Valentin Groebner | Rezension |

Zeig Dich im Zauberspieglein

Rezension zu „Body-Bilder. Körperkultur, Digitalisierung und soziale Netzwerke“ von Jörg Scheller und „Gesichtserkennung. Vernetzte Bilder, körperlose Masken“ von Roland Meyer

Digitalisierung ist eine Wundertüte. Wer hätte gedacht, dass sie eine neue Version des Reclam-Bändchens erzeugen würde, das Hosentaschenbuch von achtzig Seiten, nur etwas breiter und in cooler Typografie? Nach Bänden über Netzfeminismus, Bildproteste und Selfies sind in der Reihe „Digitale Bildkulturen“ zwei Interventionen erschienen, die sich den aktuellen Wechselwirkungen zwischen Körpern und Bildern widmen – offline und schwarz-weiß, aber lesenswert.

Die Sozialen Medien, beginnt Jörg Scheller seine Überlegungen zur Körperkultur in den digitalen Kanälen, seien dominiert von routiniertem Wechselspiel zwischen Affirmation und Kritik, die sich gegenseitig verstärkten. Wie die konservativen Kulturkritiker der vorletzten Jahrhundertwende, die ihr Unbehagen an der Moderne via Schreibmaschine und Massenpresse äußerten, nutzen heutige Kritiker der Digitalisierung am liebsten deren Kanäle. Wie ihre Vorgänger funktionieren auch sie als Superreplikator: Zeitungen vermitteln, dass alles Wichtige in Zeitungen stehe, Fernsehen handelt am liebsten vom Fernsehen, Netzportale im Wesentlichen von anderen Netzportalen und Smartphones vermitteln, dass alles Wichtige durch und auf Smartphones geschehe.

Es sei denn, es geht um den eigenen Körper. Im rasanten Fluss der Bilder ist „dieses blutende, eiternde, alternde Ding“, wie Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte und praktizierender Bodybuilder selbstironisch formuliert, schlaffes Rohmaterial, das erst in Form gebracht werden muss. Im Wortsinn, denn die Fitnessstudios mit ihren verspiegelten Wänden und allgegenwärtigen Bildschirmen sind Bilderorte: Ihre Benutzer arbeiten hart daran, mit ihrem Körper ein gutes Bild zu erzeugen und bestimmten Körperbildern zu entsprechen. Die Bildkultur im Gym, überlegt Scheller, ähnle der in katholischen Kirchen. Bilder fungieren als Vor-Bilder, die zur Verkörperung bestimmter Welt-Bilder anspornen, und als Ermahnungen zu immer weiter gesteigerter körperlicher Intensität – Leiden vor Publikum inbegriffen.

Dieses Wechselspiel zwischen Körper- und Bilderproduktion bei synchroner Optimierung der einen wie des anderen hat sich in den Sozialen Medien mit ihrem theoretisch unbegrenzten, aber unsichtbaren Zuschauerpublikum nur noch verstärkt: „Pumpen, Posieren, Posten, Pumpen…“, so Scheller. Aus Fleisch soll Form- und Funktionsfleisch werden: Das funktionale Training ohne Maschinen, das unter den Bedingungen von COVID-19 mit den entsprechenden Ausgangssperren in den Sozialen Medien einen dramatischen Popularitätsschub erlebte, will die Maschinenhalle des traditionellen Gym – die sture Physik – verlassen. Es soll potenziell überall im Alltag praktiziert werden, so das Versprechen, mit minimalem Ressourceneinsatz – allerdings ausführlich dokumentiert per Smartphone. „Das passt zu einem Zeitgeist“, notiert Scheller, „der die Digitalisierung und Algorithmisierung des Lebens sowohl mit Self-Empowerment als auch mit umfassender Vernetzung verbindet. Und es passt zu faktischer oder gefühlter Prekarisierung und einer als unsicher empfundenen Zukunft.“

Ist der eigentliche Antrieb für das Pumpen, Posieren und Posten also Angst, Vorzeigen der eigenen Muskeln als letztem möglichem Bilder-Ort des Eigenen in einer immateriellen Welt flüchtiger Pixel? Scheller ist skeptisch gegenüber solchen eschatologisch angehauchten Diagnosen von digitaler Disruption, Entgrenzung oder Verfall. In der Welt der Body-Bilder und der aufgeregten Influencer ist nicht alles so neu, wie es sich gibt. Das Kraftstudio ist ebenso Produkt der Hochindustrialisierung wie der Egokörperkulte: Als Eugen Sandow am Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff des „Body Building“ prägte, war Vegetarismus in der Trainings- und Kraftkultur weit verbreitet; auch Peter Müllers Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit von 1904 war ein internationaler Bestseller. Zahllose Fotos in der Massenpresse und bewegte Bilder im Film haben jene körperlichen Vor-Bilder erzeugt, denen das selbstoptimierende Publikum seither emsig hinterhertrainiert.

„Je artifizieller die Umwelt, je rigider der ihr zugrundeliegende Code, je homogener die verbauten Technologien und Marktmechanismen“, resümiert Scheller, desto grösßer sei das Interesse an persönlicher und im Wortsinn leibhaftiger Verkörperung von „Authentizität“ und „Singularität“. Das Bedürfnis nach beidem werde heute von einem ganzen Medienverbund bedient, der vom Mainstream-Kino bis zum privaten Instagram-Account reicht. Trotz einer nie dagewesenen Angebotsvielfalt setzten sich in ihm letztlich konventionelle Body-Bilder durch, notiert der Autor am Schluss melancholisch: Die rasant beschleunigten digitalen Bilderströme transportierten letztlich die Trägheit des Sozialen.

Oder geht es in den digitalen Bilderwelten gar nicht um meinen biceps brachii, abdominalis rector und pectoralis maior, obwohl ich wirklich hart an all der Muskelmasse gearbeitet habe? Gesichtserkennung, zeigt Roland Meyer in seinem gleichnamig überschriebenen Essay in derselben Reihe, ist heute durch nichtmenschliche Betrachter strukturiert. Sie steuern die Inhalte und generieren die Einnahmen aus den digitalen Kanälen; und sie halten nach etwas anderem Ausschau als knackig definiertem Fleisch. Ein einziges Foto reiche, um den Träger zu identizieren, versprechen Firmen wie Clearview AI oder PimEyes ihren zahlenden Kunden. Sie nutzen die Gesichter, die Milliarden Benutzer zu ganz anderen Zwecken auf ihre Accounts in den Sozialen Netzwerken hochgeladen haben.

In Wahrheit erkennen Programme zur Gesichtserkennung aber niemanden. Sie vermessen oder „sehen“ auch nichts, sondern vergleichen Helligkeitsverteilungen, suchen nach Mustern und werten miteinander verknüpfte Daten statistisch aus. Die riesigen Mengen digitalisierter Fotos, auf denen ihre Arbeit beruht, sind erst durch den Erfolg der Sozialen Netzwerke überhaupt verfügbar geworden.

Die dafür eingesetzten Algorithmen des machine learning verfahren zwar weitgehend selbsttätig, sind jedoch ebensowenig neutral wie ältere technische Verfahren der Identifikation. Spukt deswegen so viel 19. Jahrhundert durch die aktuellen Debatten? Eineinhalb Jahrhunderte nach Cesare Lombroso behaupteten zwei US-amerikanische Computerwissenschaftler im Mai 2020, ihr Programm könne anhand eines Gesichts mit achtzigprozentiger Zuverlässigkeit feststellen, ob dessen Besitzer kriminell sei. Schwarz-weiß- wie Farbfotografie waren jahrzehntelang für hellhäutige Kunden optimiert; Menschen mit dunkler Hautfarbe und Frauen werden auch in heute genutzten Gesichtserkennungsprogrammen deutlich häufiger falsch zugeordnet, weil der Standardbenutzer der digitalen Kanäle weiß und männlich ist. Ebenso reproduzieren die selbsttätig lernenden Algorithmen soziale Konventionen und Geschlechterstereotype wie Lächeln und Make-Up. „Diversität“ und „Inklusion“, die sich international agierende Digitalkonzerne so gerne auf die Fahnen schreiben, notiert Meyer nüchtern, haben deswegen nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, sondern mit optimierten Daten und globaler Markttauglichkeit.

Während bei Jörg Scheller der Körper noch das verschwitzte, aber leibhaftige Gegenteil des perfekten Digitalbilds bleibt, zeichnet Roland Meyer nach, wie digitale Filter und Optimierungssoftware die Gesichter in ästhetische Artefakte verwandeln. Übliche ‚hot‘-Filter verkleinern die Nase, vergrössern die Augen, hellen die Haut auf und reproduzieren gendernormierte und rassistische Kriterien. Bildoptimierung bedeutet, das Unerwartete oder tatsächlich Individuelle zugunsten des statistisch Dominanten und Wahrscheinlichen zu unterdrücken.

Das Ergebnis sind Masken; aber ohne die Möglichkeit der Tarnung oder Verwandlung. Politische Proteste versorgen deswegen die fleißigen Algorithmen mit dem Material, das sie brauchen, wenn sie als Bildproteste in den Sozialen Medien stattfinden. Das Kommunizieren mit nichtmenschlichen Betrachtern verlangt nach anderen Regeln, wie Meyer zeigt: manipulierte Pixeloberflächen, die für das menschliche Auge unsichtbar bleiben, und expressionistische Tarnbemalungen wie die veränderten Gesichter von cvdazzle.com. Nur posten sollte man die erzielten Resultate nicht, ermahnen die Macher der subversiven Software, um den Gesichtserkennungsprogrammen nicht neues Material zu liefern.

Das Zauberspieglein ist eben deutlich smarter als seine Benutzer: Wer wen wodurch erkennen kann, ist eine Frage technischer Macht. Bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017 erfasste die Hamburger Polizei die Gesichtsdaten von mehr als 100.000 Personen – ihre genaue Zahl ist unbekannt; ein Antrag zur Löschung des Materials wurde vor Gericht zurückgewiesen. Umgekehrt ging das französische Innenministerium im Herbst 2020 scharf gegen eine Ausstellung des Künstlers Paolo Cirio vor, der über 4000 Porträts per Gesichtserkennung identifizierter Polizistinnen und Polizisten hatte präsentieren wollen. Hilft gegen diese Übermächtigung wirklich die Berufung auf Transparenz und auf das Recht auf Information darüber, wer wessen digitales Gesicht erfasst, speichert und weitergibt, wie Meyer am Schluss trotzig resümiert?

Kann sein. Vielleicht kann aber die Sehnsucht nach eigener Einzigartigkeit im Spiegel des Bildschirms nicht vom selben Medium gestillt werden, das diese Sehnsucht mit seiner Fülle an Körpern und Gesichtern erst geweckt hat. Die digitalen Kanäle bieten das Entkommen aus vertrauten digitalen Formaten ständig neu als Gegenmittel gegen den Überdruss an, den sie selbst erzeugt haben. Telegram statt Whatsapp, Facebook statt myspace, Instagram statt Facebook: Fluchtwege aus dem Digitalen scheinen immer nur tiefer hinein ins Digitale zu führen, zu immer mächtigeren Zauberspieglein.

Superreplikatoren fressen alles. Sie haben deswegen auch kein Problem mit Kritik, im Gegenteil. Sie liefert ihr weiteres Futter, so wie die Bilder, die wir von unseren Körpern in die digitalen Kanäle einspeisen. Dabei soll die intensivierte Selbstauskunft so locker und spielerisch wie möglich daherkommen, um mich erfolgreich in das Wunschbild meiner selbst zu verwandeln. Zum Verschwinden gebracht werden muss dabei die eigentliche Devise: Dass ich erst ganz ich bin, wenn ich so bin wie alle anderen; und dort, wo sie auch sind – auf dem richtigen Digitalkanal, im Malstrom der Bilder.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Körper Kunst / Ästhetik Medien Technik

Valentin Groebner

Professor Dr. Valentin Groebner lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Sein neues Buch "Bin ich das? Eine kleine Geschichte der Selbstauskunft" erscheint im November 2022 bei S. Fischer. (Bild: Saskia Ramminger)

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