Charlotte Wiemann | Rezension | 10.03.2022
Wider die Unterkomplexität
Rezension zu „Antisemitismus gegen Israel“ von Klaus Holz und Thomas Haury

Wenige Debatten sind so politisiert wie diejenigen über das Spannungsfeld zwischen legitimer Israelkritik und israelbezogenem Antisemitismus. Die Beispiele sind zahlreich: Ganz aktuell hat das Erscheinen eines Berichts von Amnesty International, der Israel eine Politik der Apartheid gegenüber Palästinenser:innen vorwirft, zumal in Deutschland für Auseinandersetzungen gesorgt. Während hierzulande insbesondere zivilgesellschaftliche Akteur:innen (zumeist mit Bezug zur Region Westasien oder Nordafrika) den Bericht begrüßten oder für legitim erachteten, kritisierten die Bundesregierung, einige Medien sowie größere jüdische Interessenverbände den Report als wenig hilfreich, voreingenommen und passagenweise antisemitisch. Weil bezweifelt werden darf, dass all die Kritiker:innen und Verteidiger:innen des Berichts die knapp 280 Seiten konzentriert gelesen haben, ist die aufgebrachte öffentliche Reaktion bemerkenswert. Ablehnung des Berichts wie Zustimmung schienen geradezu reflexhaft einem ritualisierten Deutungskampf zu gehorchen. Und das nicht zum ersten Mal: Im Frühjahr 2020 wurde diskutiert, inwieweit die israelkritischen Äußerungen des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe als antisemitisch einzustufen seien. Im Herbst 2021 drehte sich die Debatte dann um die palästinensisch-stämmige Journalistin Nemi El-Hassan, der unter anderem aufgrund einiger von ihr gesetzter Likes in den sozialen Medien eine Nähe zu israelbezogen-antisemitischen Positionen unterstellt wurde. Und der ehemalige Direktor des jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, trat Ende 2019 von seinem Amt zurück, nachdem der Arbeit seines Museums eine unverhältnismäßig kritische Position gegenüber Israel angekreidet wurde.
Alle drei Fälle – es gäbe weitere Beispiele – folgten einem ähnlichen Muster: Verschiedene Stimmen aus Politik, Medien und/oder Aktivismus lasten den Betroffenen israelbezogenen Antisemitismus an. Andere Stimmen, zumeist aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, verteidigen die Akteur:innen und solidarisieren sich mit ihnen. Bezeichnend für all diese Kontroversen ist dabei nicht nur die extreme Polarisierung und die oftmals vernichtende Tonlage der Vorwürfe, die unter Umständen doch mit erheblichen Konsequenzen für die attackierten Personen verbunden sein können, wie die angeführten Fälle belegen. Auch die Reichweite des öffentlichen Streits ist beachtlich: Antisemitismusforscher:innen beteiligen sich ebenso wie Feuilletonist:innen, auch Politiker:innen schalten sich ein, und die zunehmend in der Bundes- wie Landespolitik eingesetzten Antisemitismusbeauftragten melden sich zu Wort, von Aktiven aus der Zivilgesellschaft ganz zu schweigen. In Erklärungen, Tweets und offenen Briefen finden sich häufig verlockend einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen präsentiert – nicht selten aus der Motivation geboren, das eigene Selbstbild mit der betreffenden Stellungnahme ins rechte Licht zu rücken.
Nun sag, wie hältst du es mit Antisemitismus gegen Israel?
Die Soziologen Klaus Holz und Thomas Haury wollen mit ihrem neuen Buch „Antisemitismus gegen Israel“ diesen Polarisierungen entgegenwirken und das Phänomen des Antisemitismus gegen Israel ebenso grundlegend wie nüchtern untersuchen. In der Einleitung ihres Buches skizzieren sie die in den erhitzten Auseinandersetzungen virulenten Fragestellungen: Wann gleitet eine kritische Betrachtung Israels ab in antisemitisch anschlussfähige Feindschaft? Gibt es eine Tabuisierung der Kritik an Israel? Bergen dezidiert antikoloniale und antirassistische Analysen die Gefahr, einen Antisemitismus gegen Israel zu reproduzieren?
Holz und Haury wollen Denkanstöße liefern, die gängige Argumentationsmuster irritieren und damit zur Versachlichung beitragen. Weil ihnen klar ist, ein wie scharfes Schwert der (vor-)schnelle Antisemitismusvorwurf sein kann, plädiert bereits ihre Einleitung für eine Abkehr von geläufigen Pauschalurteilen. Folglich liefert der Kern ihrer Studie eine sorgfältige hermeneutische Ausleuchtung der unterschiedlichen Varianten des konfliktträchtigen, in Wahrheit jedoch vagen und nicht durch scharfe Kriterien definierten Antisemitismusvorwurfs. Angesteuert wird eine möglichst umfassende und tiefenscharfe Nachzeichnung der Deutungsmuster und Sinnzusammenhänge, die beim Antisemitismus gegen Israel ins Spiel kommen. Schon im Verzicht auf präzise Auslegungen zeigt sich nach Ansicht der Autoren häufig die jeweilige politische Präferenz von Kritiker:innen.
Grenzen kriteriologischer Zugänge
Also problematisieren die Autoren etwa den berühmten 3-D-Test, der zu Rate gezogen wird, sollen Indikatoren namhaft gemacht werden, die israelbezogenen Antisemitismus identifizierbar machen. Ihn hat der ehemalige israelische Politiker und Aktivist Natan Sharansky in der Absicht entwickelt, Aufschluss darüber zu geben, ob eine an Israel vorgebrachte Kritik tatsächlich antisemitisch ist: Dies sei dann der Fall, wenn Israel durch eine Behauptung dämonisiert, delegitimiert oder einer Beurteilung nach doppelten Standards unterzogen werde. Einem solchen kriteriologischen Zugang, der sich auch in der Arbeitsdefinition von Antisemitismus niedergeschlagen hat, mit der die „International Holocaust Rememberance Alliance" (IHRA) operiert, begegnen die Autoren mit größter Skepsis. Sich in der Bestimmung und Bekämpfung von Antisemitismus gegen Israel auf einen vergleichsweise schlichten Kriterienkatalog zu berufen, sei unzureichend, weil sich zu viel Raum für Missverständnisse böte. Texte der Neuen Rechten etwa, die unter einer hermeneutischen Perspektive zweifelsohne als antisemitisch einzuordnen seien, ließen sich bei Zugrundelegung der IHRA-Definition bisweilen kaum noch als antisemitisch charakterisieren.
Wer ernstzunehmend den Antisemitismus gegen Israel beforschen und bekämpfen wolle, müsse sich die Mühe einer sinnverstehenden Analyse machen, für die eine Handvoll vorgegebener Kriterien keinesfalls ausreiche. Vielmehr gelte es, Komplexitäten auszuhalten und die Konfrontation mit Uneindeutigkeiten zu reflektieren. Ohne die Bereitschaft, die jeweiligen Sinnhorizonte und sozialhistorischen Kontexte zu beachten, sei eine angemessene, nicht zuletzt wissenschaftlich fundierte Kritik des Antisemitismus ebenso wenig zu haben wie die Zurückweisung von Antisemitismuskritik.
Antisemitismen als Weltdeutungen
Holz und Haury verstehen Antisemitismen als tradierte Weltdeutungen, die sich über Jahrhunderte in die Kulturen eingeschrieben haben, die sie nutzen. Ziel einer Untersuchung von Antisemitismus gegen Israel müsse folglich eine hermeneutische Würdigung ebendieser Weltdeutungen sein. In sieben, thematisch gegliederten Kapiteln widmen sich die Autoren alsdann den Weltdeutungen des postnazistischen Antisemitismus, des Antisemitismus von links, des islamistischen Antisemitismus, dem Konfliktfeld zwischen Antisemitismus und Rassismus sowie dem christlichen Antisemitismus und demjenigen der Neuen Rechten. Das Kapitel über den postnazistischen Antisemitismus stellt das rhetorische Verfahren der Täter-Opfer-Umkehr heraus, das auf Schuldabwehr zielt und sich in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit einer fragwürdigen Prominenz erfreute, allerdings immer noch verbreitet ist. Die Untersuchung des Antisemitismus innerhalb der Neuen Rechten beleuchtet die Parallelität von antisemitischen und antiislamischen beziehungsweise rassistisch xenophoben Einstellungen, die rhetorisch gewöhnlich durch Lippenbekenntnisse zur Solidarität mit Israel verschleiert werden. Im Kapitel über christlich-zionistische Fundamentalist:innen wird deren antijudaistisches Weltbild seziert, das in aller Regel ebenfalls durch eine pro-israelische Haltung kaschiert werde.
Änderung der Blickrichtung
Indem sie ihre Analyse des Antisemitismus dadurch ausdifferenzieren, dass sie in der beschriebenen Weise unterschiedliche Weltdeutungen durchmustern, widersprechen Holz und Haury der in der öffentlichen Debatte praktizierten Gepflogenheit, den israelbezogenen Antisemitismus als Typus eigenen Rechts einzusortieren. Ihre Studie kann nicht erkennen, dass sich ein israelbezogener Antisemitismus trennscharf von den linken, rechtsextremen und islamistischen Varianten des Antisemitismus abgrenzen lasse. Im Gegenteil sei Antisemitismus gegen jüdischen Nationalismus und den jüdischen Staat in allen untersuchten Erscheinungsformen erkennbar – wiewohl in jeweils verschiedensten Ausprägungen. Aus diesem Grund plädieren die Autoren für eine Veränderung der Blickrichtung. Es gelte, die Unterscheidungen und Verbindungen der verschiedenen Antisemitismen – christlich, marxistisch-leninistisch, islamistisch, rassistisch, prä- und postnazistisch – gegen Israel genauer in den Blick zu nehmen. Mit einer solchen Perspektive könnten grundlegende Muster, das heißt Gemeinsamkeiten, festgestellt werden, die über Israel als vordergründig wiederkehrenden Topos hinausgingen. Ein entsprechendes Vorgehen sei insbesondere für die Bestimmung der nationalen, religiösen oder rassistischen Selbstbilder relevant, die Antisemit:innen in Abgrenzung zum Kollektiv „des Juden“ von sich selbst als „Wir“-Gruppe konstruierten. Solche Selbstbilder würden im gängigen, viel zu grobschlächtigen Konzept des „israelbezogenen“ Antisemitismus nicht beachtet, obwohl sie konstitutiv für die jeweils artikulierten Positionen seien.
Komplexitäten aushalten
Die Einschätzungen von Holz und Haury fallen angesichts der von ihnen untersuchten Felder ebenso differenziert wie wohlüberlegt aus, ohne dass ihre Studie einen allumfassenden Deutungsanspruch für sich beansprucht. Vor dem Hintergrund der Politisierung der Debatte ist die hermeneutische Anstrengung, die sich das Autorenduo für seine Auseinandersetzung mit den Facetten des Antisemitismus abverlangt hat, unbedingt zu begrüßen. Deren Erträge bereichern insbesondere die sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen, das durch erfreulich präzisere Deutungen aufgeschlossen wird. Allenfalls die methodische Notwendigkeit, im Prozess des Verstehens auch die eigene (akademische) Sozialisation, den eigenen Wissensstand, eigene Vorurteile und weltanschauliche -ismen in die Analyse miteinzubeziehen, hätten die Autoren noch stärker hervorheben können.
Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass es der propagierte hermeneutische Ansatz schwer haben wird, auf die ihm gebührende Resonanz zu stoßen. Denn im Gegensatz zu einem durch Hermeneutik gewonnenen, elaborierten Verständnis von Antisemitismus bevorzugen politische Gremien und öffentliche Debatten die vermeintlich griffigeren Resultate der „empirischen Antisemitismusforschung“. Was dort zählt, sind im Zweifelsfall statistische Daten. Also gilt die quantitative Datenerhebung antisemitischer Vorfälle, die sich auf simplifizierende kriteriologische Apparate stützt, vielerorts als das probate Mittel zur politischen Bekämpfung von israelbezogenem Antisemitismus. Solchen Daten einen letztlich ausschlaggebenden Stellenwert zuzuschreiben, mag noblen Motiven geschuldet sein – besonders hilfreich ist es nicht, wie das Buch von Holz und Haury mit aller wünschenswerten Anschaulichkeit verdeutlicht.
Fußnoten
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Demokratie Erinnerung Politik Rassismus / Diskriminierung Staat / Nation
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