Andrea Protschky | Rezension | 26.06.2024
Wohnungslosigkeit als staatliches Versagen
Rezension zu „Homelessness. A Critical Introduction“ von Cameron Parsell

Im März 2024 mahnte Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarats, Deutschland zu mehr Anstrengungen gegen zunehmende Armut und Wohnungslosigkeit, auch durch Änderungen im Mietrecht. Die deutsche Bundesregierung führte unter anderem die Arbeit am Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit an, um ihre bereits laufenden Anstrengungen in diesem Bereich zu belegen.[1] Wer allerdings das 40-seitige Dokument konsultiert, stellt schnell fest: Weitreichende Maßnahmen werden darin kaum besprochen.
Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre von Cameron Parsells Homelessness. A Critical Introduction auch mit Blick auf den deutschen Kontext interessant. Parsell ist Professor an der School of Social Science der University of Queensland und forscht zu Armut, Wohnungslosigkeit und häuslicher Gewalt. In acht Kapiteln legt er Gründe für, Erfahrungen mit und Lösungen gegen Wohnungslosigkeit dar. Dabei analysiert er Wohnungslosigkeit als gesellschaftliches Problem, nicht als individuelle Verfehlung. In den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche Autor*innen die gesellschaftlichen Ursachen für und Umgangsweisen mit Wohnungslosigkeit untersucht, während öffentliche Debatten nach wie vor häufig in individualisierenden Diskursen über Schuld und Krankheit verfangen bleiben. Gerade für eine interessierte Öffentlichkeit kann das Buch durch seine verständliche Sprache (allerdings auf Englisch) einen Zugang zum Thema bieten.
Durch die Konzentration auf Wohnungslosigkeit im öffentlichen Raum wird die Situation der Mehrzahl wohnungsloser Menschen, die etwa in speziellen Unterkünften oder bei sozialen Kontakten leben, ausgeblendet.
Parsell beginnt mit einer Gegenstandsbeschreibung, in der er das Problem der Wohnungslosigkeit in „wohlhabenden wohlfahrtsstaatlichen Demokratien“ (S. 10, meine Übers., A.P.) umreißt. Der geografische und inhaltliche Fokus der Analyse liegt also auf Ländern wie den USA, Kanada, Staaten in Europa und Asien sowie Australien und Neuseeland, die – so Parsell – trotz lokaler Unterschiede Gemeinsamkeiten hätten, was den Umgang mit Wohnungslosigkeit anbelangt, etwa in der Struktur spezialisierter Angebote für wohnungslose Menschen. Trotz des öffentlichen und politischen Interesses an Wohnungslosigkeit konzentriere sich die Aufmerksamkeit jedoch meist auf Wohnungslosigkeit im öffentlichen Raum. Dadurch werde die Situation der Mehrzahl wohnungsloser Menschen, die etwa in speziellen Unterkünften oder bei sozialen Kontakten leben, ausgeblendet, was auch ihre Heterogenität verschleiere. Gleichzeitig sind Parsell zufolge bereits marginalisierte Gruppen in besonderem Maße von Wohnungslosigkeit betroffen, während andere deutlich besser abgesichert sind.
Im zweiten Kapitel vertieft der Autor die zuletzt genannte Beobachtung, indem er die Ursachen von Wohnungslosigkeit genauer betrachtet. Dabei geht Parsell besonders auf den fehlenden Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, auf Armut, Trigger-Events wie Entlassung aus Institutionen (Haft, Gesundheitssystem, Jugendhilfe), Zwangsräumung, Trennung oder häusliche Gewalt sowie Rassismus ein. Er verdeutlicht die enge Verzahnung dieser Faktoren – so führt das Verlassen der Wohnung im Fall häuslicher Gewalt in der Regel nur bei geringen finanziellen Ressourcen und einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu Wohnungslosigkeit. Doch auch auf der Straße, in Hilfseinrichtungen oder wenn sie bei Freund*innen oder Bekannten unterkommen, sind wohnungslose Menschen zahlreichen Gewalterfahrungen ausgesetzt. Dies beleuchtet Parsell im dritten Kapitel und zeigt verschiedene Umgangsstrategien wohnungsloser Menschen auf, die teilweise selbst Gewalt beinhalten.
Auf symbolische Formen von Gewalt gegen wohnungslose Menschen geht der Autor mit der Betrachtung von Identität und Identitätszuschreibungen im fünften Kapitel näher ein. Auch wenn Studien vermehrt zeigten, dass sich wohnungslose Personen mit verbreiteten gesellschaftlichen Normen, der eigenen Familie oder täglichen Treffpunkten identifizierten, würde ihnen immer wieder eine vom Mainstream abweichende, eng mit ihrer Wohnungslosigkeit verknüpfte Identität zugeschrieben, was teilweise auch das Selbstbild wohnungsloser Personen präge. Die Fremdidentifikation habe auch materielle Auswirkungen, denn auf Grundlage der Zuschreibung abweichender Normen, Fähigkeiten und Bedürfnisse würden Lösungen entwickelt, die für die Versorgung der breiten Bevölkerung kaum akzeptabel erschienen, etwa Parkplätze als Schlafplätze, das Verteilen von Schlafsäcken oder minutiöse Kontrolle in Notübernachtungen.
Solche spezialisierten Hilfsangebote diskutiert der Autor im vierten, sechsten und siebten Kapitel. Dabei betrachtet Parsell zunächst die Situation wohnungsloser Menschen als Nutzer*innen spezieller zivilgesellschaftlicher und staatlicher Angebote der Wohnungslosenhilfe. Gerade im Fall freiwilliger Angebote kritisiert er die öffentliche Würdigung solcher Einrichtungen, stünden dabei doch weniger wohnungslose Menschen oder Wohnungslosigkeit verursachende gesellschaftliche Probleme im Vordergrund, sondern die Helfenden als gute Menschen und Zeichen einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Der Rückbau sozialstaatlicher Leistungen, Gewalterfahrungen, einseitige Abhängigkeit und der Verlust von Autonomie in Hilfseinrichtungen werde in entsprechenden Diskussionen kaum thematisiert. Die Kombination solcher Hilfsangebote auf der einen Seite mit repressiven Maßnahmen wie der Verdrängung aus dem öffentlichen Raum oder feindlicher Architektur, die bestimmte Nutzungen verunmöglicht, auf der anderen Seite betrachtet Parsell im sechsten Kapitel. Sowohl in repressiven wie auch scheinbar helfenden Maßnahmen gingen Entscheidungsträger*innen und Mitarbeiter*innen häufig von einer Unzulänglichkeit wohnungsloser Menschen als Ursache für ihre Wohnungslosigkeit aus, weshalb sie Zwang zur Hilfeannahme, Kontrolle und Umerziehung als gerechtfertigt ansehen würden. Klassischerweise müssen Betroffene mehrere Hilfsinstitutionen durchlaufen und strengen Verhaltensregeln (z.B. Abstinenz) entsprechen, bis sie irgendwann (wenn überhaupt) wieder eine eigene Wohnung bekommen können. Insgesamt zeigt der Autor, dass derzeit verbreitete Maßnahmen im Umgang mit Wohnungslosigkeit kaum in der Lage sind, gegen selbige vorzugehen: Repression im öffentlichen Raum marginalisiere wohnungslose Menschen, während sie häufig jahrelang in Hilfsangeboten feststeckten oder den Zugang zu Hilfe verlieren, weil sie die strengen Regeln in Einrichtungen nicht einhalten könnten oder wollten.
Im siebten Kapitel greift Parsell wohnungsgeleitete Programme wie Housing First, die wohnungslosen Menschen grundsätzlich permanenten Zugang zu einer Wohnung ohne den Umweg über vorgelagerte Hilfsangebote bieten, noch einmal gesondert heraus. Er betont die positiven Seiten solcher Modelle für die Nutzenden im Vergleich mit den zuvor diskutierten Stufenmodellen, da sie ein Vielfaches an Sicherheit, Autonomie und sozialer Teilhabe böten. Gleichzeitig kritisiert der Autor an Housing First den starken politischen Fokus auf Kosteneinsparungen gegenüber klassischen Hilfsangeboten, da hierbei die Interessen der nicht wohnungslosen Bevölkerung in den Vordergrund gestellt und Hilfe auf kosteneffiziente Angebote und einen kleinen Anteil wohnungsloser Menschen begrenzt würde. Zudem würden, wie in klassischeren Hilfsmodellen auch, Probleme wie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Armut, die Wohnungslosigkeit erst produzierten, weder angegangen noch thematisiert. Hier – wie auch in den vorangegangenen Kapiteln – betont Parsell die Rolle des Staates, der durch sein Agieren Wohnungslosigkeit verhindern oder befördern kann. Auch hebt er immer wieder die Verantwortung der betreffenden Gesellschaften im Umgang mit Wohnungslosigkeit hervor.
Entsprechend beschäftigt sich das achte und letzte Kapitel mit der Frage, was Gesellschaften gegen Wohnungslosigkeit tun sollten und nennt Positivbeispiele wie Finnland und Schottland, die groß angelegte staatliche Strategien gegen Wohnungsnot entwickelt haben. Gerade Finnland konnte durch den Bau gemeinwohlorientierten bezahlbaren Wohnraums und den Umbau von Notunterkünften die Zahl wohnungsloser Menschen stark reduzieren. Allerdings bemerkt Parsell gleichzeitig, dass öffentlicher Wohnungsbau in diesem Maßstab in anderen Ländern kaum umsetzbar sei, da das politische Klima dort anders sei und die Bevölkerung Wohneigentum für wichtig halte. Als Alternative führt er kooperativen und genossenschaftlichen Wohnungsbau an. Das abschließende Kapitel scheint vor dem Hintergrund der vorangegangenen Argumentation beinahe widersprüchlich. Parsells Appelle für verändertes staatliches Handeln und gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf Wohnungslosigkeit treten in den Hintergrund, wenn er sozialen Wohnungsbau in vielen Ländern als unrealistisch beschreibt und genossenschaftliche Wohnformen als einzige überall gangbare Lösung präsentiert. Letztere mögen in der Bekämpfung der Wohnungskrise eine wichtige Rolle spielen, es bleibt aber fraglich, ob sie diese wirklich im nötigen Ausmaß und für alle Bevölkerungsgruppen zu lösen vermögen.
Während Parsell die Gegensätze zwischen wohnungslosen und nichtwohnungslosen Menschen überbetont, verwischt er soziale Machtverhältnisse innerhalb der Bevölkerung mit Wohnung.
In seiner Gesellschaftskritik in den vorangegangenen Kapiteln analysiert der Autor – zum großen Teil schlüssig – staatliches sowie gesellschaftliches Handeln und macht dabei auch vor vielgelobten Programmen wie Housing First nicht Halt. Allerdings lässt er zentrale Prozesse, die zur Entstehung von Wohnungslosigkeit beitragen, fast vollständig außen vor. So hinterfragt er das System der marktförmigen Wohnungsversorgung kaum grundlegend, die Warenförmigkeit der Wohnung findet erst im achten Kapitel kurze Erwähnung. Auch die Kategorie Eigentum und seine ungleiche Verteilung in Gesellschaften kommen in Parsells Analyse so gut wie nicht vor, für ihn trägt ‚die Gesellschaft‘ Verantwortung für Wohnungslosigkeit: „Durch den Ausschluss von Menschen aus Wohnraum drängen wir sie in eine Position, in der sie abhängig von Hilfssystemen sind, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen.“ (S. 82, meine Übers., A.P.) Die Dichotomie zwischen wohnungslosen und nichtwohnungslosen Menschen, die hier angenommen wird (wir/sie), kann aber nicht überzeugen. Wer ist dieses „wir“, das Menschen von Wohnraum ausschließt? Der Großteil der Menschen in den von Parsell untersuchten Gesellschaften ist mangels ausreichenden Wohneigentums, politischen Einflusses oder gar Wahlrechts höchstens mittelbar in der Lage, wohnungslose Menschen von Wohnraum auszuschließen. Während er die Gegensätze zwischen wohnungslosen und nichtwohnungslosen Menschen dadurch überbetont, verwischt der Autor soziale Machtverhältnisse innerhalb der Bevölkerung mit Wohnung.
Insgesamt liefert Parsell eine gute Übersicht über den Stand der Forschung zu Wohnungslosigkeit in hochindustrialisierten Ländern. Seine Argumentation und Kritik sind zum Großteil einleuchtend, einzelne Aspekte – die Zentralität von Wohnraum, die Spiegelung gesellschaftlicher Normen im Umgang mit Wohnungslosigkeit, die Rolle des Staates – wiederholt er dabei beinahe gebetsmühlenartig. Gleichzeitig gerät die Analyse sozialer Ungleichheiten, die ursächlich für Wohnungslosigkeit sind, erstaunlich oberflächlich. Parsells letztendliche Vorschläge für eine gesellschaftliche Transformation bleiben dann selbst hinter seiner vor allem staatsfokussierten Kritik zurück, wenn er eine groß angelegte staatliche Intervention im letzten Kapitel als in vielen Kontexten unrealistisch darstellt. Das Buch ist also als Einführung sowohl für Laien als auch Forschende durchaus eine lohnenswerte Lektüre, für kritische Perspektiven sollten Interessierte aber zusätzlich auch andere Arbeiten konsultieren.[2]
Fußnoten
- Siehe hierzu Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Überwindung der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030. Nationaler Aktionsplan Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenberichterstattung [29.4.2024].
- Vgl. bspw. Brian Hennigan, House Broken. Homelessness, Housing First, and Neoliberal Poverty Governance, in: Urban Geography 38 (2017), 9, S. 1418–1440; Drew Kaufman, Expulsion. A Type of Forced Mobility Experienced by Homeless People in Canada, in: Urban Geography 43 (2022), 3, S. 321–343; Samira Kawash, The Homeless Body, in: Public Culture 10 (1998), 2, S. 319–339.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Gruppen / Organisationen / Netzwerke Normen / Regeln / Konventionen Soziale Ungleichheit Sozialpolitik Stadt / Raum
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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