Aaron Lahl | Rezension | 30.05.2023
Woke Jungs?
Rezension zu „Porno, Sex und Männlichkeit. Wie junge Männer ihre Sexualität schaffen“ von Reinhard Winter

Seine Auseinandersetzung mit dem Sexual(er)leben junger Männer leitet Reinhard Winter, der sich als „der profilierteste Jungenexperte im deutschsprachigen Raum“ (S. 4) vorstellt, mit einer Zeitdiagnose ein. Als Pädagoge, Berater und Leiter eines sozialwissenschaftlichen Instituts in Tübingen ist er der Ansicht, dass die in den letzten Jahren (zum Beispiel im Zuge der Metoo-Bewegung) formulierte Kritik an männlichem Chauvinismus zwar grundsätzlich berechtigt sei, inzwischen aber überhandgenommen habe und heranwachsende Männer von ihrer Männlichkeit entfremde:
„Ein nur machtanalytisches, herrschaftskritisches Verständnis von Männlichkeit reduziert Geschlecht auf die Dimension der Dominanz, Macht oder Gewalt und lässt wenig Raum für Gelingendes. Theoretisch sicher wichtig und auch erkennbar bei den Jungs angekommen, nützen ihnen solche Konzepte für ihre Aneignungs- und Bewältigungspraxis wenig, sondern bringen sie durcheinander. Die spürbare Verunsicherung der Jungs durch die Gemeinplätze der Männlichkeitskritik öffnet zwar als ein positiver Effekt traditionelle Vorstellungen, gleichwohl fehlt es an Anregungen und Informationen, an etwas Substanz nach der Männlichkeitsdemontage.“ (S. 72)
Nun mag der Autor zwar Recht damit haben, dass im männlichkeitskritischen Diskurs und teilweise auch in der Mainstreamkultur ein eigentümlicher Essenzialismus Einzug gehalten hat (Männlichkeit = männliche Herrschaft); ersichtlich etwa am Aufstieg von Schlagworten wie toxic masculinity und male gaze. Doch Winter beantwortet Gemeinplatz mit Gemeinplatz, nämlich mit dem Stereotyp des von der vermeintlichen feministischen Hegemonie verunsicherten und sich übermäßig selbst kontrollierenden jungen Mannes, kurz: „Kontroll-Männlichkeit“ (S. 58) beziehungsweise „Woke-Männlichkeit“ (S. 61) als neuer Sozialtypus. Die von Winter beschriebenen Phänomene wie Gehemmtheit und überangepasste Selbstkontrolle mag es in der Sexualität junger Männer durchaus geben. Doch Winter überzeichnet dieses Bild und vernachlässigt alles, was sich darin nicht einfügt. Dass es nach wie vor gravierende Macht- und Ressourcenasymmetrien im Geschlechterverhältnis gibt, dass Männer nicht nur vorverurteilt werden, sondern auch sexuelle Gewalt begehen, dass es jenseits des Gefahrendiskurses zur männlichen Sexualität auch eine massenmediale Flut an traditionellen, positiven und teilweise auch Dominanz glorifizierenden Männlichkeitsbildern gibt – all das spart Winter aus oder übergeht es leichtfüßig.
Wie die Rede von der „Substanz nach der Männlichkeitsdemontage“ zeigt, möchte Winter der angeblich kulturell allgegenwärtigen Verurteilung von Männlichkeit ein affirmatives Bild entgegensetzen. Dabei geht es ihm nicht um die Wiederherstellung dessen, was er „Dominanz-Männlichkeit“ (S. 52) nennt, vielmehr um eine reformierte, modernisierte, integrierte Männlichkeit. Das pädagogische Ziel, das er sich setzt, ist kein geringes: Winter möchte heranwachsende Männer animieren, sich mit ihren in die Pornografie ausgelagerten Wünschen und Identitätsentwürfen auseinanderzusetzen, um sie in ihr männliches Selbstbild zu integrieren. Doch wie in jeder Identitätskonstruktion wird hier nicht nur integriert, sondern auch ausgeschlossen. Den Gedanken, dass auch Männer weibliche Anteile und Identifikationen haben – Ausgangspunkt der psychoanalytischen Bisexualitätslehre –, erwähnt Winter im ganzen Buch kein einziges Mal. An einer Stelle heißt es gar, die Abgrenzung von Männern und Frauen sei eine „archaische Notwendigkeit“ (S. 63).[1]
Die Sexualität junger Männer
Dass die Lektüre seines Buches auch dann gewinnbringend ist, wenn man Winters Zeitdiagnose nicht beipflichtet, verdankt sich einer umfangreichen Erhebung, die er mit einem Forschungsteam durchführte.[2] Untersucht wurde, wie 18- bis 25-jährige Männer, die Winter „Jungs“ nennt, ihre Sexualität im Spannungsfeld von Pornografie, Beziehungsintimität und sich wandelnden Männlichkeitsbildern „bewältigen“ (S. 12). Die Bezeichnung „Jungs“ soll den Umstand widerspiegeln, dass die Probanden hinsichtlich zentraler soziologischer Marker (zum Beispiel fester Einstieg ins Berufsleben oder Familiengründung) noch nicht vollständig in die Erwachsenenwelt eingetreten sind. Die verlängerte Adoleszenz schlägt sich dem Autor zufolge in einer noch bis ins junge Erwachsenenalter reichenden sexuellen Selbstfindungsphase nieder.[3] Ob das die Bezeichnung erwachsener Männer als „Jungs“ rechtfertigt, darf allerdings bezweifelt werden. Jedenfalls macht der Forscher mit dem infantilisierenden Etikett seine Probanden schon vorab zu dem, was sie seiner Diagnose nach sind: unmännlich, harmlos, hilfsbedürftig.
Winter und sein Team haben fünfzig leitfadengestützte Interviews geführt: 32 mit überwiegend heterosexuellen jungen Männern,[4] 17 mit jungen Frauen (über ihre Erfahrungen mit Jungs/Männern) und eines mit einem Pornodarsteller und -produzenten. Die Stichprobe weist wie häufig in der Sexualforschung einen studentischen Überhang auf. Zusätzlich realisierte Winter eine quantitative Studie mit 175 Probanden. Das Mixed-Methods-Design ermöglicht es dem Autor, die Sexualität junger Männer recht umfassend zu beschreiben. Drei Ergebnisse, die bekannte Befunde replizieren und teilweise vertiefen, seien hier herausgehoben.
- Junge Männer tendieren dazu, ihr Liebes- und Sexualleben in zwei Sphären aufzuteilen: „Partnersex wird idealisiert und ‚bereinigt‘, während im Pornosex Entgrenzung und Entgleisung aufgehoben sind.“ (S. 10) Es fällt ihnen schwer, beide Sphären (und sei es auch nur im Gespräch) zueinander in Beziehung zu setzen. – Erinnern mag diese Diagnose an die bereits vor über hundert Jahren von Freud als typisch für die männliche Sexualität beschriebene Spaltung zwischen zärtlichen (unbewusst inzestuös besetzten) und sinnlichen Beziehungsformen: „Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.“[5]
- Pornografiekonsum hat mehrere Bedeutungen und Funktionen (S. 127 ff.), unter anderem dient er der Abfuhr einer als triebhaft erlebten sexuellen Spannung, dem Stimmungsmanagement, der Bewältigung von Langeweile, der Prokrastination, der Entlastung gegenüber sexuellen Leistungsanforderungen (mehr als die Hälfte der jungen Männer bewertet den letzten Geschlechtsverkehr als „anstrengend“, S. 116) oder der Inspiration für die Paarsexualität. Für eine Subgruppe von jungen Männern ist der Pornokonsum konflikthaft aufgeladen: Etwa ein Drittel der Teilnehmer der quantitativen Studie berichtet von einem schlechten Gewissen und aktuellen Bemühungen, den Konsum einzuschränken (S. 146). Dass Winter weder in den (beim Thema Porno tatsächlich nicht zu unterschätzenden) Alarmdiskurs[6] einstimmt noch die Konflikte übergeht, die mit Pornokonsum assoziiert sein können, ist eine Stärke seines Buches.
- Junge Männer sind in ihrer Sexualität auf ihren Penis fixiert und besorgt, penisbezogene Körpernormen und Leistungsanforderungen (Größe, Erektionsfähigkeit, Durchhaltevermögen) nicht zu erfüllen. Die Folgen sind einerseits peniszentrierte Versagensängste, andererseits eine Beschränkung des körperlichen Erlebens in der gelebten Sexualität, zum Beispiel in Form einer Tabuierung erotischer Sensationen an den Hoden. Winter attestiert seinen Probanden „erhebliche Mängel in der Körperbildung“ (S. 76). – Seine Beobachtungen lassen sich durch psychoanalytische Arbeiten zum männlichen Körperbild ergänzen. Diese heben auch die Verleugnung innergenitaler (ins Körperinnere reichender) Empfindungen in der Sexualität vieler Männer hervor und weisen darauf hin, dass der „Zitadellenkomplex“ (die psychisch-physische Angst des Penetriertwerdens) häufig mit abgewehrten weiblichen Identifikationen in Zusammenhang steht.[7]
Den interessanten Befunden zum Trotz sind einige methodische Mängel der Arbeit nicht zu übersehen. Wesentliche Angaben zur Datenerhebung fehlen (etwa zum Interviewleitfaden oder zu Rekrutierungswegen), über die Auswertungsmethode schweigt sich der Autor gänzlich aus. Abgesehen von lesenswerten Einzelfallvorstellungen (Kap. 2) und gelegentlichen ergiebigen Feinanalysen zum Sprachgebrauch der Probanden,[8] besteht die Auswertung zumeist in der extensiven Wiedergabe von Zitaten – wodurch die Lektüre mitunter nicht gerade kurzweilig ist.
Insbesondere mangelt es an einer Reflexion auf die Interviewsituation. Das Buch informiert nicht einmal darüber, wer die Interviews geführt hat. Dabei macht es aller Wahrscheinlichkeit nach einen signifikanten Unterschied, ob die jungen Männer mit ihresgleichen, mit jungen Frauen (die Winter übrigens nicht „Mädels“ nennt) oder mit einem älteren Experten sprechen. Winter selbst teilt die Beobachtung mit, dass junge (heterosexuelle) Männer zwei Arten der Gesprächskultur bei sexuellen Themen etabliert haben: die eher romantisierten Gespräche mit Partnerinnen und die Kumpelgespräche, die häufig der Männlichkeitsvalidierung dienen (S. 107 ff.). Diesen Befund wendet er aber nicht auf die Interviewsituation an. Die Äußerungen seiner Probanden wertet er nicht als Botschaften an einen Adressaten, sondern als in den leeren Raum mitgeteilte Information. Dabei haben Interviewsituationen immer auch das Potenzial, typische Interaktionen in ihrer manifesten, aber auch latenten Struktur zu reinszenieren – wie etwa tiefenhermeneutische Forschungsansätze systematisch reflektieren.
Die milden Kerle?
Abschließend sei noch einmal auf den von Winter identifizierten neuen Männlichkeitstypus eingegangen. „Kontroll-Männlichkeit“ (S. 58) verwehre sich traditionellem Dominanzgebaren, betone egalitäre Geschlechtervorstellungen und beruhe insbesondere „auf der (falschen) Annahme, dass im Männlichen etwas Bedrohliches, Unmoralisches, eine unbeherrschte Aggressivität angelegt sei“ (S. 59). Die neuen „woken Männer“ (S. 62) würden sich die kulturelle Verdammung ihrer Sexualität aneignen, sie entsprechend als Gefahr betrachten und sich übermäßig bemühen, es ihren Partnerinnen rechtzumachen. Die ständige Selbstkontrolle gehe mit sexueller Gehemmtheit sowie mit Abkapselung vom eigenen Begehren einher, das sich – so die Pointe – möglicherweise im Pornokonsum einen Ausdruck verschaffe (S. 62).
Nun ist es durchaus aufschlussreich, Pornografiekonsum unter den Gesichtspunkten von Kontrolle/Kontrollverlust beziehungsweise Gehemmtheit/Enthemmung zu betrachten. Nicht nur finden sich diese Themen typischerweise in pornografischen Skripten inszeniert: Heteromainstreampornografie als geschlechtliches Mikrodrama, in dem ein Mann aufgrund einer verführerisch-potenten Frau die Kontrolle über sich/seinen Penis verliert und sie im sexuellen Akt (und der triumphalen Ejakulation auf die Frau) wiedergewinnt.[9] Auch kann Winter zeigen, wie sich diese Themen im Verhältnis junger Männer zu Pornografie reproduzieren, insofern sie den Kontrollverlust im Pornokonsum situativ genießen, ihn aber in Form der weitverbreiteten Angst vor Pornosucht auch fürchten (S. 147 ff.). Dennoch halte ich die These, junge Männer wären im realen Leben zurückhaltend und würden ihre Männlichkeit nur im Konsum von Pornos ausleben, für unzureichend. Auch Winters eigene Befunde widersprechen ihr mitunter:
Die Annahme etwa, junge Männer seien in ihrer Männlichkeit verunsichert, lässt sich anhand von Winters Daten nicht wirklich erhärten. Zwar reagierten insgesamt zwei Drittel der Probanden der Interviewstudie auf die Frage, wann sie sich männlich fühlen, ausweichend (zum Beispiel mit Wechsel auf die Metaebene oder mit Abgrenzung von traditionellen Männlichkeitskonzepten) – was durchaus als Hinweis darauf gelten kann, dass ihre geschlechtsbezogene Selbstverständlichkeit ins Wanken geraten ist (S. 67). Allerdings zeigt die quantitative Erhebung mit vorgefertigten Antworten ein anderes Bild: Handwerkliche Tätigkeiten, Sport, Beschützen von Frauen/Mädchen (je circa 70 Prozent) und vor allem Sex mit Partnerin/Partner (circa 80 Prozent) erzeugen bei jungen Männern ein Männlichkeitsgefühl (S. 68).[10] Unter der Oberfläche eines verunsicherten Männlichkeitsempfindens – zumal im Interviewkontext, der immer etwas Problematisierendes, Krisenevozierendes hat – sind konventionelle Männlichkeitsvorstellungen also nach wie vor weitverbreitet.
Auch hinsichtlich der Einschätzung, bei den woken jungen Männern hätten sich egalitäre Werte durchgesetzt, lassen sich unter Berufung auf Winters eigene Erhebung Zweifel anmelden. Die Probanden betonten zwar bezüglich ihrer Beziehungssexualität solche egalitären Werte: Keineswegs würden sie dominanter, sexuell initiativer, aktiver, aggressiver oder egoistischer sein. Beim näheren Hinsehen aber, so Winter beiläufig, erwiesen sich ihre realen sexuellen Erfahrungen doch als stärker von einer entsprechenden Rollenaufteilungen geprägt (S. 106). Der Forschungsstand zu diesem Thema, den Winter offensichtlich nicht rezipierte, bestätigt und vertieft diese Einsicht: Die Sexualität junger heterosexueller Erwachsener ist nach wie vor deutlich männerzentriert, wie sich etwa am orgasm gap oder an der Cunnilingus-Fellatio-Ratio zeigen lässt.[11] Auch hier drängt sich also eine Gegenüberstellung von Einstellung/Ideologie und Sexualpraxis auf.
Vor allem jedoch widersprechen Winters Befunde seiner Annahme, „Jungs“ würden ihr eigenes sexuell-aggressives Potenzial überproblematisieren. Er teilt nämlich an anderer Stelle im Buch mit: Obwohl über ein Viertel der Befragten in der quantitativen Studie angab, beim Sex schon einmal „zu dominant“ gewesen zu sein, sei das Thema der sexuellen Grenzverletzung nicht ansatzweise in den Interviews zur Sprache gekommen, auch nicht bei der Frage nach „groben Fehlern“ beim Sex (S. 114). In unaufgelöstem Widerspruch zu seiner Diagnose der Kontrollmännlichkeit schlussfolgert Winter hier, die Themen sexuelle Gewalt und Grenzverletzungen seien „offenbar ein blinder Fleck bei den Jungs“ (S. 222).[12]
Winters empirische Ergebnisse ergeben meines Erachtens ein anderes Bild als das einer sich angeblich kulturell durchsetzenden woken Kontrollmännlichkeit: Neben dem Wandel hin zu größerer Reflektiertheit und Problematisierungsbereitschaft in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit sowie der betonten Geschlechteregalität in Sexual- und Beziehungsformen erweisen sich konventionelle Männlichkeitsbilder als bemerkenswert beständig in der gelebten (Sexual-)Praxis. Ähnlich wie beispielsweise in der Haushaltsführung[13] scheinen Geschlechternormen – zumindest in den in dieser Untersuchung überrepräsentierten individualistischen Milieus – auch im Sexualleben vor allem als latente und teilweise verleugnete wirksam.
Fußnoten
- Winter zitiert hier aus Elisabeth Badinter, Ich bin Du. Die neue Beziehung zwischen Mann und Frau oder die androgyne Revolution, übers. von Friedrich Griese, Zürich 1991, S. 81. Neben der Referenz aufs Archaische glaubt Winter, die Notwendigkeit der binären Geschlechterdifferenzierung auch aus ihrer derzeitigen symbolischen Repräsentation ableiten zu können: „Keine Männlichkeit ist auch keine Lösung, allein schon deshalb, weil Geschlechter als Struktur gesellschaftlich eingeschrieben und verankert sind (z. B. in Gebäuden: Toiletten, Umkleidekabinen).“ (S. 63)
- Sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Katharina Siedler, Lilia M. Steinmetz, Lisa Holzmann, Moritz Malmede, Pia Ewert und Sophia Hamdorf – haben auch kurze Texte zum Buch beigetragen.
- Allerdings wird an einigen Stellen des Buches auch deutlich, dass sich viele der „Jungs“ von Pubertätskonflikten und deren typischen Bewältigungsformen, zum Beispiel machistischer Angeberei in gleichgeschlechtlichen Peergroups (S. 109), rückblickend abgrenzen.
- Zwei Probanden waren vorwiegend oder ausschließlich homosexuell, acht hatten ein gewisses Maß an bisexuellen Erfahrungen (S. 15). Den Fragen, wie homosexuelle Erlebnisse oder Fantasien ins männliche Selbstbild integriert werden und ob die Abgrenzung von Homosexualität nach wie vor der Stabilisierung von Männlichkeit dient, geht Winter in seiner Studie nicht nach.
- Sigmund Freud, Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 78–91, hier S. 82. In der psychoanalytischen Fachliteratur, auf die Winter sich nicht bezieht, wurde diese Konstellation häufig mit Pornografiekonsum in Verbindung gebracht. Vgl. z.B. Wolfgang Berner / Judith Koch, Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens heute, in: Zeitschrift für Sexualforschung 22 (2009), 4, S. 340–352.
- Vgl. kritisch zu diesem Diskurs Insa Härtel, Fehlende Küsse – fehlende Grenzen: „Voll Porno!“ (stern 2007), in: dies., Kinder der Erregung. „Übergriffe“ und „Objekte“ in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität, unter Mitarb. von Sonja Witte, Bielefeld 2014, S. 51–87.
- Vgl. Gerald I. Fogel, Interiority and Inner Genital Space in Men. What Else Can Be Lost in Castration, in: The Psychoanalytic Quarterly 67 (1998), S. 662–697; Dianne Elise, Unlawful Entry. Male Fears of Psychic Penetration, in: Psychoanalytic Dialogues 11 (2001), 4, S. 499–531.
- Exemplarisch sei hier die Auffälligkeit genannt, dass die Probanden beim Sprechen über ihren Pornokonsum wenig über positive Lust und mehr über die Vermeidung von Gefahren sprechen würden; die Beschwörungsformel „nicht schlimm“ sei dafür paradigmatisch (S. 242).
- Vgl. Sven Lewandowski, Die Pornographie der Gesellschaft. Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens, Bielefeld 2012, S. 55 ff.
- Weil Masturbation deutlich weniger als männlich kodiert zu sein scheint (circa 50 Prozent), wäre zu überlegen, ob Pornografie möglicherweise dazu dient, die schwerer ins männliche Selbstbild zu integrierende Selbstbefriedigung qua Identifikation mit hyperphallischen Pornodarstellern zu maskulinisieren.
- Diesen Punkt hat Nicola Döring in einer Rezension hervorgehoben und mit Quellen belegt. Döring weist auch auf die weite Verbreitung von Rough-Sex-Praktiken unter jungen Erwachsenen hin, die Winters Bild von sexuell gehemmten jungen Männern widerspricht. Dies., Buchbesprechung zu: Reinhard Winter. Porno Sex und Männlichkeit. Wie junge Männer ihre Sexualitäten [sic] schaffen, in: Zeitschrift für Sexualforschung 36 (2023), 1, S. 50–52, hier S. 51.
- In gewisser Hinsicht gilt das auch für Winter selbst, insofern er Hinweise auf mögliche Grenzverletzungen und Gewaltverhältnisse in den Äußerungen seiner Probanden übergeht. Unkommentiert bleibt beispielsweise die Rede eines jungen Mannes, der meint, es sei „jedem Typen mindestens einmal passiert, dass man halt so gesehen – ähm – aus Versehen die Frau anal penetriert“ (S. 33; vgl. Döring, Buchbesprechung, S. 51). Eigentümlich ist auch, dass Winter folgendes Zitat des interviewten Pornodarstellers als Aussage zu „fehlender Differenzierung“ in Bezug auf die Pornowelt rahmt und wiederum unkommentiert wiedergibt: „Pornogegner sagen ja, Frauen werden unterdrückt und Frauen werden geschlagen und so weiter, ich (meine) – ja, aber nicht gegen ihren Willen. Zumindest sollte es nicht so sein. Also wenn ich zum Beispiel am Set merke, dass ein Mädel so einen Job nur angenommen hat, weil sie das Geld braucht, dann, dann sage ich der auch, weißt du was, ich muss dich ja nicht wirklich schlagen, also ich schlag schon, aber nicht so, dass es weh tut, und du schreist halt laut, und fertig ist die Kiste.“ (S. 126) Dass sich entgegen dem Willen des Interviewten in diesem Zitat ein zugleich strukturelles und ganz konkretes Gewaltverhältnis ausdrückt – Frauen lassen sich aus Geldnot am Pornoset schlagen –, wird von Winter ebenso wenig beim Namen genannt wie der Umstand, dass die wohlmeinende Geste des Darstellers dieses Gewaltverhältnis zwar punktuell aufhebt, es aber zugleich reproduziert, insofern die körperliche Unversehrtheit der Darstellerin wiederum vom Wohlwollen eines Mannes abhängig bleibt.
- Cornelia Koppetsch / Günter Burkart, Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich, Konstanz 1999.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Familie / Jugend / Alter Gender Körper Psychologie / Psychoanalyse
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