Katharina Kriegel-Schmidt | Rezension | 05.09.2023
Zur Aufklärung provoziert
Rezension zu „Das Mediationsparadox. Eine soziologische Studie zur Vermittlung im Streit“ von Justus Heck

Wir haben heute einen anderen Umgang mit alltäglichen Konflikten als unsere Eltern und Großeltern, denn unsere Erklärungsbedürfnisse – und mit ihnen die Möglichkeiten, einen Dissens zu verstehen und auf ihn zu reagieren – haben sich gewandelt. Justus Hecks Buch Das Mediationsparadox. Eine soziologische Studie zur Vermittlung im Streit widmet sich einer der aufwendigsten aktuellen Varianten, soziale Missstimmungen in den Griff zu bekommen: Mediation. Sie findet häufig Anwendung in Fällen, die wir zu steuern versuchen, bei denen wir Risiken geringhalten, vielleicht sogar einen Mehrwert erzielen wollen oder müssen. Dabei übernimmt eine dritte Person die Vermittlungsarbeit, wodurch „diverse Formen der Metakommunikation [möglich werden], die in der dyadischen Situation nicht gleichermaßen realisierbar“ (S. 175) sind. In seinem Beitrag zur soziologischen Theorie, insbesondere zur Rechts- und Verfahrenssoziologie sowie zur systemtheoretischen Konfliktforschung, geht es Heck um mehr als der Titel ankündigt: Es geht um Streit im Allgemeinen und wie er gesteuert wird. Er untersucht zudem die Tätigkeit von Rechtsanwälten und Richtern und Alltagsinteraktionen im Zusammenhang mit Konfliktkommunikation. Wie so oft in der Systemtheorie ist es auch Heck ein Anliegen, Selbsterklärungen innerhalb der Systeme offenzulegen, er sieht sich geradezu „provoziert […], eine soziologische Aufklärung“ (S. 7) zu betreiben.
Im ersten der insgesamt sechs Kapitel steht der systemtheoretische Konfliktbegriff im Fokus. Demnach ist bei Konflikten vor allem deren Eskalationspotenzial beziehungsweise ihre Ausdifferenzierung entscheidend. Je weiter sich ein Konflikt entwickelt, umso schwieriger ist er handhabbar, ein allgemein bekannter Umstand, den Heck als Metamorphose beschreibt. Außerdem benennt er Hindernisse auf dem Weg zu einer einvernehmlichen oder auf Kooperation basierenden Streitbeilegung. Im darauffolgenden Kapitel (2) betrachtet Heck den Vermittlungsbegriff und seine Formen. Im Mittelpunkt steht hier für den Autor der Kompromiss, bei dem, so seine These, jeder nicht nur nachgibt, sondern auch etwas aufgibt, aufgrund von Interessen, die über den konkreten Streitgegenstand hinausgehen. Im Anschluss stellt Heck die Frage, wer eigentlich berechtigt ist, zu vermitteln. Wer darf im Alltag jene Nachgiebigkeit fordern, die einen Kompromiss erst möglich macht? Unbeteiligte, wie die Mediation es postuliert, kommen in der Regel eher nicht infrage. Daran anschließend (Kapitel 3) vergleicht der Autor Nachgiebigkeit in traditionellen und in modernen Gesellschaften und identifiziert „Quellen für Nachgiebigkeit“ (S. 108). Im Sprachgebrauch der Systemtheorie geht es dabei um den Zusammenhang von Kompromiss und Systemdifferenzierung (vgl. S. 92).
In Kapitel 4 entwickelt Heck eine soziologische Sicht auf das Rechtssystem. Wir lernen Anwälte als Vermittler kennen, was nicht heißt, dass sie zwangsläufig zum Vorteil ihrer Mandanten agieren: Je nachdem, ob sie ihre Beziehung zum Mandanten als schwach einschätzen (Pflichtverteidigung) oder als stark (Staranwalt), ist die Verteidigung entweder an den Kollegenbeziehungen oder am Auftraggeber orientiert. Harte Verteidigung kommt aus systemtheoretischer Sicht zwar vor, doch die lang eingespielte und antizipierte Kooperation ist wahrscheinlicher. Bei den Richtern findet sich ebenfalls eine Tendenz zur Vermittlung, zum Beispiel im Zivilrecht – diesmal nicht, um die Auseinandersetzung zu unterlaufen, sondern anstelle der erwarteten Entscheidung von oben. Kraft ihrer Autorität können Richter die Parteien oft mit Erfolg zur Kompromissbereitschaft drängen.
Haben die Medianden das metakommunikative Setting akzeptiert, entwickelt das Prozedere eine eigentümliche Schwerkraft (S. 174), durch die auch technisch wenig befähigte Mediatoren erfolgreich sind.
In einer interaktionssoziologischen Analyse – dem vielleicht interessantesten Kapitel (5) – entschlüsselt das Buch die Mechanismen erfolgreicher Vermittlungstätigkeit. Die (etwas schwache) empirische Basis bilden Pausengespräche in Konferenzen, schriftliche und mündliche Auskünfte von ungenannten Mediatoren in unbekannter Zahl und mit unklarem Können. Wie in pädagogischen und therapeutischen Kontexten sieht Heck die Interventionen in der Mediation prinzipiell als „technologisch defizitär“ (S. 173) an. Sie wirkt vor allem aufgrund der größeren Macht des Dritten und seiner wirkungsvollen Interpretation des Geschehens (S. 186). Haben die Medianden das metakommunikative Setting akzeptiert, entwickelt das Prozedere eine eigentümliche Schwerkraft (S. 174), durch die auch technisch wenig befähigte Mediatoren erfolgreich sind.
Für die Mediation entscheidend ist es, die Ausdifferenzierung des Streits zu hemmen und die Widerspruchshandlungen der Beteiligten zu reduzieren; der vielgestaltige Konflikt wird als Interessenkonflikt behandelt. Weil der Mediator qua seiner Autorität des Dritten immer wieder „zwei-gegen-einen-Situationen“ (S. 231) herstellt, betreiben die Streitenden „Selbstzensur“ (S. 194) und unterdrücken ihre Emotionen (S. 209). Der Mediator fordert die Streitenden zwar zum Reden auf, sortiert aber das aus, was ihm als nicht relevant erscheint. Im Laufe der Mediation legen sich alle Beteiligten gemeinsam auf eine Version des Streitgeschehens fest. Die Regeln und (Selbst-)Täuschungen ihres Vermittlers akzeptierend, finden die Streitenden, unter einer Reihe von prodezuralen und kommunikativen Fehlannahmen (S. 195), Schritt für Schritt einen von ihnen als Konsens fehletikettierten Kompromiss, so Hecks Thesen.
Im kurzen Abschlusskapitel versucht Heck, vor dem Hintergrund der gewonnenen Einsichten zu erklären, was ihm als Mediationsparadox erscheint: Obwohl die Mediation als Verfahren viel Zustimmung erfährt, werden vergleichsweise wenige Mediationen durchgeführt. So verweist Heck auf eine Studie aus dem Jahr 2017, laut der die meisten Mediatoren ihren Lebensunterhalt nicht einmal zur Hälfte mit Mediation bestreiten können (S. 89 und S. 250). Wieso also gibt es noch Mediationsausbildungen, Mediatoren und Mediationsbefürworter?
Die Zusammenführung von system- und kommunikationstheoretischen Zugängen ergibt eine für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mediation neue Perspektive. Auch wenn es, anders als man bei Heck liest, seit einiger Zeit jährlich ernstzunehmende Forschungsarbeiten, beispielsweise in Form von Dissertationen, zum Thema Mediation gibt,[1] ist es meines Wissens doch das erste Mal, dass Mediation mit diesem Theoriemix untersucht wird. Die Argumentation ist kenntnisreich und die Erträge sind vielfältig, damit könnte ein differenziertes Bild von Mediation entstehen. Denn was man gemeinhin über Mediation zu wissen glaubt, kommt vornehmlich von Akteuren, die ein lebhaftes Interesse an einer positiven Version von Konfliktvermittlung oder Mediation haben. Befürworter, wenn nicht gar Ausbilder, dominieren das allgemeine Bild, dies ist also kein wissenschaftlicher Diskurs. Die Thematisierung von Konflikt und Vermittlung ist dann häufig auf marktgesteuerte Verwertbarkeit ausgerichtet, eine an Erkenntnis orientierte Begriffs- wie Theoriebildung bleibt vielfach auf der Strecke. Hier bietet der Text tatsächlich die Chance zu einer Art Selbstaufklärung.
Zugleich ist Vorsicht geboten, denn ein großer Vorzug des Buches – von außen auf das Geschehen zu schauen – gerät zugleich zum Problem. Die Perspektive ist historisch so weit außerhalb gesetzt, dass gegenwärtige kulturelle Praktiken unverstanden bleiben. Heck schaut mit Luhmann und Goffman aus der Mitte des 20. Jahrhunderts auf etwas, das zur damaligen Zeit schwer zu antizipieren war: ein Subjekt, das sich für am Individuum orientierte Lösungen interessiert, dem das Reden von Norm, Normalität oder Anpassung verdächtig geworden ist, das Kontingenz produziert und eine permanente Kontingenzbewältigung betreibt.
Das Instrumentarium, mit dem Heck die kulturelle Gegenwart analysiert, stammt aus einer Zeit, die diese Gegenwart noch gar nicht kannte.
Setzt man also eine Veränderung der Subjekte voraus, wie Andreas Reckwitz und andere dies tun, dann lässt sich vermuten, dass die Subjekte – gemäß der Logik des Besonderen bis Singulären – mit sozialen Hindernissen anders umgehen als noch im 20. Jahrhundert.[2] Aber nicht nur der Umgang mit, sondern auch das Verständnis von Konflikten ist Ausdruck der Kultur einer Zeit und ihren Erklärungsbedürfnissen.[3] Zugespitzt formuliert: Das Instrumentarium, mit dem Heck die kulturelle Gegenwart analysiert, stammt aus einer Zeit, die diese Gegenwart noch gar nicht kannte. Auch deswegen gibt es bei ihm keinen Unterschied zwischen Mediation und Schlichtung. Zu Luhmanns und Goffmans Zeiten behandelte und pathologisierte man Konflikte als Anpassungsproblem und unterschied unberechtigte von berechtigten Konflikten.[4] Luhmann bezeichnete ein „Nein“ als Minimalform eines gegenwärtigen Konflikts, den nur einer gewinnen kann. Dem widerspricht Rodrigo Jokisch, ihm zufolge vertreten die Subjekte angesichts der Zurückweisung einer Handlungsabsicht nicht unbedingt eine Ich-oder-Du-Logik, sondern sehen sich veranlasst zu fragen: So nicht! – Wie dann?[5]
Heutzutage sind viele Menschen Virtuosen der Selbstthematisierung. Die Subjekte wollen über sich reden. Aus kultursoziologischer Perspektive leistet Mediation vor allem eines: Sie bietet die Möglichkeit, den von Giddens[6] beschriebenen Wunsch nach opening oneself to the other systematisch zu betreiben – bei anderen und bei sich selbst. Dies ist die praxeologische Erklärung des scheinbaren Mediationsparadoxes.[7] In dieser Lesart ist es zweitrangig, wie viele Mediationen jährlich stattfinden. Teilnehmer an Mediationsausbildungen wollen vielleicht in den selteneren Fällen als neutrale Dritte im Streit vermitteln. Sie könnten danach streben, ein längst verinnerlichtes Muster des ‚Wie dann?‘ im Konflikt mittels eines erlernbaren Repertoires für Beruf und Alltag technisch für sich zu nutzen. Mediation wäre aus diesem Grund auf eine viel subtilere Art erfolgreich – den Berufsverbänden zum Trotz, die sich fragen, wo die Medianden bleiben.
Fußnoten
- Katharina Kriegel-Schmidt (Hg.), Mediation als Wissenschaftszweig. Im Spannungsfeld von Fachexpertise und Interdisziplinarität, Wiesbaden 2017.
- Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; ders., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.
- Klaus Schmidt, Entstehung und Bearbeitung von Konflikten, in: Fritjof Haft / Katharina Gräfin von Schlieffen (Hg.), Handbuch Mediation, 3., vollst. neubearb. Aufl., München 2016, S. 209–224.
- Lewis Coser, Theorie sozialer Konflikte, übers. von Sebastian und Hanne Herkommer, Wiesbaden 2009.
- Rodrigo Jokisch, Vorwort, in: Karl Kreuser / Thomas Robrecht / John Erpenbeck, Konfliktkompetenz. Eine strukturtheoretische Betrachtung, Wiesbaden 2012, S. 13–16.
- Anthony Giddens, The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Cambridge 2013.
- Jakob Tröndle, Konfliktauflösung durch Selbstveränderung. Mediation als Subjektivierung, Wiesbaden 2018.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Affekte / Emotionen Interaktion Kommunikation Moderne / Postmoderne Systemtheorie / Soziale Systeme
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Das Kind als eindimensionales Subjekt
Rezension zu „Das Problem Kind. Ein Beitrag zur Genealogie moderner Subjektivierung“ von Christoph T. Burmeister
Gesellschaft ohne Gesicht
Rezension zu „La fin de la conversation? La parole dans une société spectrale“ von David Le Breton