgegensteht, gar „als Feinde, die wir zum Verstummen bringen wollen“ (S. 44). Der Einzelne rennt schneller und schneller und versucht, Zeit zu sparen, wo es nur geht. Doch das alles bringt nur Erschöpfungszustände hervor, Burnout, rasenden Stillstand, aber keine Erfüllung und Zufriedenheit. Die modernen Gesellschaften waren einst angetreten mit dem Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Gleichheit, mit der Hoffnung auf Zeitgewinn, wissenschaftlichen Fortschritt und Überwindung der Knappheit. „Inzwischen ist es offensichtlich, dass nicht ein einziges dieser Versprechen auch nur annähernd eingelöst wird. Genau genommen glaubt keiner mehr – auch nicht unsere Wachstumsanhänger in der Ampelregierung –, dass es besser wird.“ (S. 48) Die Konkurrenz wird härter, die Unsicherheit nimmt zu, die Ressourcen werden knapper. Sogar das „Nichtwissen nimmt in allen Bereichen zu“, mit der Folge, dass die Menschen unzufrieden werden (S. 50). Weder wissen wir mehr, wie wir uns richtig ernähren, noch steht uns das Jahrtausende alte Wissen noch zur Verfügung, „wie man eigentlich Kinder gebärt“ (S. 50).
Zwar erkennt Hartmut Rosa die Wohlstandsgewinne, die die Moderne gebracht hat, die wissenschaftlichen Entdeckungen, die Ressourcenzuwächse durchaus an (S. 46). In seinem Resonanzbuch wendet er sich ausdrücklich dagegen, die Moderne einzig als eine Geschichte der beschleunigungsbedingten Katastrophe zu erzählen.[7] „Die Moderne ist nicht einfach in historisch beispiellosem Maße verdinglicht oder entfremdet; sie ist in ebenso präzedenzloser Weise resonanzsensibel.“[8] In seiner Schilderung der Krisen, in die die Spätmoderne hineingelaufen ist, dominieren die Kräfte der Verdinglichung und Entfremdung dann aber doch so sehr, dass die in Rechnung gestellten Gegenkräfte kaum noch zur Geltung kommen. Das scheint kein Zufall zu sein, denn es sind ja gerade die die Moderne kennzeichnenden Steigerungszwänge, die in das aggressive Weltverhältnis hineinführen. Das permanente Streben nach Erweiterung des Zugriffs auf die Welt, das die Moderne charakterisiert, ist der Grund dafür, dass sich die in Griff genommene Welt zurückzieht, in ein lebloses Objekt verwandelt und verstummt. Hartmut Rosa folgt einem Notwendigkeitsdenken. So unausweichlich der Zwang zur Steigerung ist, so unausweichlich resultiert daraus ein Aggressionsverhältnis zur Welt; so unausweichlich unser Weltverhältnis aggressiv ist, so unausweichlich folgt daraus die Zerstörung der Welt. „Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund, der hinter uns immer schneller immer näherkommt, abzustürzen.“ (S. 52 f.) Wenn aber der Abgrund immer näher rückt, ist die Katstrophe letztendlich unaufhaltsam. „Diese Gesellschaft“, kann der Notwendigkeitsdenker ausrufen, „sucht verzweifelt nach einer neuen Form der Weltbeziehung“ (S. 27). So, wie bisher, kann es nicht weitergehen. Die Welt braucht eine Alternative. Und die kann nicht aus den Strukturen der modernen Gesellschaft selbst kommen, denn „solange (die institutionalisierten ökonomischen, politischen und sozialen) Verhältnisse auf dynamischer Stabilisierung fußen und mithin den Steigerungsimperativen von Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung unterworfen sind, ist eine Transformation des Weltverhältnisses unmöglich.“[9]
Damit kommt die Religion ins Spiel. Sie bewirkt, was die moderne Aggressionsgesellschaft braucht, um den unmenschlichen Steigerungszwang zu durchbrechen. Theoriearchitektonisch besetzt sie damit bei Rosa jene Funktionsstelle, an der bei Karl Marx die Revolution aller gesellschaftlichen Verhältnisse stand. Auch Rosa verwendet in seiner Argumentation hier den Revolutionsbegriff. Nachdem er festgestellt hat, dass eine Transformation des Weltverhältnisses in den auf dynamischer Stabilisierung beruhenden Strukturen der Moderne unmöglich ist, fährt er mit einem überraschenden logischen Sprung fort: „Das bedeutet: Eine andere Art des In-der-Welt-Seins ist möglich, aber sie wird sich nur als das Ergebnis einer simultanen und konzertierten politischen, ökonomischen und kulturellen Revolution realisieren lassen.“[10] Religion ist in der theoretischen Logik Rosas also das funktionale Äquivalent der eigentlich erforderlichen Revolution, die, wenn man dem Rosa‘schen Notwendigkeitsdenken folgt, allerdings gar nicht stattfinden kann. Sie ist das Rettende angesichts einer Gefahr, die inzwischen unbeherrschbar geworden ist. Wie beim späten Horkheimer[11] kippt so die stillgestellte Revolutionshoffnung in die Sehnsucht nach dem ganz Anderen.
Rosa traut dieser einem Deus ex machina gleichenden Religion viel zu. Sie vermag jene Räume bereitzustellen, in denen das, was der modernen Gesellschaft fehlt, wachsen kann: Resonanz. Resonanz meint, der Mensch hört auf, danach zu fragen, was ihm nützt, was er in seinem Leben alles erreichen und kriegen, was er kontrollieren und beherrschen kann. Stattdessen beginnt er, auf das andere, das er nicht zu vereinnahmen vermag, zu hören, sich ihm zu öffnen, es an sich heranzulassen, sich von ihm verwandeln und anrufen zu lassen und sich so selbst zu verändern, ein anderer zu werden, Neues zu erleben (S. 58 ff.). Diese Erfahrung lässt sich nicht erzwingen. Resonanzbeziehungen, in denen wirklich eine Verbindung zum „dezidiert Anderen“ (S. 59) entsteht, sind durch das Moment der Unverfügbarkeit gekennzeichnet. Auf diese „Vergegenwärtigung von Resonanzverhältnissen“ ist Religion „hin angelegt“. Sie ist das Gegenteil der auf Steigerung und Unterwerfung verpflichteten Moderne. „Wenn Sie in eine Kirche gehen, gibt es dort nichts, was Sie sozusagen verfügbar machen können, was Sie unter Kontrolle oder dominieren könne. Der Aggressionsmodus findet da gar kein Ziel.“ (S. 68)
Tatsächlich? Menschen besuchen die Kirche auch, weil sie dort etwas bekommen wollen, den Segen Gottes, die Zusage von Hoffnung, Bestärkung im Leiden. Sie beten zu Gott, damit er ihnen hilft. Wenn der Glaube den Gläubigen nichts nützen würde, würden ihn viele, möglicherweise die Frömmsten unter ihnen, aufgeben. Religion ist nicht frei von magischen Elementen, nicht frei vom menschlichen Ringen um Gott, von dem Bestreben, andere von der eigenen Wahrheit zu überzeugen, von Gefühlen der Überlegenheit über andere Religionen, vom Kampf mit ihnen oder mit den Ungläubigen. Sie lässt sich sogar für die Verfolgung von politischen Zielen einsetzen, für die Legitimation von Herrschaft und Macht und das durchaus mit intrinsischen Motiven. Auch wenn die Gläubigen wissen, dass die Ratschlüsse Gottes unerforschlich sind und sich Gott zu nichts zwingen lässt, seine Gnade in Anspruch nehmen, wollen sie schon. Das Bild, das Hartmut Rosa von der Religion zeichnet, wirkt sympathisch, und es bildet Züge der spirituellen Mystik auf anrührende und überzeugende Weise ab, aber es trifft die Wirklichkeit des religiösen Lebens nur zu einem kleinen Teil. Letztendlich handelt es sich bei diesem Bild mehr um das Korrelat eines durch den soziologischen Ansatz erzeugten theoretischen Erfordernisses als um ein Abbild der religiösen Wirklichkeit. Eine resonanzsensible Religion passt in die theoretische Konstruktion und fügt ihr einen Gedanken hinzu, der sich aus ihr logisch ergibt. Sie ist das Postulat eines Notwendigkeitsdenkens, das für die Welt nur noch die Katastrophe vorzusehen vermag.
Doch nicht nur das Religionsbild ist realitätsfern. Die Gesellschaftsdiagnose trifft die soziale Realität ebenso wenig.[12] Moderne Gesellschaften gehen ständig mit Rezessionen, Krisen, Leistungseinbußen um. Sie zeichnen sich durch eine hohe Resilienz aus und sind nicht darauf angewiesen, ihre Kapazitäten zu steigern, um den Status quo zu erhalten. Darüber hinaus können sie den nicht zu bestreitenden Steigerungszwängen der Moderne wirksam begegnen, denn sie haben Institutionen und Verfahren geschaffen, die in der Lage sind, sie zu zähmen: internationale Aufsichtsbehörden, Kartellämter, rechtliche Schutz- und Regulierungsbestimmungen, Vorgaben zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen usw. Moderne Gesellschaften besitzen die Kapazität, ihre Destruktionspotenziale einzuschränken. Gerade nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben sie viel getan, um eine erneute Eskalation internationaler Konflikte zu verhindern. Mit der Gründung der UNO, des Internationalen Gerichtshofs, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds haben sie auf die Zerstörungen und Verbrechen des Zweiten Weltkrieges reagiert. Durch die Reduktion der Wochenarbeitszeit und den Anstieg der Urlaubszeiten ist auch der Einzelne dem Konkurrenzdruck nicht hoffnungslos ausgeliefert und vermag für Ausgleich gegenüber hohen beruflichen Leistungsanforderungen zu sorgen. Seit der Industrialisierung ist die wöchentliche Arbeitszeit, die 1870 in den industrialisierten Ländern bei 70 Stunden lag,[13] stark zurückgegangen. In der EU liegt sie heute bei etwa 40 Stunden.[14] Das System der modernen Gesellschaften ist mehr auf Ausbalancierung der unterschiedlichen und teilweise einander entgegengesetzten Interessen ausgelegt als auf rücksichtslose Unterwerfung der Welt. Das sehen wir schon am Funktionieren der Demokratie, die den vielfältigsten Positionen und Überzeugungen ein Forum bietet und den politischen Gegner gerade nicht zum Verstummen bringt, sondern mit ihm um die beste Lösung ringt und sich oft im Kompromiss mit ihm einigt. Das sehen wir aber auch am Kapitalismus, der in den europäischen Gesellschaften ein sozial abgefederter, sozial verträglicher Kapitalismus mit effektiv ausgebauten sozialen Sicherungssystemen ist.
Natürlich sind alle diese Anstrengungen nicht genug, um die Fortschrittsversprechen der Moderne wahr zu machen. Aber man sollte auch nicht so tun, als sei nicht ein einziges dieser Versprechen auch nur annähernd eingelöst. Es verwundert daher nicht, dass sich die Menschen, etwa in Deutschland, überwiegend zufrieden über ihr Leben äußern. Über 90 % der Deutschen erklären, sie seien „ziemlich“ oder „sehr“ zufrieden mit dem Leben, das sie führen.[15] Dieser Anteil ist auch während der Corona-Krise kaum zurückgegangen.
Das gesellschaftstheoretische Modell Rosas verfehlt die gelebte Wirklichkeit der Menschen in Deutschland und anderen modernen Gesellschaften, da es sich aus einer Idealisierung der Fortschrittsversprechen der Moderne speist, die beim Abgleich mit den erreichten Fortschritten in ein Katastrophenszenario kippt und so in ein dualistisches Weltdeutungsschema mündet. Auf der einen Seite stehen die Freiheitsansprüche der Moderne, auf der anderen ihre Steigerungsimperative, die zwangsläufig in ein verdinglichtes Weltverhältnis führen: Was nicht den Resonanzversprechungen der Moderne entspricht, weist eine Tendenz zur Entfremdung auf; was nicht schwingt und singt, sich nicht anrufen und verwandeln lässt, das ist stumm, leblos und indifferent; wo es keine Resonanzsensibilisierung gibt, da verfällt alles der Resonanzkatastrophe. Das meiste in unserem Leben spielt sich allerdings irgendwo dazwischen ab. Dieses Leben im Dazwischen hält durchaus manche Erfüllung bereit, so wie Resonanzerfahrungen die gleichzeitige Verfolgung instrumenteller Zwecke nicht ausschließen. Lassen sich Erfahrungen der berührenden Begegnung und emotionalen Öffnung nicht auch im Zusammenhang eines zweckrational ausgerichteten Handelns machen und sind sie zuweilen nicht sogar Folge eines solchen Handelns? Ist nicht auch der dem Unverfügbaren hingegebene Mystiker interessenorientiert und dies manchmal sogar in seiner Hingabe? Hartmut Rosa ist der von Erich Fromm aufgemachten Alternativität von „Haben oder Sein“ [16] verpflichtet. Doch das Haben und das Sein gehen oft eine Verbindung ein, wahrscheinlich sogar meistens.
Wie konnte sich ein in den klassischen Ansätzen der Soziologie bewanderter, sie souverän beherrschender und originell denkender Theoretiker so weit von der alltäglichen Welt unseres modernen Lebens entfernen? Möglicherweise deshalb, weil er der Logik seiner Theorie und letztlich nur der Logik seiner Theorie folgt. Es ist nicht so, dass Hartmut Rosa nicht immer wieder auf empirische Forschungsergebnisse zu sprechen kommt und sie in seinen Argumentationsgang einbaut. Doch können sie ihn in seinem Gedankenfluss nicht aufhalten. Ihnen kommt kein Veto-Recht zu. Stets werden sie eingesetzt, um seine Überlegungen zu stützen. So bewegt er sich in seinen gedanklichen Bahnen, ohne sich durch Störungen und Bedenken unterbrechen zu lassen. In gewisser Weise ist das theorielogisch konsequent. Theorie muss, wie wir spätestens seit Luhmann wissen, selbstreferenziell arbeiten.[17] Sie muss sich aus sich selbst heraus, aus ihren eigenen Prämissen und Leitunterscheidungen generieren und kann Durchblicke auf die Empirie nur punktuell zulassen.[18] Dann, so müssen wir schlussfolgern, liegt das Problem offenbar in den Ausgangsprämissen, die Rosa aus den Grundüberlegungen der Kritischen Theorie bezieht und deren asymmetrischer Dualismus heute einfach nicht mehr zu tragen vermag.
Fußnoten
- Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.
- Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen, Frankfurt am Main 2018, S. 13)
- A.a.O., S. 36.
- A.a.O., S. 49.
- A.a.O., S. 44.
- A.a.O., S. 51 f.
- A.a.O., S. 57)
- A.a.O., S. 600.
- A.a.O., S. 56)
- Ebd.
- Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Hamburg 1970.
- Meine Einwände formuliere ich ausführlicher in: Detlef Pollack, Soziologie als apokalyptisches Krisenszenario. Hartmut Rosas resonanztheoretische Rekonstruktion der Moderne, in: Gregor J. Betz / Saša Bosančić (Hg.): Apokalyptische Zeiten. Endzeit- und Katastrophenwissen gesellschaftlicher Zukünfte, Weinheim 2021, S. 179–196.
- Wilhelm Heinz Schröder, Die Entwicklung der Arbeitszeit im sekundären Sektor in Deutschland 1871 bis 1913, in: Technikgeschichte 47 (1980), S. 252–302, hier S. 287.
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/75864/umfrage/durchschnittliche-wochenarbeitszeit-in-den-laendern-der-eu/
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153748/umfrage/allgemeine-zufriedenheit-mit-dem-eigenen-leben/
- Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft [1976], München 2005.
- Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984.
- Luhmann, Soziale Systeme, S. 13.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Philosophie Religion
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