Martin Bauer | Veranstaltungsbericht |

Wer nicht mehr weiter weiß, sagt "Leben"

Bericht von der Tagung „Lebensführung, Lebenskunst und Lebenssinn“ des Lehrbereichs Allgemeine Soziologie am 24. und 25. Januar 2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin

Aus entsprechender Flughöhe lässt sich erfassen, dass sich die abendländische Philosophie- oder Ideengeschichte bisher im Wesentlichen mit drei großen Themen beschäftigt hat. An weit ausgreifende Sondierungen, die in der griechischen Antike damit begannen, das „Sein“ zu thematisieren, schloss sich in der Neuzeit eine über drei Jahrhunderte geführte Auseinandersetzung mit dem „Subjekt“ und seinem Bewusstseinszuständen an, die schließlich im 20. Jahrhundert abgelöst wurde von der Konzentration auf „Sprache“, das heißt auf diejenigen Aspekte des Zeichengebrauchs, die als konstitutiv für die Welt- und Selbstverhältnisse anzusehen sind. In dieser Schrittfolge taucht der Begriff „Leben“ bemerkenswerterweise nicht auf. Wollte man ihn dennoch unterbringen, böten sich zwei Möglichkeiten an: Man könnte die Behauptung aufstellen, dass es bei den Fragen nach „Sein“, „Subjekt“ und „Sprache“ immer schon und immer auch um das Leben gegangen sei, also etwa darum, zwischen belebter und unbelebter Natur zu unterscheiden, Subjekt als Geist und „Geist“ als die höchste Form von Leben zu verstehen, und darum, das Leben der Sprache, also ihr kulturgeschichtliches Dasein, zu erhellen. Es ließe sich jedoch – im Interesse an Spezifizierung – auch behaupten, dass sich die Frage nach dem „Leben“ erst mit der Entdeckung aufdrängt, dass es Sein nicht ohne belebte Natur, Subjekte nicht ohne Leib und Sprache nicht ohne Stimme gibt. „Leben“ wird nach dieser Lesart virulent, wenn die neuzeitliche Vorstellung auf Skepsis stößt, dass es das mentale Mobiliar eines Subjekts sei, das letztlich Auskunft darüber erteilt, wie Welt und Selbst, als Objekte dieses Subjekts, zu Gegenständen seines Wissens werden können. Wann solche Zweifel aufkommen und wie ihre Genealogie präzise zu datieren ist, darüber streitet die Historiografie. Ohne ihre Kontroversen entscheiden zu müssen, ist allerdings zu konstatieren, dass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von „Leben“ immer dann die Rede war, wenn Dualismen beseitigt werden sollten. Wer Unterscheidungen wie diejenigen zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Geschichte, Körper und Geist, Form und Inhalt überwinden wollte, der brachte „Leben“ als eine Kategorie ins Spiel, die tradierte Unterscheidungsgewohnheiten unterspült und außer Kraft setzt.

Weil mit diesem Grundbegriff ganz generell die Differenzierungen herkömmlicher Ontologien und moderner Theorien weltkonstituierender Subjektivität suspendiert werden, paarte sich der Einspruch gegen die Dualismen innerhalb von Philosophie und Humanwissenschaft in der Regel mit der Absage an Metaphysik: Mit ihr sollte es ein Ende haben. Bei etwas weniger traditionsfeindlichen Initiativen, also bei Köpfen, die unsicher waren, ob sich eine Disziplin, die sich den letzten Fragen stellt, ernsthaft abschaffen lässt, klangen die Ansprüche moderater: da sollte alte Metaphysik lediglich in neue, nämlich „deskriptive“ Metaphysik überführt werden. Sie sollte der Spekulation abschwören, um stattdessen die bedeutsamen Befunde der empirischen Naturwissenschaft, das hieß nicht zuletzt Darwins Evolutionismus, aufzugreifen und in umfassende Einheitslehren weiter zu verarbeiten – etwa zu Gesamtdeutungen in Gestalt monistischer „Welt“- oder „Lebensanschauungen“.

Gerade der antidualistische und antimetaphysische Furor dieser Ausgriffe auf monistische Synthesen verrät deren Verlegenheit. Wie ließe sich ohne die Verwendung von Unterscheidungen überhaupt beobachten, denken und sprechen? Folglich operiert „Leben“ in den zahlreichen Versionen von Willensmetaphysik, Anthropologie, Lebensphilosophie und Vitalismus, die in den Akten der jüngeren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte niedergelegt sind, häufig als ein eher leerer Signifikant.

„Wenn man nicht mehr weiter weiß“, stellte BASTIAN RONGE (Berlin) denn auch völlig zutreffend fest, „ sagt man ‚Leben‘.“ Mit diesem Satz brachte der Philosoph seinen Kommentar zum ersten Panel der Tagung auf den Punkt, die Donnerstag und Freitag vorletzter Woche zu Ehren des seit 1995 an der Humboldt-Universität lehrenden Soziologen Hans-Peter Müller stattfand. Müller, der gerade in Zusammenarbeit mit Tilman Reitz ein gut komponiertes und instruktives Handbuch zu Georg Simmel herausgegeben hat, ist als Experte für Durkheim und Simmel, aber auch in seiner Affinität zur Soziologie Bourdieus, Zeit seines akademischen Daseins dem Zusammenhang von Sozialstruktur und Lebensführung nachgegangen. Da er mit dem Ende des Sommersemesters 2019 seiner Emeritierung entgegensieht, hatten Anja Röcke, Katrin Bastian – Müllers Ehefrau –, und der Lehrbereich Allgemeine Soziologie eine Tagung mit der Überschrift „Lebensführung, Lebenskunst und Lebenssinn“ ausgerichtet, die klären sollte, wie es um den Begriff „Leben“ in „Soziologie, Philosophie und Psychologie“ bestellt ist.

Eine neue Soziologie des Lebens

Trotz der Müller zugeschriebenen Überzeugung, „Lebensführung sei das Alpha und Omega der Weber‘schen Soziologie“, begann die Veranstaltung weder mit Referaten zu ‚Max Webers Soziologie von Lebensführungen unter besonderer Berücksichtigung der protestantischen Ethik‘ noch mit Exegesen zu Pierre Bourdieus Habitus-Begriff, der Pariser Übersetzung von Webers Konzept. Weit davon entfernt, einzelne Kapitel aus der Vergangenheit der Soziologie noch einmal aufzuschlagen, bot der Auftakt der Veranstaltung umgekehrt avantgardistischen Aufbrüchen in der jüngeren deutschsprachigen Soziologie ein Forum, also der möglichen Zukunft der Disziplin. ROBERT SEYFERT (Duisburg/Essen) stellte in einem ebenso komprimierten wie eleganten Referat den programmatischen Entwurf einer „Lebenssoziologie“ vor. Ganz auf der Höhe der älteren wie jüngeren Diskussionen, also sowohl auf den Schultern von Henri Bergson und Georg Simmel wie auf denjenigen von Gilles Deleuze, Gilbert Simmondon und Brian Masumi, plädierte Seyfert vor einem Publikum, das so gut wie keine Studierenden, hingegen eine stattliche Anzahl emeritierter Silberköpfe versammelte, für eine grundbegriffliche Umstellung. Der zukünftige Gegenstand der Soziologie solle nicht mehr die soziale Ordnung in ihren möglichen Erscheinungsweisen sein, also etwa „Arbeit“ oder „System“, sondern das Leben. Es sei nicht nur als „Produkt des Sozialen“ zu begreifen, sondern auch als dessen „Substrat“, als die „Multitude der Körper“, die sich wechselseitig affizieren müssten, damit sich so etwas wie ein Gesellschaftskörper formiere. Werde dem Leben in seiner Doppelstellung als „Objekt und Subjekt der Soziologie“ Rechnung getragen, würde es die ihm verschriebene Sozialwissenschaft transformieren: aus einer Soziologie, die danach gefragt hatte, wie soziale Ordnung möglich sei, müsste eine Wissenschaft werden, die „das Andere der Ordnung“ thematisiere. Ihre Gegenstände wären nicht mehr (oder zumindest nicht primär) gewisse raumzeitlich identifizierbare Entitäten, sondern „Prozesse des Lebens“. Eine Stadt würde, wie Seyfert exemplifizierte, nicht mehr als geronnene Form untersucht, sondern als „Rhythmus und Fließen“.

Angesichts der aktuellen Entwicklungen in den Bio-, Medien-, Computer- und Kognitionswissenschaften müsse „Leben“ konzeptuell so weit gefasst werden, dass auch noch „artifizielles Leben“ zu dem Phänomenbereich zähle, den die Lebenssoziologie abdecke. Sie könne dann, ob dieser Erweiterung, auch für sich reklamieren, nicht neo-, sondern „post-vitalistisch“ zu sein. Die metaphysische Vermutung des Vitalismus, eine allem organischen Leben innewohnende, es in seiner Besonderheit ausmachende „vis vitalis“ sei am Werke, dementiert der lebenssoziologische Materialismus ausdrücklich. Dementsprechend unterscheidet die Lebenssoziologie im Sinne Seyferts auch nicht mehr strikt zwischen organischem und anorganischem Leben. Vielmehr zeigt sie sich mit Deleuze davon überzeugt, dass sich organisches Leben gerade durch den Einsatz technischer, also nicht-organischer Artefakte steigern und intensivieren lasse. In der Konsequenz dieses Monismus, das heißt der Vorstellung, ein Kontinuum des Lebendigen übergreife alle regionalen Ontologien, liegt es, jede Bornierung lebenssoziologischer Forschung auf menschliche Lebensformen und Lebensführungen zugunsten einer „trans-anthropologischen“ Perspektivierung zu korrigieren. Selbstverständlich können Lebensführungen und Lebensstile in einer Typik von „Subjektivierungsformen“ lebenssoziologisch erfasst werden, doch nimmt die Lebenssoziologie den Menschen – wie mit einer berühmt gewordenen Formulierung Nietzsches zu sagen wäre – als das „nicht-festgestellte Tier“ in den Blick. Ohne es explizit zu betonen, gaben Seyferts Ausführungen unmissverständlich zu verstehen, ein wie gründlicher Irrtum es wäre, die von ihm vertretene Lebenssoziologie für eine Soziologie genuin humaner Lebensformen zu halten.

Die fällige Dezentrierung eines „theoretischen Egoismus“, der menschliche Lebensformen grundlos überbewertet, führt dazu, dass die Lebenssoziologie, wenn und insofern sie Leben beobachtet, faktisch eine Paradoxie analysiert: Lebensvollzüge sind Formfindungsprozesse, die ihre Resultate stets transzendieren, also in der ausgeprägten Form nicht zur Ruhe kommen. Man denke nur an das Phänomen der Mode, also an Simmels Analyse dieser Paradoxie. Insofern müsste eine Soziologie, die sich als Lebenssoziologie verstehen will, das Leben als prinzipiell unbegrenzten und unbegrenzbaren Vorgang des „Anders-Werdens“ bestimmen. Struktur, Gestalt oder Form entstehen im Lebensprozess kontinuierlichen Anders-Werdens allein um den Preis anhaltender „Entstrukturierung“.

Neben der Befürchtung, Seyferts antidualistische Emphatisierung des Lebensbegriffs trage nicht zur Beseitigung, sondern allenfalls zur Verschlechterung von Metaphysik bei, brachte der Kommentar des Philosophen Bastian Ronge noch ein weiteres Bedenken vor. Nicht ganz überraschend für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter am Lehrstuhl von Rahel Jaeggi (Berlin) fragte sich Ronge, wie Kritik im Kontext der Lebenssoziologie überhaupt vorstellbar sei. Wenn die Lebensprozesse offenkundig nicht auf ein benennbares Ziel oder einen Zweck hin orientiert seien, stünde kein Kriterium zur Verfügung, das die soziologische Begleitung der Metamorphosen des Lebens mit Bewertungsmaßstäben ausstatte. Von daher sei die Lebenssoziologie zu reiner Diagnostik verurteilt, die bestenfalls empirisch zu erkunden vermöge, ob eine Intensivierung respektive Steigerung von Leben stattfinde oder nicht. Ohne dass der Name gefallen wäre, machte Bonge der Lebenssoziologie bei Lichte besehen zum Vorwurf, sie sei auf etwas fixiert, was ein Nietzscheaner wie Peter Sloterdijk „Vertikalspannung“ nennt.

Seyferts Doktorvater ANDREAS RECKWITZ (Frankfurt an der Oder) griff den Einwand auf, um zu betonen, dass die normative Präferenz einer lebenssoziologischen Programmatik zweifelsohne „Entstrukturierung“ sei. Damit hatte er zwar nicht erklärt, was von einer womöglich ‚kritischen‘ Lebenssoziologie zu erwarten sei, jedoch zumindest theoriepolitisch zu Protokoll gegeben, dass die Lebenssoziologie nicht ins konservative Lager passt. Nach ihrem Selbstverständnis ist gute soziologische Wissenschaft eben nicht eo ipso Ordnungswissenschaft.

Andere Soziologen im Auditorium fanden sich durch Seyferts Ausführungen nicht weiter provoziert. In gelassener Indifferenz zog man sich auf den Generaleinwand zurück, die Promovierung von „Leben“ zum soziologischen Grundbegriff ziehe unkontrollierbare Entgrenzungen im grundbegrifflichen Vokabular nach sich, deren absehbare Konsequenz nur die Auflösung des Faches sein könne. So blieb eine detailliertere Kontroverse aus. (Ein Zaungast der Veranstaltung müsste aus derartigen Reaktionsmustern entweder auf ein bemerkenswert stabiles Vertrauen in den Status quo der Soziologie als „normal science“ schließen oder – jetzt nicht wissenschafts-, sondern generationssoziologisch – darauf, dass Emeriti dem Umgang jüngerer Kollegen mit explosiven Stoffen deshalb entspannt beiwohnen, weil sie sofort erkennen, dass es sich nur um Tischfeuerwerk handelt. Aber vielleicht sagen sie sich auch, dass die nächste Krise des Faches nicht mehr die ihre sein wird?)

Leben im Zeitalter der Bio-Macht

Auch der Vortrag von MICHAEL MAKROPOULOS (Berlin) lief auf die Darstellung eines Dilemmas normativer Natur hinaus. Um der „Zentralität“ des Lebens auf die Spur zu kommen, inspizierte Makropoulos den Begriff des „Lebens“ historisch, nämlich zunächst auf den Spuren Helmuth Plessners. „Vernunft“, „Entwicklung“ und „Leben“ seien, so Plessner in einem Rückblick aus der Gegenwart der Zwanzigerjahre, „die erlösenden Worte“ des 18., 19. und 20. Jahrhunderts gewesen. Dabei avanciere „Leben“ nach dem Ende des Ersten Weltkrieges deshalb zur „Erlösungschiffre“, weil der Begriff nicht nur „erschöpfte Fortschrittshoffnungen“ zum Ausdruck brachte, sondern auch und nicht weniger akzentuiert „die Freude an der Dämonie einer offenen Zukunft“. Also verdanke „Leben“ seine „Zentralität“ am „Ende der klassischen Moderne“ der Anerkennung seiner „Unbestimmbarkeit“. Und mit seiner Unbestimmbarkeit sei zugleich die „Unbestreitbarkeit“ von Leben zu Bewusstsein gekommen. Folglich wird auffällig, dass das Leben „weder notwendig, noch unmöglich“ ist, also „kontingent“ in der streng modallogischen Bedeutung des Attributs. Wegen eben dieser Kontingenz bedürfe es der „Lebensführung“, so Makropoulos: Es sei die Gestaltungsoffenheit des Lebens, die seine Gestaltungsbedürftigkeit begründe.

Derselbe Konnex sei für Michel Foucault von Bedeutung gewesen, den der Referent als seinen zweiten Kronzeugen aufrief, um die Zentralität von „Leben“ herauszuarbeiten. Als „souverän“ hatte Foucault diejenige Macht definiert, die über Leben und Tod entscheidet. Von ihr ist historisch wie systematisch die „Bio-Macht“ als dasjenige Ensemble kapitalistischer Machtpraktiken zu unterscheiden, kraft dessen das Leben ganzer Bevölkerungen verwaltet, nämlich gesichert, optimiert und unter Effizienzgesichtspunkten bewirtschaftet wird. Mit dem Aufkommen der Bio-Macht werde das Leben in seiner Kontingenz, das heißt in der Verschränkung von Gestaltungsoffenheit und Gestaltungsbedürftigkeit, allerdings zu einem ausgezeichneten Gegenstand politischer Kämpfe. Kennzeichnend für die jetzt entstehenden Auseinandersetzungen und ihre Logik, das heißt charakteristisch für die Verwendung von „Leben“ als politisierter und politisierbarer „Erlösungschiffre“ unserer Gegenwart sei der Umstand, dass auch die Einsprüche gegen die Herrschaft der Bio-Macht über kollektives wie individuelles Leben im Namen des Lebens erhoben würden. Damit aber liefen alle Appelle zur Wiedergewinnung des Lebens, zu seiner Verteidigung, seiner Sicherung und zur Kontrolle über die „Identität“ unterschiedlicher Lebensformen, Gefahr, nichts anderes als „kulturelle Fortführungen“ eben der Bio-Macht zu sein, gegen die sie sich vermeintlich in Stellung brächten. Ein „neuer Absolutismus des Lebens“, den Makropolous mit seinen Überlegungen namhaft machte, sorgt dafür, dass es in den Kraftfeldern der Bio-Macht – Foucault hatte sie bekanntlich mit der Epoche des Liberalismus gleichgesetzt – keinen Ort für Dissidenz gibt. Sobald das Leben in seiner Kontingenz erscheint, sobald es zum Objekt der Politik wie der Reflexion werde, trete eine außerordentlich wirkmächtige Dichotomie in Geltung: Entweder wird es verfügbar gemacht oder als unverfügbar beschworen. Tertium non datur! Darin bekundet sich die Zentralität des Lebens in der Jetztzeit der Bio-Macht.

Der kurz aufgerufene Topos von der Unverfügbarkeit des Lebens spielte für den weiteren Gang der Tagung keine größere Rolle mehr. Nur der vormalige Foucault-Exeget Wilhelm Schmid, mittlerweile in Berlin ansässiger ‚freier Philosoph‘ und erfolgsverwöhnter Autor von Ratgeberliteratur, die im Programm des Suhrkamp Verlags Bestsellerstatus genießt, konnte in seinen Ausführungen zur Lebenskunst nicht umhin, die Trivialität zu würdigen, dass niemand im Leben alles bekommt. Das Leben sei „bipolar“ verfasst, kein Glück ohne Leid zu haben, kein Erfolg ohne Misserfolg. Ergo käme es auf Balancen an. Wer wollte derart tiefsinnigen Einsichten widersprechen, die ihr betont pastoral gestimmter Verfechter als „geistige Nahrung“ anpries?

Selbstoptimierung und athletische Karriere

Zur Verfügbarmachung von Leben lieferte die Tagung hingegen reichlich Material, wann immer aus der Empirie konkreter Soziologien der Lebensführung berichtet wurde. So präsentierte Hildegard MARIA NICKEL (Berlin) erste Auswertungen einer empirischen Studie, die (hauptsächlich männliche) Fach- und Führungskräfte der Deutschen Bahn nach ihren Erfahrungen bei dem Versuch befragte, sowohl den Anforderungen ihres beruflichen Alltags als auch den Erwartungen ihrer Familien zu genügen. Niemand im Auditorium wird überrascht gewesen sein, dass die Bilanzen solcher Ambition in Sachen Lebensführung enttäuschend ausfielen. Aufschlussreich hingegen war die Mitteilung, dass es vor allem hochqualifizierte Facharbeiter seien, denen es besser gelänge, die Ansprüche ihres Daseins als Familienmitglieder gegen die Leistungserwartungen ihres Arbeitgebers ins Feld zu führen. Demgegenüber tendierten Führungskräfte zur Resignation ins Faktische. Sie bewältigten ihr Arbeitspensum, häufig bis zu 60 Wochenstunden, im Zweifelsfall auf Kosten des Familienlebens und der Partnerinnen. Solche Erkenntnisse erinnern uns, gut platonisch, an das, was wir schon wussten.

GUNTER GEBAUER (Berlin) griff mit seinen Darlegungen zur „Lebensführung von Athleten im Spitzensport“ nicht auf methodisch kontrollierte und quantitativ gestützte Sozialforschung zurück, sondern auf die bestechenden Evidenzen einer gut informierten Phänomenologie. Der Sportphilosoph und -wissenschaftler verdeutlichte überzeugend, warum wir uns Spitzensportler*innen als Virtuosen innerweltlicher Askese vorzustellen haben. „Training“ sei eine besondere Form „rationaler Lebensführung“, die bei gewöhnlich vollständiger Absage an außerweltlich verankerte Heilsgewissheiten ganz auf innerweltliche Motivationsressourcen setze. Die leistungsoptimierende Arbeit an Leib und Seele fordere ein „selbst auferlegtes Ethos“, für das „Gewissenhaftigkeit“ und „Ehrlichkeit“ im Selbstverhältnis unabdingbar seien. So werde „im Engagement an die athletische Karriere“ eine „Fähigkeit zur Selbstführung“ eingeübt, die schon deshalb Familienähnlichkeiten mit Praktiken aus der Sphäre allgemeiner Lebenskunst unterhalte, weil sportliches im Gegensatz zu anderem Handeln „zweckfrei“ sei. Gerade in dem Maße wie eine disziplinierende Selbstführung eingeübt werde, trügen Sportler*innen zu einer „Ethisierung“ ihrer eigenen Praxis bei, durchherrsche jeden sportlichen Wettkampf doch eine „Libido dominandi“, die ihrerseits „domestiziert“ werden müsse.

Übten Akteur*innen des Sports einen Zivilisationsauftrag aus, so wäre mit Gebauer davon zu sprechen, dass sie seit der Antike für den Erwerb und Ausbau von Selbstführungskapazitäten geworben haben, die sich auch außerhalb der Welt sportlicher Wettkämpfe auszahlen. In ihnen wären, anders gesagt, Subjektivierungsweisen wirksam gewesen, deren Resultat Subjekte sind, die ihren Anspruch auf Herrschaft mit dem Vermögen zur Selbstbeherrschung legitimieren.

Demgegenüber betonte ANJA RÖCKE (Berlin), deren Vortrag über „selbstoptimierte Lebensführung“ erste Einblicke in die konzeptuelle Grundlegung ihrer soziologischen Habilitationsschrift gewährte, es sei ein Merkmal von Selbstoptimierung in der kapitalistischen Spätmoderne, also in der Epoche der „Bio-Macht“, keine Stoppregeln zu kennen. Nach Röcke bezeichnet Selbstoptimierung in den zeitgenössischen Gesellschaften einen in Wahrheit ergebnisoffenen Steigerungsprozess. Dessen Protagonist*innen sind augenscheinlich alle Mittel recht – ob es die Verwendung technischer Prothesen, die Einnahme animierender Pharmaka oder die Investition in chirurgische Verschönerungs- und Verbesserungsmaßnahmen sei. Gerade weil das Telos unbestimmt sei und bliebe, gerade weil keine bündige normative Matrix vorliege, die das Bemühen um Optimierung der eigenen Performanz, also das, was Gebauer noch als „Training“ ansprechen konnte, anleite und steuere, lasse sich die „selbstoptimierte Lebensführung“ nicht als „rational“ bezeichnen. Anzunehmen sei im Gegensatz dazu, dass sich die Praktiken selbstoptimierter Lebensführung aus Dynamiken speisten, die autodestruktive Züge trügen.

Sozialstrukturell verortete Röcke die Trägerschicht selbstoptimierter Lebensführung in der Mittelklasse, näher hin der oberen Mittelklasse. Dort siedelte sie auch ein Widerlager an, das unter Umständen erlaubt, den Zerstörungs- und Selbstzerstörungspotentialen dieses Typus von Lebensführung entgegenzuwirken. Röckes diesbezügliche Ausgangshypothese lautete, wer sein Leben führe, verhalte sich entweder instrumentell zu sich oder im Modus der Selbstachtung. Aus einer solchen Warte stellt der Zustand von Selbstachtung die Hinsicht bereit, unter der Selbstverhältnisse bewertet und ausgesteuert werden. Der Respekt vor sich, so Röckes normative Implikation, ist das Gegenmittel, das zur Abwehr pathologischer Formen optimierender Selbstinstrumentalisierung herangezogen werden kann.

Spätmoderne Konditionen gelingenden Selbst-Seins

Warum Reckwitz dem Dualismus von Selbstinstrumentalisierung versus Selbstachtung in der Diskussion des beeindruckenden Entwurfs von Röcke misstraute, verdeutlichte sein Vortrag über die „singularistische Lebensführung“. Auf der Spur der Zeitdiagnose, die in der Monografie über die „Gesellschaft der Singularitäten“ ausbuchstabiert wurde, richtete der Kultursoziologe das Augenmerk auf Praktiken der Lebensführung, die er in ihrer Gesamtheit als die „Lebensform performativer Selbstverwirklichung“ definierte. Diese Lebensform sei typisch für die neue Mittelklasse, verdanke ihre bestimmenden Merkmale jedoch einer ausgesprochen zerbrechlichen Synthese. Zusammengeführt würden zwei antagonistische Subjektivierungsweisen: zum einen die „romantische Subjektform“ emphatischer Individualität, die „Selbstverwirklichung“, „Authentizität“ und „Kreativität“ prämiere, zum anderen die meritokratisch ausgerichtete, „bürgerliche“ Subjektform, die „Investitionsarbeit in den sozialen Status“ verlange, etwa den aufwendigen Erwerb von Bildung. Was die besondere Fragilität dieser „spätmodernen Subjektform“ ausmache, so verweist sie laut Reckwitz auf die Diskrepanz zwischen einer „Innenorientierung“, die sich ganz auf das Selbst und die Entfaltung seiner Potentiale richte, und einer „Außenorientierung“, die den „sozialen Erfolg“ der Selbstverwirklichungsbemühung sicherstellen soll. Unter seiner „Innenorientierung“ sei dem spätmodernen Subjekt daran gelegen, die eigenen Praktiken als „intrinsisch wertvoll“ bewerten zu können, als Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen ausgeführt zu werden verdienen. Noch die professionelle Existenz solle mehr als bloß materielle Reproduktion sein. Selbst sie stehe unter der Erwartung, kreativ und „sinnstiftend“ zu sein. Insofern strebe das „singularisierte Ich“ danach, sich als ein Wesen zu erleben, das die Vielfalt seiner Potenziale unter dem Motto „I´'m large. I contain a multitude“ in einem Prozess anhaltenden Wachstums entfalte. Folglich verhält es sich – anders als in Röckes Interpretation – keineswegs instrumentell oder zweckrational zu sich selbst. Vielmehr ergibt sich aus dem Sachverhalt, die unterschiedlichen Fähigkeiten und Vermögen in sich zu entdecken, der Anspruch darauf, sie um ihrer selbst willen in Performanzen umzusetzen, die zugleich die erstrebte Singularisierung bewerkstelligen. Ein eigenständiges Optimierungsverlangen ist dazu gar nicht vonnöten. Freilich bedarf die Aktualisierung der eigenen Vermögen, soll das Resultat die performative Selbstverwirklichung sein, eines akklamierenden Publikums. Dementsprechend ist die Selbstachtung des spätmodernen Subjekts an den „Prestigewert sichtbarer Selbstverwirklichung“ gekoppelt. Bleiben die Likes der hundert besten Freunde auf Facebook aus, wird die Selbstverwirklichung nicht durch Attraktionsgewinne auf Arbeits- oder Partnerschaftsmärkten affirmiert, ist es um gelingendes Selbstsein geschehen. Die „extreme Enttäuschungsanfälligkeit“ dieser Lebensform beruht also nicht darauf, dass es sich um Selbstoptimierungsinitiativen handelt, denen bestimmbare Ziele fehlen. Was die spätmodernen Subjekte vor Aufgaben stellt, die sich kaum erfolgreich bewältigen lassen, ist die „widersprüchliche Doppelstruktur“ der Lebensform performativer Selbstverwirklichung. Sie ist das Ergebnis der Koexistenz von Innen- und Außenorientierung, also dem Umstand geschuldet, dass die Gesellschaft der Singularitäten die Kongruenz von Anerkennung und Selbstverwirklichung keineswegs lizensiert. Dass „ein widerspruchsfreies Subjekt in der Moderne nicht vorgesehen“ sei, war mithin die nüchterne Quintessenz, mit der Reckwitz das Auditorium konfrontierte, das seinerseits ein bisschen abgelenkt war. Denn draußen vor den Fenstern des Sitzungssaals an der Luisenstraße tönten die Megaphone der Schülerinnen und Schüler, die an diesem Freitag die Schule schwänzten, um für eine neue Klimapolitik zu protestieren. Ihr Ansinnen war nicht individuelle Selbstverwirklichung, sondern Selbsterhaltung der Gattung – eine andere Weise, sich für „Leben“ zu interessieren.

Tagungsprogramm (PDF)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Lebensformen

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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