Eddie Hartmann | Rezension | 09.03.2023
Wenn Gewalt (k)ein Ende findet
Rezension zu „Explosive Conflict. Time-Dynamics of Violence“ von Randall Collins

Mit Explosive Conflict. Time-Dynamics of Violence hat Randall Collins endlich jenes Buch veröffentlicht, das er 2008 in Violence. A Micro-sociological Theory erstmalig angekündigt hatte. In dem viel diskutierten Erfolgsbuch hieß es: „Dieser Band ist der erste von zwei Bänden. Der zweite wird sich mit dem befassen, was in diesem ausgelassen wurde: unter anderem mit unserem Wissensstand über institutionalisierte Gewalt oder besser über Gewalt, die wiederholt und strukturiert vorkommt und daher in Meso- und Makroorganisationen organisiert wird, die dafür sorgen, dass den Gewaltspezialisten laufend Ressourcen zur Verfügung stehen“.[1] Über Jahre beschäftigte dies programmatische Ankündigung die internationale Gewaltforschung. Nach meinem Eindruck verging kaum eine Fachtagung ohne die vornehmlich in Pausengesprächen aufkommende Frage, wann denn der von Collins selbst in Aussicht gestellte zweite Band erscheinen würde. Mit der Zeit wuchsen allerdings die Zweifel, ob er je erscheinen würde, Hoffnung und Neugier aber blieben.
Mit Explosive Conflict, das im vergangenen Jahr bei Routledge veröffentlicht wurde, legt Collins nun tatsächlich diese lang ersehnte Fortsetzung vor. Der erste Band gehört ohne Zweifel zu den einflussreichsten der in den zurückliegenden drei Jahrzehnten erschienen Büchern zur Gewaltsoziologie. Collins selbst war freilich bereits vor Erscheinen seines ersten Gewaltbuchs einer der Bekanntesten seiner Zunft. Wie keinem Zweiten, abgesehen vielleicht von dem britischen Soziologen Michael Mann, gelang es ihm, mit seinen Arbeiten die internationale Gewaltdebatte zu prägen. Und während Manns Einfluss durch dessen dezidiertes Interesse an der Geschichte kriegerischer Konflikte stets auf einen bestimmten Phänomenbereich begrenzt blieb, ging Collins immerhin so weit zu behaupten, mit Violence eine für alle möglichen Formen von Gewalt gültige Theorie anbieten zu können. Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum die bloße Absichtsbekundung eines Fortsetzungsbandes Gewaltforscherinnen und Gewaltforscher jahrelang in Spannung versetzen konnte.
Collins’ Anspruch, mit Violence eine allgemeine Theorie der Gewalt vorgelegt zu haben, steht und fällt mit dessen These, der Ausbruch gewaltsamer Interaktionen ließe sich ausschließlich aus mikrosoziologischer Perspektive erklären. Dieser von ihm vehement vertretene mikrosoziologische Ansatz wird in der Literatur auch als eine situationistische Erklärung von Gewalt bezeichnet. Demnach müssen Akteure handlungshemmende Emotionen wie Anspannung und Angst, die durch feindlich gesinnte Konfrontationen in der Regel bei allen Beteiligten ausgelöst werden, überwinden können, damit es überhaupt zu gewaltsamen Interaktionen kommt. Gewalt entsteht deshalb ausschließlich in Situationen, die durch ihre besondere Interaktionsordnung dafür sorgen, dass die Schwelle zur Gewalt zumindest von einem Teil der Akteure durchbrochen werden kann: „Verallgemeinernd können wir sagen, dass alle Gewaltformen zu einigen wenigen Mustern passen, mit denen sich die Barriere aus Anspannung und Angst überwinden lässt, die automatisch aufkommt, wenn Menschen in eine feindliche Konfrontation geraten“.[2]
Die wissenschaftliche Diskussion zu dem von Collins vertretenen Situationismus ist umfangreich, und sie hat die internationale Gewaltforschung in den vergangenen Jahren nicht nur nachhaltig inspiriert, sondern auch theoretisch wie methodisch vorangebracht.[3] Eine der spannendsten Fragen aber, die diese teils sehr kontrovers geführten Debatten begleiteten, ohne dass Collins’ eigener Standpunkt hierzu wirklich klar gewesen wäre, lautete: Wie kann die Erweiterung einer radikal mikrosoziologisch argumentierenden Theorie aussehen, sobald sie es nicht mehr mit Kneipenschlägereien, Pistolen-Duellen oder Plünderungsarien zu tun hat, sondern mit Revolutionen, flächendeckender Protestgewalt oder Kriegen?
Konfliktdynamiken zwischen De-Eskalation und Polarisierung
Mit Explosive Conflict versucht Collins nun selbst auf diese Frage zu antworten. Besonderes Augenmerk legt er dabei, wie der Untertitel zum Ausdruck bringt, auf die zeitlichen Dynamiken des Gewaltgeschehens. Dass der theoretische Anspruch dieser zweiten großen Gewaltstudie von Collins nicht an die wegweisende Programmatik seines Buchs von 2008 heranreicht, liegt ein wenig in der Natur der Sache. Schließlich würde die Argumentation aus dem ersten Gewaltbuch ad absurdum geführt, käme Collins jetzt mit Blick auf makroähnliche Gewaltphänomene mit einem ganz anderen Erklärungsprogramm um die Ecke. Der theoretische Ansatz bleibt daher auch in seinem neuesten Werk ein dezidiert situationistischer. Allerdings wird die Theorie als solche hier nicht noch einmal ausbuchstabiert, was die Lektüre im Übrigen erheblich erschweren dürfte, sofern man mit seinem ersten Gewaltbuch nicht vertraut ist.
In Violence stand die Frage im Zentrum, wie soziale Akteure die quasi-natürliche Barriere aus Anspannung und Angst überwinden können, damit es in Interaktionen überhaupt zu Gewalt kommen kann. Wege zur Überwindung dieser Hemmschwelle ebnen nach Collins sogenannte pathways, die das emotionale Feld aus Anspannung und Angst so strukturieren, dass Akteure diesen Zustand in emotionale Energie umwandeln können. Beispiele hierfür wären etwa der Angriff auf ein schwächeres Opfer und die berüchtigte Vorwärtspanik, die emotionale Unterstützung durch die Eigengruppe oder die Austragung von Gewalt vor einem johlenden Publikum (etwa im Sport). Pathways sind letztlich immer Wege zur Herbeiführung von situativer Dominanz, ohne die kein Gewalthandeln auskommt.
In Explosive Conflict wird dieses Problem nun um die Fragen erweitert, wie lange gewaltsame Interaktionen anhalten, welchen dynamischen Verlauf sie dabei nehmen (auch im Sinne von: Wer gewinnt und wer verliert und aus welchen Gründen?) und unter welchen Umständen sie früher oder später auch wieder enden. Der Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 etwa kam vergleichsweise früh wieder zum Erliegen, die Französische Revolution nahm dagegen einen gänzlich anderen Verlauf (siehe hierzu S. 126–149). Außerdem fragt Collins nach dem Ausmaß an Zerstörung, die gewaltsame Interaktionen im Zuge ihrer je spezifischen zeitlichen Dynamik anrichten.
Im ersten Teil des Buchs, das die Kapitel 1–4 umfasst, wird das Problem der besonderen zeitlichen Dynamiken gewaltsamer Interaktionen und ihres Zerstörungspotenzials vor allem konzeptuell entfaltet, und zwar mit den weitgehend bekannten Mitteln eines Situationismus à la Collins. Dazu gehört zuallererst das Konzept der „Interaktionsritualketten“. Dieser Begriff steht für eine der Soziologie Erving Goffmans entliehene Vorstellung, nach der Menschen grundsätzlich ritualförmig handeln und menschliches Handeln daher als eine Verkettung von Interaktionsritualen zu betrachten sei, über die Symbole kollektiver Zugehörigkeit, emotionale Energie und Gruppensolidarität erzeugt werden.[4] Diese grundlegenden Momente menschlicher Interaktion beeinflussen sich wechselseitig. Deshalb hängen die soziale und somit auch die zeitliche Dynamik feindlicher Konfrontationen zwischen unterschiedlichen Gruppen oder Kollektiven etwa davon ab, wie gut es den Konfliktparteien gelingt, die Solidarität nach innen zu stärken und das eigene emotionale Energielevel hochzuhalten. Solange beide Seiten halbwegs erfolgreich darin sind, ist eine De-Eskalation des Konflikts nicht in Sicht und damit auch kein Ende der Gewalt (Collins spricht hier von D-Escalation, S. 17–39).
Auf diese Weise am Leben gehaltene und entsprechend länger andauernde Konflikte münden schlimmstenfalls in kollektive Gräueltaten, vor allem dann, wenn es zu Eskalationsdynamiken kommt, in denen die Konfliktparteien ihre Polarisierung wechselseitig befeuern: „Polarization causes atrocities. Because we feel completely virtuous, everything we do is good, whether it be torture, mutilation, or massacre. And because at high polarization the enemy is completely evil, they deserve what is done to them. Genocidal massacres, like Rwanda in 1994, start with build-up of emotional polarization, broadcasting the threat of atrocities that the enemy has already carried out, or is about to carry out if we do not forestall them. […] Polarization is the dark shadow of the highest levels of successful interaction ritual. The more intense the feeling of our goodness, the easier it is to commit evil.” (S. 22) Derartige Formen der Konflikteskalation nennt Collins C-Escalation, wobei das C hier für counter steht und in erster Linie ein sich gegen- oder eben wechselseitig verstärkendes Moment der Polarisierung meint.
Der Begriff D-Escalation steht also für de-eskalierende Konfliktverläufe, während C-Escalation im Sinne der eben beschriebenen Polarisierung das Gegenteil bezeichnet. Die Modellierung dieser entgegengesetzten zeitlichen Dynamiken sozialer Prozesse, die gewaltsame Konflikte von sehr unterschiedlicher Intensität hervorbringen können, gehört zu den theoretisch besonders aufschlussreichen Passagen dieses Buchs. Wer sich für technische Einzelheiten interessiert, der schaue sich das Modell genauer an, mit dem Collins ein äußerst brauchbares analytisches Instrumentarium zur Verfügung stellt, dem man sich zur Untersuchung vergleichbarer Phänomene umstandslos bedienen kann. Collins selbst macht im Kern dann auch nichts anderes, wenn er in den darauffolgenden Kapiteln am Beispiel jener Monate, die den Terroranschlägen auf das World Trade Center folgten, eine situationistische Perspektive auf temporäre Aufwallungen („Time-Bubbles“) kollektiver nationalistischer Emotionen skizziert (S. 40–53); oder wenn er die unterschiedlichen zeitlichen Dynamiken gewaltsamer Interaktionen noch einmal für die verschiedenen sozialtheoretischen Analyseebenen von Mikro bis Makro durchdekliniert und typologisch sortiert (S. 66–84). Die Fülle der von ihm zu Illustrationszwecken gewählten Beispiele für gewaltsame Ereignisse macht in diesen Kapiteln deutlich, wie viel empirische Varianz er mit seiner theoretischen Perspektive einzufangen vermag.
Eine dichte Beschreibung des Sturms aufs Kapitol
Der zweite Teil des Buchs ist dann vor allem den emotionalen Prozessen gewidmet: „[...] the collective moods that swing conflicts one way or the other, from the threshold of outbreak, to the time they call it quits.” (S. 8) Das Thema spielte bereits vorher eine wichtige Rolle, doch argumentiert Collins im zweiten Teil weniger technisch. Hier geht es nicht um die Modellierung unterschiedlicher Mechanismen der Konflikteskalation zu typischen Prozessverläufen, sondern um das, was man eine dichte Beschreibung dieser Prozesse nennen könnte. Mit einer bemerkenswerten Kenntnis historischer Details zeigt Collins hier, dass er seine Theorie wirklich sprechen lassen kann, indem er zentrale Ereignisse und vor allem Ereignisketten etwa im Kontext der Englischen (S. 102–117) oder der Französischen Revolution (S. 118–125) minutiös beschreibt. In diesen Kapiteln verschwindet die Theorie fast gänzlich hinter seinen Erzählungen. Zurück bleibt vor allem die Collins’sche Leitfrage, wer von den beteiligten Akteursgruppen ausreichend emotionale Energie erzeugen und diese zudem aufrechterhalten kann, um zumindest temporär immer wieder für situative Dominanz zu sorgen und somit den Lauf der Geschehnisse zu beeinflussen. Die hermeneutische Dichte der Beschreibung verdankt sich dabei dem durch Collins’ Erzählperspektive gewährten Einblick in den Emotionshaushalt kollektiver Akteure. Eng damit verbunden ist die vor allem für diese Kapitel erkenntnisleitende Frage, welche konkreten Ereignisse zu welchen emotionalen Stimmungslagen bei welchen Akteursgruppen geführt, und welche Stimmungsumschwünge ihrerseits welche Ereignisabfolge des historischen Geschehens begünstigt haben dürften.
In diesem Sinne beschreibt Collins den Sturm auf das Kapitol in Washington vom 6. Januar 2021 zunächst als ein vielschichtiges Puzzle aus diversen Schauplätzen rund um Capitol Hill (später auch innerhalb des Gebäudes), an denen verschiedene Kommandoeinheiten staatlicher Ordnungskräfte permanent abzuwägen hatten, welche Aussichten überhaupt bestanden, die Menschen vom Eindringen in das Gebäude und vom weiteren Vordringen in diesem abhalten zu können (S. 126–149). Entscheidend für diese Abwägung war nicht zuletzt, ob sie weiter daran glaubten, die dringend benötigte Verstärkung durch weitere Einheiten würde in absehbarer Zeit eintreffen. Die Verunsicherung darüber war offenbar groß, was dann unter anderem dazu führte, dass erste Blockaden der Ordnungskräfte um die Mittagszeit aufgegeben wurden und immer mehr Menschen ungehindert in das Gebäude strömen konnten. Ausschlaggebend für den weiteren Verlauf war dann, dass die Sicherheitskräfte im Inneren des Gebäudes deutlich in der Unterzahl waren und offenbar bewusst den Anschein erweckten, keinen bewaffneten Widerstand leisten zu wollen („One gets the impression from watching videos made inside the building that the officers not in battle dress tried to maintain as much of an atmosphere of normalcy as possible”, S. 142). Die Eindringlinge durften sich stattdessen austoben und plündern, was das Zeug hält („Looting is emotionally easy; there is no face-to-face confrontation. It provides a kind of pseudo-victory over the symbols of the enemy”, ebd.).
Trotz der demonstrativen Gewalt hatte das Gesamtgeschehen längst eine deeskalierende Dynamik angenommen: die ohnehin diffusen politischen Ziele des Angriffs auf das US-Kapitol rückten für alle spürbar immer weiter in die Ferne und zu einer direkten Konfrontation mit Kongressabgeordneten kam es gar nicht erst; rings um das Gebäude waren die inzwischen massiv aufgestockten Truppeneinheiten immer erfolgreicher darin, die Menschenmenge zurückzudrängen (S. 145), und unter den Sicherheitskräften gab es selbst auf dem Höhepunkt der Ereignisdynamik – dem zwischenzeitlichen Eindringen der Menschenmenge in das Gebäude – nicht das Gefühl, ein Seitenwechsel sei strategisch die bessere Option, weil der Staatstreich kaum noch abzuwenden sei: „Two wavering bodies, with their usual disorientation and lack of smooth coordination at moments of crisis, do not create the ingredient that sways the behavior of security forces at the hinge of events: the feeling that revolution is inevitable, better to join it than be left of in the minority opposing it. The Capitol police, whatever twinges of sympathy or moments of soft demeanor they displayed, for the most part stayed firm.” (ebd.)
Drohnen und Emotionen oder: Wie sehen kriegerische Konflikte in der Zukunft aus?
Der dritte Teil des Buchs stellt mit den Kapiteln 9–12 zumindest in theoretischer Hinsicht die wohl anspruchsvollste Erweiterung des ersten Gewaltbuchs dar. Denn hier steht die Frage im Mittelpunkt, welchen Einfluss die Entwicklung von moderner Technologie, insbesondere im Bereich von IT, von Roboter-Technik und sozialen Medien auf Gewalt im Rahmen von kriegerischen Konflikten und zeitgenössischen Formen des Terrorismus hat. Was also geschieht mit dem „human element“ (das heißt den menschlichen Emotionen) gewaltsamer Interaktionen, wenn eines Tages nur noch oder überwiegend Drohnen, bewaffnete Roboter und ferngesteuerte Panzer in den Krieg geschickt werden? Collins Antworten sind allerdings eher spekulativen Charakters, wodurch ausgerechnet der dritte Teil des Buchs aus meiner Sicht weniger überzeugt als die vorherigen beiden. Das liegt auch daran, dass dieser Teil weniger auf historischen Beobachtungsdaten basiert, sondern primär auf der Analyse technologischer Entwicklungen, die hier auf ihre militärstrategischen Implikationen hin befragt werden. Nur werden diese Implikationen von Collins immer schon durch die Brille seiner Theorie bewertet, was zur Folge hat, dass vor allem jene Implikationen an Relevanz gewinnen, die das menschliche Element erneut zum Game Changer werden lassen könnten. Da alle Maschinen, so das Argument kurz und knapp, früher oder später repariert werden müssen und auch ferngesteuerte Panzer auf volle Dieseltanks angewiesen sind, wird auch der Verlauf von High-Tech-Kriegen davon abhängen, wie Militärtechniker auf dem Schlachtfeld ihre emotionale Energie, ihre Gruppenmoral und damit auch ihren militärischen Organisationsgrad hochhalten können:
„I would hypothesize that the relative efficiency of the human repair technicians determines the outcome of most robot battles. That brings the human element back in: it is a question not just of how skilled the repair techs are (if we can analytically disentangle that element), but of how motivated they are, how high their morale and confidence—how much emotional energy they have.” (S. 211)
Collins sagt für die Zukunft ganz neue Formen von Abnutzungskriegen vorher, in denen nicht nur Maschinen auf dem Schlachtfeld versorgt werden müssen, sondern auch der kriegsbedingte Verlust von modernster Technik nach und nach wieder durch menschliche Kampfkraft zu ersetzen sein wird (insb. S. 171–213). Wenn Collins hier also beschreibt, dass und inwiefern der Einsatz selbst von modernster Technologie im Kontext von Krieg oder Terrorismus an den Faktor Mensch gebunden bleibt, sind das durchaus aufschlussreiche Überlegungen. Am Ende aber überwiegt der Leseeindruck, dass es sich hierbei um theoretisch motivierte Spekulationen handelt, die auch anders ausfallen könnten.
Die letzten drei Kapitel, 13–15, sind eher als eine Art Aktualisierung des ersten Gewaltbuchs mit Hilfe neuerer Daten zu verstehen. Auf Grundlage neu verfügbar gewordenen Materials über die #MeToo-Bewegung etwa oder über Amokläufe, die sich in den vergangenen Jahren vor allem an US-amerikanischen Schulen ereignet haben, sind diese Kapitel offenkundig aus der Absicht heraus entstanden, die zentralen Thesen aus der mikrosoziologischen Gewaltstudie von 2008 empirisch weiter zu untermauern. Diese Kapitel sind daher vor allem dann lesenswert, wenn man daran interessiert ist, wie sich die von Collins seit jeher akribisch betriebene Suche nach verallgemeinerbaren mikrosoziologischen Mustern der Gewaltentstehung fortsetzen ließe, indem neues Datenmaterial zwecks empirischer Plausibilisierung zentraler Thesen herangezogen wird.
Kann Explosive Conflict die hohen Erwartungen an eine Fortsetzung von Violence erfüllen oder muss es sie notwendig enttäuschen, weil eben auch die Strahlkraft von Büchern einer ganz eigenen zeitlichen Dynamik unterliegt? Violence war ohne Zweifel das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt, das eine bemerkenswerte Diskussions- und Forschungsdynamik von internationaler Reichweite entfachen konnte. Explosive Conflict wird das nicht gelingen. So viel lässt sich sicher jetzt schon sagen. Mittlerweile setzt die Forschungsdiskussion neue und andere Schwerpunkte, die Collins in seinem neuen Buch kaum berührt. Dazu gehören auch Bemühungen, das Augenmerk wieder stärker auf die Untersuchung der sozialen Bedeutung(en) von Gewalt zu richten, um die soziohistorische Variabilität der Wahrnehmung, des Erlebens und der Erfahrung von Gewalt als Gewalt explizit als Forschungsproblem behandeln zu können. So sehr Collins sich auch in Explosive Conflict wiederum als Meister der dichten Beschreibung erweist, so wenig ist von ihm darüber zu erfahren, dass unser Gewaltverständnis immer schon gesellschaftlich imprägniert ist und sich Gewaltphänomene daher nicht losgelöst von miteinander streitenden und historisch wandelbaren Gewaltverständnissen untersuchen lassen. Dieser Umstand erscheint mir auch für eine emotionssoziologische situationistische Gewaltforschung von höchster Relevanz zu sein. Denn lässt sich nicht vor allem dann aus einem kollektiv geteilten normativen Selbstverständnis heraus emotionale Energie beziehen, wenn mittels Gewaltausübung zugleich um die Rechtmäßigkeit des eigenen Gewaltverständnisses gerungen wird? Aus diesem Grund kommt die Gewaltsoziologie wohl nicht umhin, immer wieder nach der tragenden Rolle etwa chauvinistisch-patriarchaler Herrschaftsformen oder rassistischer Gesellschaftsstrukturen im Zusammenhang mit Gewaltphänomenen zu fragen. Stand nicht für diejenigen, die sich gewaltsam Zutritt zum US-Kapitol verschaffen wollten, auch der Kampf um die Rechtmäßigkeit ihres eigenen Gewaltverständnisses auf dem Spiel, wonach die Ausübung von Gewalt zur Sicherung einer männlich-weißen Vorherrschaft nicht nur erlaubt, sondern vielmehr geboten war? Vor diesem Hintergrund wirken Collins Ausführungen zum Angriff auf das US-Kapitol, aber insbesondere auch jene zu sexueller Gewalt oder zu Polizeigewalt ein wenig aus der Zeit gefallen.
Fußnoten
- Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, übers. von Richard Barth und Gennaro Ghirardelli, Hamburg 2011, S. 58.
- Randall Collins, Dynamik der Gewalt, Hamburg 2011, S. 20 (eigene Hervorhebung).
- Siehe dazu auch die Beitragssammlung in Mittelweg 36 28 (2019), 1/2, insbesondere Wolfgang Knöbl, Collins im Kontext. Zur Vorgeschichte der jüngeren Gewaltsoziologie, S. 15–39; Eddie Hartmann, Produktiver Reduktionismus. Randall Collins’ Mikrosoziologie der Gewalt, S. 40–59.
- Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton, NJ 2004.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gewalt Interaktion Politik Sicherheit Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Eskalation
Dynamiken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg 2017
Ein dynamischer Interaktionsprozess
Rezension zu „Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt“ von Stefan Malthaner und Simon Teune (Hg.)