Berthold Vogel | Rezension |

Wo sind die Kühe hin?

Rezension zu „Countryside. A Report“ von Rem Koolhaas / AMO

Rem Kohlhaas / AMO:
Countryside. A Report
Deutschland
Köln 2020: Taschen
S. 352, EUR 20,00
ISBN 978-3836584395

Die Nachrichten aus dem ländlichen Raum, aus Dörfern und Kleinstädten sind nicht eindeutig. Mal ist zu hören, dass dort nur noch Alte, Arme und Alkoholiker ihr abgehängtes Dasein fristen und aus Protest bevorzugt autoritäre Parteien wählen. Mal ist zu erfahren, dass sich gerade in der Provinz die hidden champions finden. Solche auf dem Land angesiedelten, hochspezialisierten Kleinbetriebe dominieren mit ihren Produkten der Medizintechnik, der Feinmechanik oder der Saatgutproduktion die Weltmärkte. Wie eine angemessene Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse jenseits der urbanen Zentren auch immer ausfallen mag, eines steht fest: Im Zuge der Debatte um Polarisierung und Zusammenhalt von Gesellschaft wendet sich sowohl das öffentliche wie auch das wissenschaftliche Interesse mehr und mehr dem Leben auf dem Land zu. Spaltung und Fragmentierung, Abstieg und Fortschritt sind längst nicht mehr nur Themen im Hinblick auf urbane Ballungszentren. Und diese Beobachtung trifft nicht nur hierzulande ins Schwarze. In Frankreich wird der Protest der „Gelbwesten“ als militanter Aufstand der Peripherie gedeutet. In den USA sind die „Hillbillies“ als Symbolfiguren devastierter und deindustrialisierter Landstriche zum Thema geworden. Der Drogenkonsum zersetzt in den ländlichen Regionen Ohios, West Virginias oder Missouris alle lokalen Sozialstrukturen. Keine heile Kleinstadtwelt, nirgends. Ist die soziale Frage zu einer Frage des Lokalen geworden?

So berechtigt diese Vermutung ist, so sehr vereinseitigt sie die Perspektive auf das Leben jenseits von Stadt und Urbanität. Denn in den Debatten über die countryside dominiert in der Regel die Niedergangsgeschichte. Daran kann weder Landlust noch die schönste Geschichte über hidden champions etwas ändern. Auch diese Sichtweisen repräsentieren letzten Endes positive Verlustprojektionen – der ländliche Raum wird als Sehnsuchtsort stilisiert, als eine Topologie präsentiert, in der sich völlig Unerwartetes findet (ein erfolgreicher Kleinbetrieb auf der Schwäbischen Alb oder in Ostwestfalen – hätten wir gar nicht gedacht!). Der Architekt Rem Koolhaas packt das Thema zum Glück ganz anders an. Er hat eine kühle Recherche in programmatischer Absicht unternommen. Sein ausgesprochen erhellender Zugriff auf die countryside wäre zurzeit in New York im Guggenheim Museum zu besichtigen, wenn nicht die Corona-Pandemie dazwischen gekommen wäre; eine Pandemie, by the way, die die Städte härter zu treffen scheint als die ländlichen Räume. Darauf deuten zumindest erste Forschungen hin, die wir am SOFI in Göttingen in den vergangenen Monaten angestellt haben.[1] Doch auch wenn man sich in absehbarer Zukunft nicht auf der Rotunde im Inneren des Guggenheim hocharbeiten kann, immerhin ist der Katalog zur Ausstellung greifbar. Aber kann eigentlich von „Katalog“ gesprochen werden? Tatsächlich handelt es sich um ein kleines, silbern glitzerndes Pocket-Büchlein, zu schwer für das Jackett und zu unattraktiv für den coffee table. Allerdings beschenkt uns dieses Büchlein, in dem sich nicht leicht blättern und aufgrund der winzig gesetzten Texte noch schwerer lesen lässt, mit einem kleinen soziologischen Glanzstück, wie es sich in den Bibliotheken der Zeitdiagnostik nur selten finden lässt

Auf engem Raum führt die besondere Publikation die ganze Welt vor: Serverfarmen in den USA und violett bestrahlte Welten der Tomatenproduktion in den Niederlanden, tauende Permafrostböden in Sibirien und Braunkohletagebau in Nordrhein-Westfalen, chinesische Infrastrukturprojekte in Afrika, Migranten, die darbende, vor sich hin alternde italienische Dörfer neu beleben, aber auch verlorene Landschaften rund um Fukushima oder soziale Proteste in Chile. Koolhaas und sein AMO/OMA-Team (Office of Metropolitan Architecture) sind in den vergangenen zehn Jahren ausgeschwärmt, um über die Kontinente hinweg Eindrücke aus dem ländlichen Raum (98 Prozent der bewohnbaren Erdoberfläche, nur 2 Prozent sind städtische Räume) zusammen zu tragen. Keine vergehende Welt wird im Moment ihres Untergangs noch einmal beschworen, mithin auch keine Nostalgie mit handelsüblichen Fundsachen bewirtschaftet. Vielmehr entsteht bereits beim Durchblättern der Eindruck, es mit einer disparaten Welt zu tun zu bekommen, die über ein beträchtliches Maß an Transformationsenergie verfügt. Nicht Stillstand oder gar Regression wird sichtbar, sondern Metamorphose allerorten. Blicken wir mit den Expertisen des Katalogs auf den ländlichen Raum, zeichnet sich eine beeindruckende Mischung aus Technopark und Dystopie ab, aus kraftvollen sozialen Orten und zukunftsstarken Ideen. Das entstandene Mosaik, zusammengetragen vom OMA-Netzwerk mit 300 Mitarbeitern in Rotterdam, Honkong, New York, Peking, Doha, Dubai und Sydney, entfaltet eine bemerkenswerte soziologische Wucht. Das Objekt „Land“ verändert sich radikal. Der Begriff „Provinz“ erhält eine neue Beleuchtung. Die „Fläche“, auf der sich unsere Gesellschaften entfalten, entwickelt eine ganz eigene Dramaturgie, die mit den herkömmlichen Unterscheidungen von Stadt-, Regional- oder Dorfsoziologie nicht mehr einzufangen ist.

Die These, die die Guggenheim-Ausstellung, den dazu gehörigen Katalog und die zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen von Rem Koolhaas zu Countryside – the future zusammenbindet, lautet: Nicht mehr die Städte und metropolitanen Zentren sind die Treiber der wirtschaftlichen, technologischen oder kulturellen Veränderungen, mithin die Schaufenster der Zukunft. Es ist das Land, die Provinz, die Fläche mit Dörfern und Kleinstädten, die diese Rolle mittlerweile übernommen haben. Die kenianische Architektin Etta Madete bringt es auf den Punkt, indem sie betont, dass der „leftover space“ und die „rural villages“ „[are] becoming the voice of reason on how to move forward“ (S. 91). Überall auf der Welt, auf allen Kontinenten, so die Feststellung, erleben wir den tiefsten Wandel und die radikalsten Veränderungen unserer Gesellschaften auf dem Land. Zwar werden diese Transformationen global umgesetzt, allerdings jeweils in lokalen Konflikten um öffentliche Güter bearbeitet und ausgefochten. Die Zukunft der Digitalisierung, der Logistik, der Ernährung, der Energiegewinnung, der Biodiversität, des Alterns, der Demokratie – sie nimmt ihren Ausgang jenseits der Metropolen. Tatsächlich geht es Koolhaas und seinem Team gar nicht um eine Aufwertung oder eine Rehabilitation des ländlichen Raums. Vielmehr ist für sie die pragmatische Feststellung von Interesse, wonach der ländliche Raum anderes und weit mehr ist als nur urbanes Hinterland, nämlich Experimentierfeld und Anwendungslabor. In der Fläche und für die Fläche werden die sozialen und technischen Architekturen der Zukunft entworfen: Die Windräder und Solarparks, die großflächigen Logistik- und Serverzentren, die Giga-Factories für die Mobilität von morgen. Auch die in stark alternden Gesellschaften fälligen neuen Wohn- und Lebensformen werden jenseits der Zentren geplant und gebaut – faktisch auch schon praktiziert. Nicht neue Ländlichkeit oder provinzielle Idyllik haben Koolhaas und seine Mitstreiterinnen in Bewegung gesetzt, sondern der Appell, dass unsere Gesellschaften ihre Zukunft verpassen, wenn sie in den alten Kategorien von Stadt und Land hängen bleiben. Ihnen muss eine Dezentrierung gelingen, das heißt der nicht zuletzt kognitive Schritt, Fläche, Region und Provinz nicht mehr als bloßes Hinterland zu betrachten.

Selbstverständlich ist an diesen Appell eine konkrete politische Sorge geknüpft. Wer das soziale Leben außerhalb der Städte als abgehängt klassifiziert, als einen „basket of deplorables“, betreibt – nolens, volens – das Geschäft autoritärer politischer Kräfte. Mitleid und Herablassung urbaner Eliten eröffnen keine Zukunft. Es sind Fragen – interessierte, neugierige, unvoreingenommene, bisweilen auch skurrile –, die neue gedankliche und praktische Räume entfalten. So ist es nur konsequent, dass dieser außerordentliche Ausstellungskatalog mit einem provokanten Frageapparat ausklingt, der sich über mehr als 25 eng bedruckte Seiten erstreckt und mit der Frage beginnt: „Where did the cows go?“

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Stadt / Raum Kunst / Ästhetik

Berthold Vogel

Prof. Dr. Berthold Vogel ist seit 2015 Geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität. Seine thematischen Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der Soziologie staatlicher Ordnung, in der Analyse öffentlicher Güter sowie der vielfältigen Welt der Erwerbsarbeit.

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