Wolfgang Knöbl | Essay | 06.09.2018
Zur Eskalation und Deeskalation von Gewaltprozessen
Ein Kommentar
Der G20-Gipfel in Hamburg war nicht das erste politische Großereignis, an das sich gewaltsame Auseinandersetzungen anschlossen. Ähnlich situierte Gewalteskalationen konnten schon in den Jahrzehnten zuvor bei anderen Anlässen beobachtet werden – man denke an den Verlauf der Welthandelskonferenz in Seattle im Dezember 1999 oder des G8-Gipfels in Genua im Juli 2001. International gesehen war die Gewalt in Hamburg somit kein neues Phänomen. Vergleiche in einem ausschließlich nationalen Rahmen machen deutlich, dass auch in der jüngeren bundesrepublikanischen Geschichte immer wieder Eskalationsdynamiken auftraten, wie etwa der Rückblick auf die Auseinandersetzungen um die Atomkraft oder die Startbahn West in Frankfurt in den 1970er- und 80er-Jahren zeigt. So unterschiedlich sowohl die Anlässe als auch die jeweiligen Protestverläufe im Einzelnen waren, so bemerkenswert ist, dass sich Interaktionsmuster durchaus wiederholten und sich bestimmte Stereotypen mit Blick auf die dort zu beobachtende Gewalt gerade nicht bewahrheiten sollten – das gilt auch für Hamburg.
Am wichtigsten erscheint mir dabei folgender, vielleicht als trivial zu bezeichnender Aspekt: Die ausgeübte Gewalt war und ist weder ausschließlich der Ordnungsmacht noch ausschließlich den Protestierenden zuzuschreiben und war und ist nicht zuletzt (unter anderem) einer Eskalationsdynamik geschuldet. Man wird kaum bestreiten können, dass es im Rahmen all dieser genannten Protestereignisse auf beiden Seiten aufeinander bezogenes gewaltsames Verhalten und unangemessenen Gewalteinsatz gegeben hat. Wenn das so ist, ergeben sich daraus mit Blick auf eine mögliche Deeskalation mindestens drei theoretische Schlussfolgerungen, die sich relativ umstandslos auf die Realität von Protestverläufen rückbeziehen lassen – und auch für die Aufarbeitung der Geschehnisse in Hamburg ihre Bedeutung haben.
Erstens, wie gerade die Lektüre des vorliegenden Berichts eindrucksvoll zeigt, besteht zwischen der Polizei auf der einen und den Protestierenden auf der anderen Seite eine ganz spezifische Asymmetrie, die – wird sie nur unzulänglich oder gar überhaupt nicht berücksichtigt – fast unvermeidlich eine Verschärfung des Konflikts nach sich zieht. Auch wenn die enorme Komplexität eines polizeilichen Großeinsatzes mit mehreren Zehntausend Ordnungskräften keinesfalls unterschätzt werden darf, wird man ganz grob unterstellen dürfen, dass es sich bei der Polizei um einen einheitlichen Akteur mit einigermaßen klar umrissenen Aufgaben und Handlungsoptionen handelt. Eine solche Einheitlichkeit wird man für die Protestierenden aber gerade nicht festhalten können, weil sie sich aus den unterschiedlichsten Gruppen mit ebenso unterschiedlichen Zielen und Aktionsformen zusammensetzen. Ordnungskräfte, die – wie im Hamburger Fall geschehen – bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die Diversität der Protestteilnehmer*innen ignorieren und sich von den politisch Verantwortlichen die alleinige Fokussierung auf gewalttätigen Protest vorschreiben lassen, tragen zur Eskalation bei. Sie werden automatisch zur Konfliktpartei und damit zu Gegner*innen der Protestierenden – und zwar auch derjenigen, bei denen zu einem früheren Zeitpunkt keinerlei Bereitschaft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bestanden hatte. So hat etwa die aufgrund dieser Fokussierung mit großer Härte durchgeführte Räumung der als Hort von Gewalt antizipierten Protestcamps im unmittelbaren Vorfeld des Gipfels die Spannungen bereits unnötig verschärft. Darüber hinaus hat die Räumung auch eine eigenständige und vor allem breite Artikulation von Protestzielen und -formen verhindert, was im Übrigen kaum im Interesse der Polizei gewesen sein dürfte.
Zweitens, neben der Beobachtung, dass die polizeiliche Einschätzung der meisten Demonstrationsteilnehmer*innen als potenzielle Gewalttäter*innen zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führt, bestärkt der vorliegende Bericht sehr eindrücklich die etwa bei Randall Collins zu findende mikrosoziologische Einsicht, dass die von Seiten der Demonstrant*innen ausgeübte Gewalt stark situationsabhängig ist. Das ist sie auch dann, wenn vor Ort tatsächlich gewaltwillige Personen sind und der Ausbruch von Gewalt vermeintlich zwingend zu erwarten ist. Es sind aber eben vielfach kontingente Umstände – von Kommunikationspannen auf beiden Seiten bis hin zu räumlichen Besonderheiten –, die Form und Ausmaß von Gewalt zu einem Großteil beeinflussen und erklären. Hier lassen sich die bei Stathis Kalyvas zu findenden Erkenntnisse zur Bürgerkriegsforschung in Anschlag bringen, hatte doch Kalyvas überzeugend argumentiert, dass man zwischen Krieg und der Gewalt im Krieg deutlich trennen müsse, wenn man zu differenzierenden Einsichten über regional stark variierende Konfliktdynamiken auf der Mikroebene gelangen will. Folglich sollte man auch zwischen gewalttätigem Protest einerseits und Gewalt im Protest anderseits unterscheiden, weil sich nur so ein der Realität angemessenes Bild der Vorkommnisse in Hamburg und andernorts gewinnen lässt – und weil man sich nur auf diese Weise vor der Versuchung hüten kann, schon allein durch den Verweis auf die Anwesenheit von gewaltbereiten Demonstrant*innen die Dynamik des Protestes prognostizieren zu wollen. Auch das lässt sich im Übrigen als ein Hinweis an die Polizei lesen, der deutlich macht, inwieweit es gerade auch von ihrem Tun (und ihrer Neutralität gegenüber einer stets vor Gewalttäter*innen warnenden Politik) abhängt, ob und in welchem Ausmaß Konflikte eskalieren. Um etwaige Missverständnisse zu vermeiden: Damit ist nicht gemeint, dass die Polizei immer und überall für Gewaltausbrüche in politischen Protesten verantwortlich ist; gemeint ist vielmehr, dass sich die Polizei nicht auf die Position einer bloß reaktiven und reagierenden Institution zurückziehen kann. Schließlich ist kaum zu bestreiten, dass sie – gewollt oder nicht – zwangsläufig das gewaltsame Konfliktgeschehen mitprägt.
Drittens, was der vorliegende Bericht durch die intensive Auseinandersetzung mit (sozialen) Medien wie Twitter deutlicher machen kann als andere vergleichbare Analysen, ist die Einbettung des realen Gewaltgeschehens in mediale Repräsentationen ebendieser Gewalt. Manchmal wird Gewalt um ihrer selbst willen ausgeübt, manchmal dient sie der Durchsetzung von Interessen. Gewalt wohnt aber nicht selten auch eine kommunikative Komponente inne, selbst wenn die medialen Repräsentationen von den Konfliktparteien natürlich nie vollständig zu steuern und zu kontrollieren sind. Gerade wenn man sich an die obige triviale Einsicht erinnert, dass gewaltsame Eskalationsprozesse in der Regel einer Interaktionsdynamik geschuldet sind und sich Opponenten wechselseitig gerade über Medien wahrnehmen, dann wird man in Zukunft nicht daran vorbeikommen, bei Protestanalysen stärker als bislang geschehen die vielfältige Medienlandschaft – und hier insbesondere die Echtzeitmedien – mit einzubeziehen. Wie eng der Nexus zwischen Informationsgewinnung mittels verschiedener Medien auf der einen und tatsächlicher Gewaltausübung auf der anderen Seite ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. Aber selbst wenn man hier keinen allzu engen Zusammenhang vermuten darf, erscheint die Annahme nicht ganz abwegig, dass für eine angemessene Modellierung von Gewaltprozessen der Blick auf mediale Repräsentationen von Gewalt und ihren Symbolgehalt nicht fehlen darf, wenn man das Politische des gewaltsamen politischen Protests nicht ignorieren will.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
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