Jannis Julien Grimm | Rezension | 17.06.2022
Zum alltäglichen Frieden
Rezension zu „Everyday Peace. How So-called Ordinary People Can Disrupt Violent Conflict“ von Roger Mac Ginty
Bosnien-Herzegowina, Libyen, Nagorny-Karabach, der Donbass – der Blick in die europäische Nachbarschaft offenbart, wie eine Vielzahl inner- und zwischenstaatlicher Konflikte trotz intensiver internationaler Mediation und zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung in Konfrontationslogiken verhaftet bleiben, die mit zunehmender Reproduktionsdauer immer schwerer zu durchbrechen sind. Bisweilen bleiben Konflikte über Jahrzehnte in einer Art „kaltem Frieden“ gefangen, der punktuell immer wieder in periodisch aufflammende und abflauende niederschwellige Konfrontationen ausbricht. Gleichzeitig werden derartige Episoden auch durch wiederkehrende Versuche der internationalen Konfliktbearbeitung strukturiert. Diese setzen vorrangig auf hochrangige Dialogformate zur Herstellung eines Interessensausgleichs auf der Elitenebene. Eine dritte Partei greift deeskalierend ein, wodurch die dyadische Konfliktkonstellation in eine triadische Verhandlungskonstellation umgeformt werden soll. Der Grundgedanke dieses stark eliten- und institutionenzentrierten Konfliktmanagement: Politische Lösungen zur Konfliktbeilegung haben nur dann eine Chance, Störungsversuche durch Beteiligte oder Dritte und andere Rückschläge zu verkraften, wenn alle am Konflikt beteiligten Gewaltakteure auf Dauer daran interessiert sind, sich auf zivilen Wegen zu einigen. Werden sie in Arrangements zur Eindämmung von Konfrontationen nicht einbezogen beziehungsweise fühlen sich durch diese übergangen oder benachteiligt, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf gewaltsame Mechanismen der Interessensdurchsetzung zurückgreifen.
Dieses Kalkül der Friedensforschung zu den Bedingungen und Chancen gewaltfreier Konfliktbewältigung fußt in hohem Maße auf den Theorien des US-Soziologen William Zartman. Zartman zufolge seien Entwicklungen in Richtung Frieden vor allem dann möglich, wenn sich die Konfliktparteien in eine kostspielige Pattsituation manövriert haben, die sich von keiner Seite auf absehbare Zeit zum eigenen Vorteil wenden lässt. Implizit behauptet diese These vom „mutually hurting stalemate“ auch, dass jegliche Vermittlungsbemühungen aussichtslos sind, solange die Konfliktkosten alle Gewaltakteure noch nicht dazu gezwungen haben, nach Handlungsalternativen zum konfrontativen Nullsummenspiel zu suchen: „Stalemate is necessary to mediation, just as mediation is necessary to overcome stalemate“, halten Touval und Zartman bündig fest.[1] Oder zynischer ausgedrückt: Erst immense Opfer auf beiden Seiten ebnen den Weg an den Verhandlungstisch.
Friedensstiftung im Alltag
Roger Mac Gintys neues Buch Everyday Peace. How So-called Ordinary People Can Disrupt Violent Conflict bietet zu dieser Top-Down-Perspektive auf Friedensbedingungen gewissermaßen den Gegenschnitt. Anstatt auf die politische Ökonomie von Eliten, Interessenausgleich auf der Makroebene sowie internationale Verhandlungsbemühungen und ihren Beitrag zum peacemaking zu blicken, nimmt Mac Ginty, ganz in der Tradition kritischer Mikrosoziologen und engaged scholars wie James Scott,[2] Randall Collins,[3] Paul Smoker[4] oder Asef Bayat[5] eine Perspektive auf Frieden als kollektiven, hyperlokalen und in „gewöhnliche“ soziale Alltagsinteraktionen eingebetteten Prozess ein. Die Hoffnung hinter elitenzentrierten Ansätzen der Konfliktbearbeitung beruht auf der Annahme, dass ein zwischen Führungskadern kurzfristig ausgehandelter Friedenszustand über die hierarchischen Entscheidungsstrukturen von Gewaltakteuren sowie über Gewöhnungs- und Sozialisationseffekte mittelfristig auch gesellschaftliche Wurzeln schlagen und so nachhaltig abgesichert werden kann. Der „Alltagsfriede“, den Mac Ginty in den Blick nimmt, setzt dagegen auf der Graswurzelebene an. Dieser Idee eines Trickle-Down-Effekts von Friedensprozessen auf der Elitenebene stellt Everyday Peace eine Vielzahl an Bottom-Up-Prozessen der Friedensschaffung gegenüber, die in ihrem Zusammenwirken mächtige Transformationspotenziale entfalten können. In ihrer Summe, so Mac Gintys zentrales Argument, könnten Alltagspraktiken in Konfliktgesellschaften bisweilen wirkmächtig dazu beitragen, hegemoniale Gewalt- und Konfliktlogiken zu durchbrechen. Die Beispiele, die der Autor für Friedenspotenziale auf der Grasswurzelebene anführt, lassen sich (um im Bildbereich der Botanik zu bleiben) als breit gestreute Saat konfrontationsvermeidender Alltagspraktiken verstehen, die in scheinbar ausweglos verhärteten Konfliktkonstellationen überraschende Disruptionspotenziale entfalten.
Den Begriff der Disruption entlehnt Mac Ginty dabei der jüngeren wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zum Innovationspotenzial von Start-Ups. Gemeint sind Vorgänge, die eingesessene Marktsegmente und deren Praktiken „kreativ“ stören und unterbrechen. Immer wieder gelinge es neu auf dem Markt agierenden Akteuren, durch veränderte Workflows, innovative organisatorische Strukturen oder alternative Praktiken von Produktion und Akquise Routinen des Marktes zu durchbrechen, sich so als effektivere Alternativen zu positionieren und dadurch letztlich das gesamte System zu einer Neuordnung zu zwingen. Man denke dabei etwa an Streaming-Dienstleister, die den Rundfunk revolutionierten, oder die Auswirkungen mobiler Bezahlungssysteme auf den klassischen Bankensektor.
Übertragen auf Konfliktzusammenhänge, lässt sich der Begriff der Disruption nutzbar machen, um Akteure zu fassen, deren idiosynkratische Handlungen zur Bewältigung des Alltags – teils unbewusst – neuartige Routinen des Zusammenlebens auf der Mikroebene etablieren, die Gewaltlogiken auf der Makroebene entgegenwirken. Mac Ginty führt dabei an erster Stelle transaktionale Handlungsmuster an, die es Akteuren erlauben, im Alltag mit Vertretern eigentlich verfeindeter Gruppierungen Geschäftsbeziehungen unterhalten, zusammenzuarbeiten oder auch nur denselben Bus zur Arbeit zu nehmen. Darüber hinaus beleuchtet er auch individuelle Akte der Disruption, die sich unmittelbar während Kampfhandlungen abspielen – etwa die intuitive Entscheidung von Soldaten, Kriegsgefangene statt Menschenleben zu nehmen, oder die spontane medizinische Versorgung verwundeter Gegner, die bis dato dehumanisiert und brutal bekämpft wurden.
Sozialität, Reziprozität, Solidarität
Daneben thematisiert das Buch auch Alltagspraktiken zur Herstellung von lokaler Erwartungssicherheit während heißer Konfliktphasen wie die unausgesprochene Schaffung neutraler Zonen in Kirchen oder die Einhaltung lokaler Waffenruhen auf bestimmten Frontabschnitten im stillen Einvernehmen der Konfliktparteien. Solche Initiativen betrachtet Mac Ginty als bewusste Versuche, sich dominanten Konfliktlogiken zu entziehen. Mac Ginty unterscheidet diese unterschiedlichen Arten alltäglicher Friedensakte hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit in Konfliktgesellschaften danach, ob sie primär auf Sozialität, Reziprozität oder sogar echter Solidarität fußen. Jedem der drei Mechanismen widmet Everday Peace ein eigenes Kapitel. Akte der Solidarität bergen für den Autor dabei bei weitem das größte Potenzial, sich horizontal zu reproduzieren und damit Gewaltlogiken nachhaltiger und in der Breite zu überwinden, zeugen sie doch von affektiven Identifikationsprozessen, welche soziale, konfessionelle, ethnische oder sonstige demografische Hindernisse überwinden und so die Basis für ein Gemeinschaftsgefüge schaffen können.
Gleichzeitig ist Mac Ginty auch darum bemüht, einer aus dem Buch leicht herauslesbaren Romantisierung des „kleinen Alltagsfriedens“ gegenüber dem „Großen Frieden“, der im Mittelpunk internationalen Friedenskonferenzen steht, vorzubeugen. So unterstreicht er etwa die Kontingenz und Vulnerabilität von Interaktionen auf der Mikroebene und betont, dass alltägliche Friedensakte nicht ohne Weiteres Pfadabhängigkeiten schaffen. Vielmehr seien sie manchmal auch nur kurzlebige, punktuelle oder einmalige Initiativen einzelner Akteure, deren Wirkung durch die Folgehandlungen derselben Akteure wieder konterkariert werden könne. In den Worten des Autors:
„[E]veryday peace manifests itself in inconsistent, opportunistic, and messy ways. It is not the case that individuals and groups are stuck in path dependencies. Instead, they react, create, ignore, forget, don’t give a damn, conform, rebel, and do more – often within the space of a day or an hour.“ (S. 30)
Dennoch böten „kleine“ Friedensakte insbesondere in festgefahrenen Gewaltkonflikten Hoffnungsschimmer und enthielten zumindest das Potenzial, auch andere Akteure zu friedensschaffendem Handeln – also implizitem Widerstand gegen hegemoniale Gewaltlogiken – zu inspirieren. Diesen Motivationseffekt bezeichnet Mac Ginty in Abgrenzung zum upscaling, das heißt direkten Skalierung lokaler Disruptionseffekte auf die Makroebene, als scaling out, also als horizontale Multiplikationswirkung, die den Möglichkeitshorizont für das soziale Miteinander in Konfliktgesellschaften über agonales und konfrontatives Handeln hinaus entscheidend erweitern kann.
Als Wermutstropfen bleibt, dass es Mac Ginty an dieser Stelle nicht gelingt, den Bogen von seiner umfassenden Konzeptionalisierung und überzeugenden Kategorisierung von friedensstiftenden Alltagspraktiken zu bestehenden institutionalisierten Praktiken der Konfliktbearbeitung zu schlagen. Zudem sind viele der angeführten empirischen Beispiele – eine Zusammenstellung die trotz oder gerade wegen ihrer Vielfalt mitunter eklektisch anmutet – nur eingeschränkt exakten Messungen zugänglich, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Reichweite schwer einschätzbar und somit nur unter Vorbehalt auf andere Kontexte übertragbar. Damit stellt sich die Frage der praktischen Relevanz und Anknüpfungsfähigkeit von Everyday Peace, etwa für zivile Friedensbearbeitung, beziehungsweise möglicher Lehren des Buches für bestehende hochprofessionalisierte und funktional ausdifferenzierte Konfliktbearbeitungsprozesse. Andererseits lässt sich diese „praktische“ Lücke auch als bewusste Entscheidung des Autors deuten, den Fokus auf lokale Praktiken zu legen und der in der Disziplin der Friedensforschung verbreiteten Tendenz zu widerstehen, immer neue Betätigungsfelder für die internationale Peacemaking-Maschinerie aufzuzeigen. Möglicherweise sagt die vorgebrachte Kritik an den fehlenden Handlungsempfehlungen also auch mehr über den hegemonialen Diskurse zum how to von Friedensschaffung als staatszentrierter, institutionell eingebetteter und durch Experten (zumeist des Globalen Nordens) begleiteter Vorgang aus, als über Schwächen von Mac Gintys Werk.[6]
Auf dem Weg zum Standardwerk
Mit seiner dritten Monografie ist es Mac Ginty jedenfalls gelungen´, eine multiperspektivische Trilogie zum Thema Frieden zu vollenden, die anfangs gar nicht als solche geplant war. Befasste sich sein erstes Buch No War, No Peace noch aus institutionalistischer Perspektive mit ins Stocken geratenen und dysfunktionalen Friedensprozessen und den Bedingungen ihrer Wiederbelebung durch internationale Akteure,[7] stand im darauffolgenden Werk bereits das Wechselspiel zwischen internationalem Friedensprozess einerseits und lokalen ethnischen Identitäten im Vordergrund.[8] Bereits in dieser radikalen Kritik an internationalen Peacebuilding-Interventionen hob Mac Ginty die Hybridisierungsprozesse hervor, die in Post-Bürgerkriegsgesellschaften die parallele Koexistenz von tief verwurzelten Antagonismen und pragmatischen Alltagsinteraktionen zwischen vormals verfeindeten Bevölkerungsgruppen ermöglichten.
Everyday Piece setzt den Schlussstein auf diese beeindruckende Serie. Laut Vorwort das Buch, das Mac Ginty immer schreiben wollte, präsentiert es Erkenntnisse aus sieben Jahren akribischer Recherche und führt dabei nicht nur frühere Gedankengänge zusammen, sondern stützt sich in seiner Fülle an illustrativen und geografisch weit gestreuten Beispielen auch auf die umfangreichen Feldforschungen des Autors, die er im Rahmen seiner früheren Werke unternommen hatte. Es zeigt, wie die Grundlagen für Frieden an den unwahrscheinlichsten Orten und unter den unwahrscheinlichsten Bedingungen zu finden sind – in familiären intimen Beziehungen, Freundschaftsverhältnissen, sozialen Beziehungen in der Nachbarschaft bis hin zu spontanen Begegnungen im Eifer des Geschäfts und im Kugelhagel des Schlachtfelds.
Everyday Piece gehört zu den seltenen Büchern, bei denen alles zusammenpasst: von der eingängigen Strukturierung des Inhalts über die gestochen scharfen und zugleich empathischen Analysen, die Sensibilität für Details und Nuancen, die zugängliche und präzise Sprache bis hin zur gelungenen Covergestaltung. Es handelt sich um Pflichtlektüre für alle, die sich mit der Frage beschäftigen, wie in Gewaltkonflikten ein sozialer Nährboden für ein friedliches Zusammenleben entstehen oder bewahrt werden kann. Neben seiner überzeugend kritischen und innovativen Sichtweise auf das Thema Frieden setzt das Buch auch durch seinen Quellen- und Methodenmix neue Maßstäbe. Es stützt sich neben gründlicher Dokumentenanalyse, der Auswertung einer Vielzahl von Interviews, Zeitzeugenberichten und den vom Autor entwickelten Everyday Peace Indicators maßgeblich auf Memoiren und Kriegstagebücher, die bislang von der Friedens- und Konfliktforschung größtenteils den Historiker:innen überlassen wurden. Das alles macht Everyday Peace zu einem Buch voller Kreativität, das Hoffnung und Optimismus verbreitet, ohne zu idealisieren. Es hat das Potenzial zum Standardwerk, dessen Denkanstöße die Zukunft der Friedens- und Konfliktforschung nachhaltig prägen dürften.
Fußnoten
- I. William Zartman / Saadia Touval, International Mediation: Conflict Resolution and Power Politics, in: Journal of Social Issues 41 (1985), 2, S. 27–45S. 40.
- James C. Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven, CT 1985.
- Randall Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, Princeton, NJ 2008.
- Paul Smoker, Small Peace, in: Journal of Peace Research 18 (1981), 2, S. 149–157.
- Asef Bayat, Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East, Stanford, CA 2010.
- Zu dieser Lesart siehe auch Francis Wade, The Quiet Power of Everyday Resistance, in: The Nation, 27.9.2021.
- Roger Mac Ginty, No War, No Peace. The Rejuvenation of Stalled Peace Processes and Peace Accords, Basingstoke 2008.
- Roger Mac Ginty, International Peacebuilding and Local Resistance. Hybrid Forms of Peace, Basingstoke 2016.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.
Kategorien: Gewalt Sicherheit Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
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