Jan Rickermann, Matthias Spekker | Literaturessay | 19.01.2023
Wolfgang Pohrt und die Kritik nach dem Schwinden ihrer objektiven Möglichkeit
Literaturessay zu „Der Intellektuelle als Unruhestifter. Wolfgang Pohrt – Eine Biographie“ von Klaus Bittermann
Gerade einmal dreieinhalb Jahre nach Wolfgang Pohrts Tod hat sein Verleger und Freund Klaus Bittermann mit Der Intellektuelle als Unruhestifter eine voluminöse Biographie über den Ideologiekritiker vorgelegt, der es vor allem durch seine sezierenden Polemiken gegen die deutsche Linke zeitweise zu einiger Prominenz gebracht hatte. Eine ihm offenstehende akademische Karriere als Hemmnis kritischen Denkens ausschlagend, setzte sich der in der Tradition von Marx und der Kritischen Theorie stehende Pohrt insbesondere in den Achtzigerjahren in linken Publikationen (konkret, taz), vereinzelt auch in linksliberalen ‚Leitmedien‘ (ZEIT, Spiegel), pointiert mit dem ideologischen Bewusstsein der bürgerlichen Mitte und der aus der 68er-Protestbewegung hervorgegangenen Linken auseinander. Insbesondere seine Entlarvung des linken Antisemitismus, der in Gestalt von Antiimperialismus und Antizionismus auftrat und -tritt, sowie der regressiv-völkischen Elemente in der Alternativ- und der Friedensbewegung war ein Novum und sollte die kommenden Spaltungslinien innerhalb der radikalen Linken prägen, die sich im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung auftaten.
Schon kurz vor dem Tod des an zerebraler Mikroangiopathie erkrankten Pohrt Ende 2018 hatte Bittermann mit dem Projekt begonnen, für das er auf eine beachtliche Fülle an Material zurückgreifen konnte. So stand er nicht nur seit Mitte der 80er-Jahre in regem Brief- und später Mailverkehr mit Pohrt, sondern verfügt auch über dessen Nachlass. Eine weitere Materialgrundlage der Biographie bilden Gespräche mit Pohrts Nichte und einigen früheren Weggefährten – nicht immer Freunden – sowie Korrespondenzen, die von verschiedenen Gesprächspartnern Pohrts zur Verfügung gestellt wurden. Bei der Auseinandersetzung mit dessen Oeuvre stützt sich Bittermann zudem maßgeblich auf die elf Bände der Wolfgang-Pohrt-Werke (WPW), die er ebenfalls seit 2018 in seinem Verlag Edition TIAMAT herausgibt.[1] Angesichts der Ausführlichkeit, mit der Bittermann viele Abschnitte von Pohrts Leben nachzeichnet und offenbar alle noch so nebensächlichen Details, derer er habhaft werden konnte, dokumentiert (etwa die bürokratischen Unklarheiten über den Ehestatus der noch vor Pohrts Geburt verwitweten Mutter, den Namen des Prüfungsamtsvorsitzenden, der Pohrt sein Diplom ausgestellt hat, oder Pohrts Urlaubsreiseziele), könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, dass hier ein neues akademisches Feld der ‚Pohrt-Forschung‘ begründet werden soll. Indes ist diese Detailliertheit sicherlich eher dadurch zu erklären, dass Bittermann natürlich weiß, dass es eine solche Forschung und entsprechend weitere Biographien wohl niemals geben und entsprechend alles, was er nicht festhält, dem Vergessen anheimfallen wird. Und auch der Pohrts Polemik in nichts nachstehende politisch kommentierende Stil Bittermans hält sich aus gutem Grund nicht an akademische Gepflogenheiten. Nichtsdestotrotz stellt sich grundsätzlich die Frage: Wozu eigentlich eine Biographie über Pohrt schreiben, dessen Denken eigentlich schon in seinen pointierten Kritiken selbst hinreichend nachvollzogen werden kann? Im Folgenden wollen wir versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu geben.
Anschreiben gegen die Verhältnisse
Selbst politischer Publizist, Satiriker und Romanautor, versteht es Bittermann, Pohrts intellektuelle respektive publizistische Entwicklung auf mitreißende Weise und unterlegt mit vielen biographischen Details zu erzählen. Diese Entwicklung zeichnet er dabei als ein Scheitern, ein zunehmendes Anwachsen der Ohnmacht nach beziehungsweise führt sie mit dem Resignationsprozess eines Einzelgängers eng, der – nicht immer nur verzweifelt, sondern auch gewitzt und leidenschaftlich – mit den bescheidenen Mitteln der Gedankenstrenge, des Spotts und einer schonungslos entlarvenden Sprachkritik anschreibt gegen den Gang der sich immer stärker gegen die Möglichkeit ihrer Aufhebung abschließenden Verhältnisse und gegen eine Linke, die in seinen Augen alle früheren Ideale und Einsichten über Bord geworfen und sich der einst kritisierten Gesellschaft mittlerweile mimetisch angepasst hat, ja sie sogar in vielen Fällen noch auf regressive Weise übertrumpft.
Gegliedert hat Bittermann die Biographie hierfür in zweifacher Weise: Zum einen ist das Buch – mit Ausnahme des ersten Oberkapitels, das den Zeitraum von Pohrts Geburt (5. Mai 1945) bis Ende der 60er-Jahre abdeckt, und des Abschlusskapitels, das „Die letzten zwanzig Jahre“ in Pohrts Leben behandelt – nach Jahrzehnten strukturiert, zum anderen sind diese Abschnitte kapitelweise nach Oberthemen geordnet, die Pohrts Aktivitäten im jeweiligen Jahrzehnt bestimmt haben. In Unterkapiteln widmet sich Bittermann dann noch einmal konkreter etwa einem bestimmten Text, einer politischen Debatte oder einer beruflichen Station Pohrts. Dessen intellektuelle Entwicklung lässt sich – wie Bittermann bei einer Diskussionsveranstaltung mit Dietmar Dath und Jan Philipp Reemtsma, die im Oktober 2021 im Hamburger Institut für Sozialforschung stattfand, zusammengefasst hat – grob in vier Phasen einteilen: erstens das Studium der Kritischen Theorie und die Beschäftigung mit zentralen, für seine weitere theoretische Entwicklung maßgeblichen Gedanken Hans-Jürgen Krahls (60er-Jahre), zweitens die wissenschaftliche Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und die Arbeit an seiner Dissertation über den Gebrauchswert (70er-Jahre), drittens die umtriebige journalistische, vor allem ideologiekritisch eingreifende Arbeit (80er-Jahre) sowie viertens die soziologische Erforschung des autoritären Massenbewusstseins der wiedervereinigten Deutschen mit Mitteln der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der sich ungefähr zeitgleich vollziehende schrittweise Abschied von der zunehmend als sinnlos empfundenen Ideologiekritik – insbesondere auch gegen die Linke (90er-Jahre). Auf die Veröffentlichung seiner Studie Brothers in Crime (1997), in der er den Zerfall der Gesellschaft in Banden konstatiert, folgte Pohrts publizistischer Rückzug, der nur noch punktuell durch eine Handvoll Vorträge und die maßgeblich von Bittermann angestoßene Publikation der drei kleinen Bändchen FAQ (2004), Kapitalismus Forever (2012) und Das allerletzte Gefecht (2013) unterbrochen werden sollte, in denen er recht fatalistisch Bilanz zieht.
In seiner um Vollständigkeit bemühten Biographie geht Bittermann auf alle zentralen Artikel, Aufsatzsammlungen und praktischen Interventionen Pohrts ein, von denen die durchschlagendsten dessen bis heute berüchtigten Ruf begründet haben. Hier seien nur einige exemplarisch angeführt: Seit Ende der 70er-Jahre etwa beschäftigte Pohrt sich intensiv mit Antisemitismus und der Geschichte des jüdischen Staates Israel. 1982 publizierte er erstmals seine Kritik am Antizionismus, mit dem die deutschen Linken und Linksliberalen ausgerechnet sich selbst und damit dem Land der Täterinnen und Täter die aus dem Massenmord erwachsene „Verantwortung“ übertrugen, „Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde“ (zit. n. S. 156). Bereits ein Jahr zuvor hatte er für Furore gesorgt, als er mit seinem in der ZEIT erschienenen Artikel „Ein Volk, ein Reich, ein Frieden“ die damals gegen NATO-Doppelbeschluss und Pershing-II-Stationierung formierte Friedens- als antiamerikanische „deutschnationale Erweckungsbewegung“ (zit. n. S. 213) denunzierte. 1984 stieß er auch die linken Akademiker:innen vor den Kopf, die ihn zum – gegen die Habermasianisierung der Kritischen Theorie gerichteten – „Adorno-Symposion“ nach Hamburg eingeladen hatten. Ihnen warf er vor, im Grunde ein natürliches Interesse an der Konservierung der bestehenden Verhältnisse sowie an der uneingestandenen Machtlosigkeit radikaler Theorie haben zu müssen, sichere dies ihnen doch erst ihre gut dotierten Stellen an Hochschule und Universität (vgl. S. 286–289). Ausführlich geht Bittermann auch auf Pohrts Versuch ein, eine Amnestie-Kampagne für die im Gefängnis sitzenden RAF-Mitglieder zu initiieren (vgl. S. 290–316): Pohrts Argumentation richtete sich dabei interessanterweise zwar auch gegen die Sympathisantenszene, die hauptsächlich Durchhaltevermögen im voranschreitenden ‚revolutionären Kampf‘ predigte, mehr aber noch gegen den insbesondere von den Grünen gepflegten neuen Gewaltfreiheitsdiskurs. In diesem komme nicht nur ein völliges Unverständnis des Zusammenhangs von staatlicher Verfassung und Gewalt, sondern letztlich eine auf der „Fiktion gewaltloser Einheit von Volk und Führung“ fußende „völkische Weltanschauung“ zum Vorschein, die den politischen Gewalttäter als „Inkarnation des Bösen oder des Wahnsinns“ verfolgen muss.[2] „[M]oralisch vollkommen erledigt“ (S. 438) hatte sich für Pohrt die deutsche Linke dann 1991, als sie – wie auch die überwiegende Mehrheit der Deutschen – lautstark für Frieden und gegen den US-Militäreinsatz gegen den Irak eintrat und damit ausgerechnet für Sadam Hussein Partei ergriff, als der Israel mit Raketen angriff und verkündete, dass er „Israel mit Chemiewaffen auslöschen wolle“, was Pohrt schließlich in Konkret mit der Hoffnung kommentierte, dass Israel das zur Not „mit Kernwaffen zu verhindern wissen wird“ (zit. n. ebd.). Der Aufschrei war groß, und spätestens seit dieser Äußerung eilt Pohrt der Ruf des ‚Bellizisten‘ voraus. Umso interessanter ist, dass Bittermann nun zeigt, dass Pohrt seine Aussage schon kurz darauf als auf „Talkshow-Niveau“ regrediertes „Gesinnungsbekenntnis“ (zit. n. ebd.) bereute, wie er in einem bislang unveröffentlichten Brief an ersteren ausgeführt hat. Ohnehin ist es eine besondere Stärke von Bittermanns Buch, dass es Pohrts Texte immer wieder in die – oft anhand von schriftlichen Zeugnissen seiner Zeitgenoss:innen rekonstruierten – politischen Diskurse einordnet, vor deren Hintergrund sie entstanden, und Pohrts Argumente gerade auch durch dessen persönliche, meistens briefliche Äußerungen und manchmal auch zu Lebzeiten noch unveröffentlichte Texte erhellt.
Vom Standpunkt des Außenseiters
Nun ist auffällig an Der Intellektuelle als Unruhestifter, dass Bittermann Pohrt nicht nur als Einzelgänger und Außenseiter porträtiert, der Pohrt unbestritten war, sondern grundlegend dessen biographische Erfahrungen, das „Lebensgefühl der Nicht-Zugehörigkeit“ (S. 83) – als Flüchtlingskind ohne Vater im Ländle aufgewachsen, während der Studienzeit in Frankfurt beim SDS eher in der zweiten Reihe mitlaufend, anders als die meisten Genoss:innen aus ärmlich kleinbürgerlichen Verhältnissen kommend –, als Möglichkeitsbedingung und zentrales Movens für die unversöhnliche Kritik ausmacht, mit der der Outlaw Pohrt sich dem Bestehenden und dessen Ideolog:innen entgegenstellte. Dieser Fokus auf Pohrts persönliche Entwicklung überrascht nicht, spiegelt sich in ihm doch – wie auch schon Felix Brander in seiner Rezension in sans phrase hervorgehoben hat[3] – in gewisser Weise Bittermanns eigene Biographie und sein Faible für die Außenseiter, Rebellen und Unruhestifter wider.[4] Er zeichnet Pohrt als jemanden, der durch den Abscheu gegen die eigene kleinbürgerliche Klassenherkunft motiviert war. Und in der Tat hat auch Pohrt selbst in einem seiner ersten Texte Reflexionen darüber angestellt, ob nicht gerade der deklassierte Kleinbürger „nur durch die radikale Liquidierung seines Zusammenhangs mit der bürgerlichen Gesellschaft“ zum Revolutionär werden könne und für ihn insofern „die Revolution eine Existenzfrage [sei], die er mit unerbittlicherer Radikalität beim geringsten Hoffnungsschimmer verfolgen wird als der Proletarier, der in der bürgerlichen Gesellschaft als Arbeiter immerhin auf seine Weise heimisch ist“.[5]
Dass der Kleinbürger – der vom orthodoxen Marxismus für gewöhnlich eher unter Faschismusverdacht gestellt wird – überhaupt zum Revolutionär aufsteigen, gar eine exponierte Stellung erreichen konnte, liegt, so Pohrt, an einer veränderten gesellschaftlichen Konstellation, die unrevolutionärer nicht sein könnte. Dass der Kleinbürger folglich „kaum viel schlechter abschneiden“ (S. 87) konnte als die integrierten Arbeiter:innen und die ihrer Ideale verlustig gegangene bürgerliche Klasse sowie die doch eher unzuverlässigen und auf ihren eigenen Vorteil bedachten Drop-Outs, zeigt wesentlich eines an: dass sich der Kritiker Pohrt mit der Absenz jeglichen objektiven Potenzials für eine revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse konfrontiert sah. Bittermanns Deutung, die keineswegs voreilig verworfen werden sollte, führt Pohrts Einsichten jedoch zu sehr auf jene Urszene des einsamen kleinbürgerlichen Kritikers zurück, womit aus dem Blick gerät, dass Pohrt viel allgemeiner die spätkapitalistische Gesellschaft als eine solche auf den Begriff zu bringen versucht hat, die um die Möglichkeit, ja um die Denkbarkeit ihrer Aufhebung beraubt ist.
Vernunftlose Geschichte
Entsprechend muss aber zum Beispiel der Text Manson-Family und Revolution (1974), den Bittermann als Fortsetzung von Pohrts „Gedanken über den Kleinbürger als Revolutionär“ vorstellt, in der sich Pohrt nun aber stärker der Frage zuwende, „was es für den Einzelnen bedeutet, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, wenn man versucht, der Unerträglichkeit der Verhältnisse noch etwas Richtiges entgegenzusetzen“ (S. 101), als Auseinandersetzung mit den gegenwärtig kaum noch radikal zu kritisierenden oder gar zu revolutionierenden Verhältnissen selbst begriffen werden. Auch wenn die Beschäftigung Pohrts mit der Mörderbande um Charles Manson, die das Ende der Hippie-Bewegung eingeläutet hatte, einen – wie es im Untertitel heißt – Beitrag zur Diskussion um die ‚Emanzipation in der Gruppe‘ darstellt, so liegt seine Pointe darin, der Family in polemischer Überspitzung einen traurigen Avantgardecharakter zu attestieren: Ausgerechnet ihr Kampf gegen das ‚Establishment‘ bringe die gegenwärtige Unmöglichkeit revolutionärer Kritik drastisch zum Ausdruck.
„Die Indifferenz dieses Kampfes gegen das besondere Objekt – dies ist der Gehalt des Begriffs ‚Establishment‘ – machte nur Ernst mit der richtigen Erkenntnis, daß der Klassenfeind personell nahezu unidentifizierbar geworden ist, seit selbst das Proletariat zum Komplizen und Teilhaber, zum Juniorpartner seiner Unterdrücker wurde, welche die Dritte Welt ausplündern.“[6]
Damit ist jedoch die klassische historisch-materialistische Vorstellung vom Proletariat als jenem Subjekt, das den historischen Auftrag hat, die in der Geschichte materiell angelegte Vernunft zu verwirklichen, am Ende. „Die Family war also auf der Höhe ihrer Zeit, die wackere Kommunisten immer noch für die gute alte halten. Der Avantgarde-Charakter dieser Gruppe zwingt jeden Revolutionär, sie ernst zu nehmen.“[7] Dass sich die Rebellion der Family wohl kaum zum Vorbild nehmen lässt, steht dabei außer Frage, „schlägt doch die abstrakte Negation der schlechten Gesellschaft um in fast noch schlechtere Natur.“[8] Vielmehr zeigt Pohrt auf, dass die Gesellschaft mittlerweile an einem Punkt angelangt ist, an dem überhaupt keine bestimmte Negation der Verhältnisse mehr denkbar ist: „So sind die Revolutionäre in einer Gesellschaft, in der weder Vernunft noch Richtiges objektiv mehr existieren, ganz auf sich selbst zurückgeworfen.“[9] Meinte also Hans-Jürgen Krahl noch, dass der Protest der 68er sich als „Trauern um den Tod des bürgerlichen Individuums“[10] begreifen ließe, ist für Pohrt neben diesem auch die Vernunft als objektive aus der Geschichte verschwunden.
Für Pohrt folgte daraus zweierlei: Das revoltierende Individuum (und somit auch das Subjekt der Kritik) muss sich angesichts der objektiven Unfähigkeit, das Bestehende historisch noch transzendieren zu können, selbst „als Absolutes“ setzen. Und dieses Zurückgeworfensein auf die eigene bloße Existenz, dieser Selbstbezug, wird in der Gruppe aufgefangen, bestärkt und „zum verhängnisvollen Wahnsystem“ ausgebaut.[11] Es ist nicht erst die Gruppe, die den Gedanken wahnhaft macht, sondern sie verfestigt den Wahn, indem der ohnehin kaum noch auf objektive Vernunft beziehbare oder sich beziehende Gedanke durch die Wärme der Gruppe vor jeder Erschütterung, jedem Hereinbrechen des Realitätsprinzips geschützt bleibt: „Weil der Gedanke gegenwärtig keine objektive Existenz hat, weder in den Verhältnissen noch in der Theorie, bleibt er so hoffnungslos privat wie zufällig und daher schutzlos gegen den Wahn.“[12] Entsprechend prekär ist auch der Status von Gesellschaftskritik, die ob ihres fehlenden Substrats eines objektiven und realen Befreiungspotenzials immer wieder ihren Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren droht. Pohrt nimmt sich selbst davon nicht aus: „Zwei faule Wochen oder eine Erkältung genügen, die Niederschrift eines Aufsatzes von der Unfähigkeit zu trennen, diesen auch nur noch zu verstehen.“[13] Dies liegt aber – eine oft verdrängte Einsicht der Kritischen Theorie – daran, dass im Spätkapitalismus Ideologie kaum noch etwas enthält, was die sie produzierende Wirklichkeit übersteigen könnte: „Demgemäß ist“, wie Adorno konstatierte, „auch Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.“[14] Auch Pohrt verhandelt in seinem frühen Manson-Text – ebenso wie in seinen Überlegungen zur Selbstmordsekte um Jim Jones[15] – nicht nur, wie Bittermann rekapituliert, die Frage, welche Folgen der „totale soziale Rückzug mit Gleichgesinnten auf die Ideale haben kann, die sich dann vom Wahn nicht mehr unterscheiden lassen, wie zum Beispiel bei der RAF oder der Manson-Family“ (S. 85). Er widmet sich viel grundsätzlicher auch dem Problem, dass sich die Menschen aus Gründen, die der Entwicklung der kapitalistischen Totalität immanent sind, kaum mehr zum Subjekt gegen geistlos gewordene Umstände aufschwingen können, sondern vielmehr deren bloßes Anhängsel geworden sind.
Während also Pohrts Kritik auch Ausdruck der Trauer um die nicht verwirklichte Vernunft in der Geschichte ist und gerade die historische Entwicklung reflektiert, wirkt Bittermanns Figur des kleinbürgerlichen Revolutionärs, der auf die verratenen Ideale verweist, teilweise etwas ahistorisch: „Wäre er zur Zeit der Französischen Revolution geboren worden, wäre aus ihm ein Robespierre geworden, der darüber gewacht hätte, dass der ursprüngliche Impuls der Revolution und ihre legitimen Gründe nicht einfach über Bord geworfen worden wären, und zwar nicht aus Tugendhaftigkeit, sondern aus Eigeninteresse“ (S. 87). Wenngleich dieses Bild fraglich ist, stimmt es aber durchaus, dass es Pohrt auch um diesen ursprünglichen Impuls der Revolution ging, dem er aufgrund der wenigen Momente der 68er-Revolte, in denen eine Erinnerung an ihn aufschien, dann wissenschaftlich weiter nachgehen sollte. Dieses Aufscheinen ermöglichte Pohrt, den Unterschied zwischen der Marx’schen Kritik und der von ihm selbst sezierten Gegenwart zu erkennen. Wenige Jahre später erschien ihm diese jedoch jedes Fluchtpunkts beraubt, jede Zweidimensionalität der Verhältnisse wie auch der kritisierten Subjekte war abhanden gekommen.
Die Theorie des Gebrauchswerts
Weil Bittermann Pohrts Überlegungen aber teilweise zu unmittelbar über dessen Biographie und konkrete politische Sozialisation erklärt, kommt nicht nur das tiefgreifendere Problem, in dem Pohrt zufolge radikale Gesellschaftskritik mittlerweile steckt, sondern gerade auch die wissenschaftliche Argumentation, die diesem Urteil zugrunde liegt, stellenweise etwas zu kurz. Das wird besonders an Bittermanns eher kursorischer Rezeption von Pohrts Gebrauchswert-Theorie deutlich, die dessen weiteres Kritikunternehmen und fortschreitende Verzweiflung vermutlich sehr viel fundamentaler bestimmt hat als die vielen polemischen Auseinandersetzungen und politischen Enttäuschungen, auf die sich Bittermann vornehmlich bezieht. So legt Bittermann in seiner Verhandlung von Pohrts Dissertation Theorie des Gebrauchswerts (1976) den Fokus auf die (im weiteren Sinne) ‚kulturtheoretischen‘ Beobachtungen aus der Einleitung sowie aus dem ersten Abschnitt des Artikels Nutzlose Welt. Ohnmacht im Spätkapitalismus,[16] während die Ausführungen aus dessen zweitem Abschnitt ebenso wie die Durchführung der Gebrauchswertstudie und der 1978 gehaltene Vortrag über Vernunft und Geschichte bei Marx keine Berücksichtigung finden – also genau die Texte und Kapitel, in denen sich Pohrt ausführlich mit der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie auseinandersetzt. Zwar gibt Bittermann Pohrts Beobachtung treffend wieder, wonach „die Ödnis und Leere des Alltagslebens“ (S. 98) sich gerade auch in der massenhaften Produktion von unnützem Schund und der Unfähigkeit der spätbürgerlichen Menschen ausdrücke, diesen sinnvoll zu gebrauchen, doch bleibt er etwas zu sehr Pohrts individueller Biographie verhaftet, wenn er ihm einen qua prekärer kleinbürgerlicher Existenz „schärferen Blick auf das“ attestiert, „was notwendig ist zum Leben, was einen Gebrauchswert hat und was in seinen Augen einfach nur überflüssig ist, weil es eine bestimmte kleinbürgerliche Lebensform zementiert, die er ablehnt“ (S. 109). Dadurch entsteht stellenweise der Eindruck, dass die Kleinbürgerlichkeit selbst die „Gebrauchswertzerstörung“ verursacht habe, in der Pohrt vermeintlich „all das Verachtenswerte erblickte, das einen Verrat an seiner Klasse“ – also dem Kleinbürgertum – „notwendig machte“ (S. 96). Pohrt geht in der Theorie des Gebrauchswerts hingegen wesentlich den fortgeschrittenen kapitalistischen Verhältnissen selbst auf den Grund, die in diesem Schund ihren Ausdruck finden und die er als Ursache für jene wahnhaften Gruppenphänomene und die zunehmende materialistische Haltlosigkeit radikaler Kritik ausmacht.
Die Vernunft, die dem Kapitalverhältnis laut Pohrt einmal innegewohnt hatte, lag genau darin, dass das Kapital selbst erst die Möglichkeit eröffnet hatte, „die Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzen“.[17] Dies ist der „Gebrauchswert par excellence“, der das ihn setzende Kapital gerade dadurch wesentlich von vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen unterscheidet, dass es sich „nicht an vorausbestimmende und vorausbestimmte Schranke der Bedürfnisse bindet“, wie Pohrt, Marx’ Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses zitierend, betont.[18] Denn das Kapital emanzipiert die „gegenstandskonstitutive Leistung des Subjekts“, die Arbeit, vom unmittelbaren „Naturzwang zur Reproduktion“, indem es die Produktion der Gebrauchswerte unter das Wertgesetz stellt und in der Geldform den Reichtum aus seinem beschränkten vorbürgerlichen Umfeld befreit und nunmehr als solchen produziert.[19] Damit schafft es erst die materielle Voraussetzung dafür, dass die Menschen, in einen allgemeinen, wenngleich bislang nur dinglich vermittelten, gesellschaftlichen Zusammenhang zueinander gesetzt, sich diese Welt und die ihnen entfremdeten, aber durch den Zwang zur Wertverwertung entfalteten Produktivkräfte aneignen könnten. Dass sich – wie Marx schreibt – unter dem Kapital die „Produktion im Gegensatz zu, und unbekümmert um, den Produzenten“ vollzieht und es diesen „als bloßes Produktionsmittel“, den „sachliche[n] Reichtum“ hingegen „als Selbstzweck“ setzt,[20] ist damit der Grund für die spezifisch kapitalistische Form des Elends der Menschen und zugleich doch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Befreiung. Der Skandal der kapitalistischen Produktionsweise ist laut Pohrt entsprechend nicht die ungleiche Verteilung des materiellen Reichtums, auf welche – auch heute noch – „die Misere des Kapitalverhältnisses sozialfürsorgerisch […] reduziert“ wird:
„Ausbeutung heißt vor allem, daß die Arbeiter um die Geschichte, die sie machen, betrogen werden, um die geschichtsbildende Kraft ihrer als Mehrarbeit gesetzten lebendigen Arbeit, die erstmals wirklich die gegenständliche Welt als Bedingung der subjektiven Tätigkeit des Menschen setzt, sie real zur Domäne seines Willens macht; ob die Arbeiter dabei satt zu essen haben, ist wichtig, aber es ändert nichts am Prinzip“.[21]
Doch genau diese „spezifische, qualitative historische Bestimmung“: die „produktive Emanzipation vom Naturzwang durch die geschichtsbildende Kraft der als Mehrarbeit gesetzten Arbeit“,[22] hat das Kapitalverhältnis laut Pohrt spätestens mit dem Ende seiner klassisch-liberalen Phase verloren. Damit sei auch der Rechtfertigungsgrund dafür, es allen von ihm über die Welt gebrachten Verheerungen zum Trotz historisch-materialistisch „als Vorstufe zum Verein freier Menschen“ und deshalb als vernünftig zu begreifen, abhanden gekommen.[23] Denn im Zuge seiner weiteren Entwicklung habe sich das Kapitalverhältnis schließlich zu reiner Selbstzweckhaftigkeit vollendet und „sich selbst als reelles Gemeinwesen konstituiert“.[24] Zur Totalität entfaltet, vermittelt es nicht mehr zwischen den ökonomischen Handlungen (relativ) selbständiger Subjekte und ihren individuellen Bedürfnissen. Das war noch die zentrale Funktion des Wertgesetzes, von dem sich jedoch laut Pohrt das Aktienkapital, die Trusts und Monopole und schließlich die faschistischen Wirtschaftslenker emanzipiert haben.[25] Zugleich aber erfordert das Kapital, so Pohrt im Anschluss an Marx’ These von der „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst“,[26] zunehmend den Eingriff des Staates. Weil es bei der Produktion allgemeinen Rechtums notwendig immer wieder auf Absatzprobleme stoße – wodurch es, eben weil es noch „die Bedürfnisse der lebendigen Menschen im Auge hat“, „wenigstens auf widersprüchliche Weise vernünftig, andererseits krisenanfällig“[27] sei –, muss es durch zunehmende Interventionen des Staates vor Pleiten bewahrt werden. Der Staat wird nun selbst zum Abnehmer der losgelöst von realem Bedarf produzierten Güter oder gibt gleich selbst „Rüstungsmaterial und anderen Plunder“[28] in Auftrag. Der – zuvor noch aufgrund seiner Allgemeinheit potentiell revolutionär verwirklichbare – Reichtum erhält nun eine konkrete Bestimmung und damit eine wesentliche Einschränkung: Zweck der Produktion ist einzig und allein noch die Erhaltung des gegen sein eigenes (Wert-)Gesetz zum reellen Gemeinwesen universalisierten Kapitals. So setzt dieses alle Momente, durch die hindurch es sich reproduziert, als seine eigenen Diremtionen, als nichts denn seine eigenen Gebrauchswerte. Das „die Natur unter seine eigenen subjektiven Zwecke setzende Subjekt“, dem das Kapitalverhältnis zunächst überhaupt erst die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Gesellschaftlichkeit geschaffen hatte, ist damit aber genauso hinfällig geworden wie diese materiellen Bedingungen selbst: „Wo es nur Gebrauchswerte gibt, gibt es aber keinen Gebrauchswert mehr“.[29]
Ideologiekritik am Ende
Pohrt hat also bereits in den 1970er-Jahren mit seinen an die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie anknüpfenden Studien das Fundament für sein resigniertes Urteil gelegt, dass radikale Gesellschaftskritik im Grunde gar nicht mehr möglich sei, da ihr die Wirklichkeit – anders als zu Zeiten von Marx, für den „so etwas wie ein Verein freier Produzenten“ noch „erahnbar“ war, „weil tatsächlich um ihre Emanzipation kämpfende Menschen in ihrem Kampf dessen Ziele teilweise schon antizipierten“[30] – nicht mehr objektiv entgegenkommt. Vor diesem Hintergrund muss Bittermanns Interpretation, wonach sich Pohrt an den ehemaligen Protagonist:innen der 68er-Protestbewegung abgearbeitet habe, weil sie ihre vormaligen Ideale und die damit korrespondierenden realen revolutionären Möglichkeiten verraten hätten, zumindest relativiert werden. Denn von der Warte der Theorie des Gebrauchswerts aus betrachtet, muss Pohrt auch die damalige Existenz dieser Möglichkeiten und Ideale selbst infrage stellen, was er de facto in späteren Einschätzungen der Protestbewegung ja auch getan hat. Im Grunde werfen seine gesellschaftstheoretischen Erkenntnisse schon von Anfang an ihren Schatten auf sein (vor allem in den 1980er-Jahren durchgeführtes) ideologiekritisches Unternehmen, weil die „Absenz“ jeden, also auch des falschen Bewusstseins, auf das Ideologiekritik zwingend angewiesen ist (zit. n. S. 15), eigentlich als Resultat jener schon viel früher (und nicht erst Mitte/Ende der 1980er-Jahre) stattgefundenen Zerstörung des Gebrauchswerts par excellence ausgemacht werden müsste, die „Sackgasse“ (ebd.) der Ideologiekritik demnach also von vornherein bestand. Vielleicht war es die verzweifelte Hoffnung, eines Besseren belehrt zu werden, die Pohrt wider besseres Wissen – oder zumindest wider seine gesellschaftstheoretische Einschätzung – ein für Ideologiekritik empfängliches Bewusstsein unterstellen ließ – eine Hoffnung, die sich für ihn spätestens mit Beginn der 1990er-Jahre und nicht nur aufgrund der Positionierungen der (meisten) Linken im Golf- und im Jugoslawienkrieg als nicht mehr haltbar erledigt hat. In der Konsequenz hat Pohrt die öffentliche Ideologiekritik weitgehend eingestellt, gegen deren Seziermesser sich seines Erachtens die Gesellschaft und ihre Subjekte vollständig abgedichtet hatten: „Man kann sie weder bloßstellen, noch kränken, weil hinter der Fassade oder der Maske nichts ist.“[31]
Auch die von Pohrts ‚Fans‘ mit viel Kopfschütteln aufgenommenen, vermeintlich affirmativen Gedankensplitter in Kapitalismus Forever (2012) – „Das Kapital ist so einfach und stabil wie das Krokodil“[32] – stehen eigentlich nicht im Widerspruch zu den Grundthesen seiner Gebrauchswerttheorie, in ihnen haben nur Resignation und Fatalismus auf eine Weise die Oberhand gewonnen, dass sie von der Aufforderung zur Kapitulation der Kritik stellenweise nicht mehr zu unterscheiden sind.
Das Schicksal der Gesellschaftskritik
In Pohrts Gesellschaftskritik tut sich indes aber auch ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem auf: Wie Manfred Dahlmann festgestellt hat, lässt der Begriff von der Gesellschaft als einer geschlossenen „falschen Totalität“, wie ihn Pohrt mit dem Kapital als reellem Gemeinwesen und der ähnlich argumentierende Stefan Breuer mit seinem Verständnis von der totalen Vergesellschaftung formulieren, weder ein „positives Moment“ innerhalb dieser Totalität mehr zu, „von dem aus sich eine positive Wahrheit (für ein ganz anderes Ganzes) formulieren ließe“, noch einen außerhalb liegenden Maßstab, der als Geltungsgrund ihrer Urteile fungieren könnte. Doch genau einen solchen Maßstab legen beide offenbar an: „Dieses Außen hat […] zwei Namen: Stefan Breuer […] und Wolfgang Pohrt“.[33]
Diese Aporie lässt sich womöglich aber gerade als das Wahre an Pohrts Kritik begreifen, wenn man sich etwa an die Behauptung von Habermas – der, anders als Dahlmann, seinen Gegenstand völlig verfehlt – erinnert, die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno sei Ausdruck des „performativen Widerspruch[s] einer sich selbst überbietenden Ideologiekritik“, die „ins Bodenlose gleiten“ müsse.[34] Wie aber gerade die ‚Performanz‘ dieser beiden Autoren, konkret: das Verfassen eines Buches, das vernunftbegründet die „Selbstzerstörung der Vernunft“ konstatiert, noch den (wie ihnen natürlich klar ist) aporetischen, aber real-praktischen Einspruch gegen die Vollendung dieser Selbstzerstörung darstellt – was Habermas nicht denken kann, für den die Aporie nicht den falschen Verhältnissen, sondern nur einer falschen und deshalb zu verwerfenden Theorie geschuldet sein kann –, so ließe sich auch Pohrts Gebrauchswert-Theorie noch in ihrer Bestimmung der spätkapitalistischen Vergesellschaftung als mit sich selbst identisch gewordener Totalität als durchgeführter Einspruch gegen die daraus eigentlich folgende endgültige Unmöglichkeit radikaler Kritik interpretieren. Nichtsdestotrotz hat Pohrt aber deutlich gemacht, dass sich die auf die Verwirklichung einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft zielende Kritik und Praxis nicht mehr systematisch als in den verkehrten Verhältnissen selbst angelegte Möglichkeit bestimmen lassen, wenn in diesen Verhältnissen „weder Vernunft noch Richtiges objektiv mehr existieren“.[35]
Unter solchen Umständen aber sind es dann tatsächlich oft nur mehr Zufälle, die doch noch radikale Kritik ermöglichen, und es ist die Form der Biographie, die diesem Zufallsmoment am ehesten gerecht wird, auch wenn sie es niemals eindeutig wird benennen können: Was genau den Funken der Kritik hat überspringen lassen, deren Maßstab nicht räumlich gedacht in einem ‚Außen‘ liegt, sondern die geschichtsphilosophisch verstanden und in zeitlicher Dimension nur noch als „revoltierender Anachronismus“[36] möglich ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit klären. Doch fängt Bittermann mit dem Buch über seinen Freund Pohrt – und das beantwortet auch die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Sinn einer solchen Biographie – eines auf so klare Weise ein, dass es regelrecht greifbar wird: In der Person Wolfgang Pohrt, das heißt in seinem intellektuellen Werdegang, in seiner schriftlich kanalisierten Wut und seiner zunehmenden Resignation, kristallisiert sich gewissermaßen das prekäre Schicksal radikaler Gesellschaftskritik: ihre zunehmende Haltlosigkeit und Verzweiflung angesichts einer mittlerweile weitgehend gegen sie abgeschlossenen, immer weiter prozessierenden verkehrten Wirklichkeit.
Fußnoten
- An dieser Stelle sei auch bereits die einzige Formkritik am vorliegenden Buch angeführt: Bittermann weist seine Pohrt-Quellen grundsätzlich nur mittels Angabe des jeweiligen WPW-Bandes, aber ohne den Titel des entsprechenden Pohrt-Textes nach (auch im Literaturverzeichnis gibt es keine genauere Aufschlüsselung), als ob die erst seit kurzem verfügbare Pohrt-Werkausgabe einen ähnlichen Bekanntheitsgrad hätte wie die MEW, bei der alle Leser:innen, die halbwegs mit Marxʼ Texten bekannt sind, wissen, welches Buch sich hinter Band 23 verbirgt oder welche kanonischen Texte in Band 4 zu finden sind. Die meisten Pohrt-Leser:innen dürften aber wohl die alten Original-Publikationen im Regal stehen haben und nicht die Werkausgabe, die Bittermann ausgerechnet ins Gewand der ‚blauen Bände‘ aus dem Dietz-Verlag gekleidet hat. Diese Gestaltung war sicherlich noch mit Pohrt so abgesprochen, was umso ironischer ist, als dieser doch die Herbeiführung von Verhältnissen, in denen man sich nicht mehr würde „mit den blauen Bänden abquälen“ müssen, sondern sie „ungelesen ablegen“ könne, als „kein schlechtes Motiv“ für die Abschaffung des Kapitals ansah (Wolfgang Pohrt, Der Staatsfeind auf dem Leerstuhl, in: Gewalt und Politik. Ausgewählte Reden & Schriften, Berlin 2010, S. 137–151, hier S. 139).
- Wolfgang Pohrt, Gewalt und Politik, in: Gewalt und Politik. Ausgewählte Reden & Schriften, Berlin 2010, S. 258–274, hier S. 264 f.
- Vgl. Felix Brandner, Vernunft und „Einzelwahnsinn“. Einige Überlegungen zum Verhältnis von Bewegung und Einsamkeit anlässlich Klaus Bittermanns Deutung der Biographie Wolfgang Pohrts, in: sans phrase, Heft 20, Sommer 2022, S. 155–164, hier S. 163 f.
- Dieses Faible spiegelt sich sowohl im Verlagsprogramm von Edition TIAMAT als auch in Bittermanns eigenen Büchern wider, siehe z.B. The Crazy Never Die. Amerikanische Rebellen in der populären Kultur (2011) oder Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück (2016).
- Wolfgang Pohrt, Arbeiter und Kleinbürger, in: WPW 1, S. 410–416, hier S. 412 f.
- Wolfgang Pohrt, Manson-Family und Revolution. Ein Beitrag zur Diskussion um ‚Emanzipation in der Gruppe‘, in: Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative. Pamphlete und Essays, Berlin 1980, S. 34–39, hier S. 34.
- Ebd.
- Ebd.
- Ebd., S. 35.
- Hans-Jürgen Krahl, Angaben zur Person, in: Kostitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Frankfurt am Main 1977, S. 19–30, hier S. 25.
- Wolfgang Pohrt, Manson-Family und Revolution, S. 35.
- Ebd.
- Ebd., S. 36.
- Theodor W. Adorno, Beitrag zur Ideologienlehre, in: AGS 8, Frankfurt am Main 1997, S.457–477, hier S. 465.
- Wolfgang Pohrt, Jonestown / Guayana. Das modern Leben im Spannungsfeld zwischen aktiver Sterbehilfe und finalem Rettungsschuß, in: Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative. Pamphlete und Essays, Berlin 1980, S. 7–33.
- Ursprünglich 1974 im Kursbuch erschienen unter dem Titel Wegwerfbeziehungen. Versuch über die Zerstörung der Gebrauchswerte und einen weiteren, von Michael Schwarz verfassten Abschnitt enthaltend.
- Wolfgang Pohrt, Vernunft und Geschichte bei Marx, in: Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995, S. 269–278, hier S. 271.
- Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, zit. n. Wolfgang Pohrt, Nutzlose Welt. Ohnmacht im Spätkapitalismus, in: Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995, S. 13–46, hier S. 43.
- Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, in: Theorie des Gebrauchswerts, S. 47–267, hier S. 226 f.
- Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, zit. n. Wolfgang Pohrt, Nutzlose Welt. Ohnmacht im Spätkapitalismus, S. 43.
- Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, S. 231.
- Ebd., S. 249 f.
- Wolfgang Pohrt, Vernunft und Geschichte bei Marx, S. 278.
- Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, S. 250.
- Dieses Urteil Pohrts schließt keineswegs den Wert selbst und das Prinzip seiner Verwertung mit ein. Das Wertgesetz wird hier als lediglich eine mögliche Durchsetzungsform des Werts als des Subjekts des ökonomischen Prozesses begriffen. Allerdings wird das bei Pohrt selbst nicht hinreichend deutlich, da er hier bisweilen begrifflich schlichtweg unsauber arbeitet. Vgl. Clemens Nachtmann, Autoritärer Staat und Verfall des Gebrauchswerts. Das endlose Ende der politischen Ökonomie, in: Bahamas 28, 1999, S. 49–57, hier S. 53 u. 57, Fn. 29.
- Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, in: MEW 25, S. 454; vgl. Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, S. 249.
- Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, S. 186 f.
- Ebd., S. 188.
- Ebd., S. 266.
- Wolfgang Pohrt, Vernunft und Geschichte bei Marx, S. 275.
- Wolfgang Pohrt, Über Menschen, die man außer mit dem Messer nicht verletzen kann, in: Klaus Bittermann (Hg.), Meine Regierung. Vom Elend der Politik und von der Politik des Elends. Rotgrün zwischen Mittelmaß und Wahn, Berlin 2000, S. 160–167, hier S. 166.
- Wolfgang Pohrt, Kapitalismus Forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam, Berlin 2012, S. 69.
- Manfred Dahlmann, Kritische Theorie am Ende? Über die Antinomien totaler Vergesellschaftung bei Stefan Breuer und Wolfgang Pohrt, in: Das Rätsel der Macht. Michel Foucaults Machtbegriff und die Krise der Revolutionstheorie, Freiburg/Wien 2018, S. 327–340, hier S. 337 f.
- Jürgen Habermas, Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno, in: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1986, S. 130–157, hier S. 154.
- Wolfgang Pohrt, Manson-Family und Revolution. Ein Beitrag zur Diskussion um ‚Emanzipation in der Gruppe‘, in: Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative. Pamphlete und Essays, Berlin 1980, S. 34–39, hier S. 35.
- Gerhard Stapelfeldt, Der Geist des Widerspruchs. Studien zur Dialektik. Erster Band, Freiburg 2012, S. 212.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Kapitalismus / Postkapitalismus Kritische Theorie Öffentlichkeit Politik Politische Ökonomie
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