Uta Karstein | Rezension | 02.03.2023
Zur Reflexion epistemischer Pluralität
Rezension zu „Die Welten der documenta. Wissen und Geltung eines Großereignisses der Kunst“ von Paul Buckermann (Hg.)

Der Band Die Welten der documenta entstand im Kontext des interdisziplinären, in Heidelberg ansässigen Forschungsnetzwerks „Wissensgeltung“.[1] Dessen Ziel ist es laut eigener Aussage, „die Diskurse und Praktiken zu verstehen, mit denen Akteure, Personengruppen und soziale Netzwerke Wissen Geltung verleihen, wie Wissensräume gestaltet werden und wie Wissensartefakte als Medien der Durchsetzung von Wissensansprüchen fungieren“.[2] Wahrheitsbehauptungen von Akteuren werden demnach ebenso kritisch gesehen wie wissenschaftliche Positionen, die zu definieren versuchen, was zum legitimen Wissenskanon gehört. Leitend sollen vielmehr die Fragen sein, „unter welchen Voraussetzungen Aussagen für Wissen gehalten und von relevanten gesellschaftlichen Gruppen anerkannt werden“.[3]
Die damit skizzierte Perspektive liegt auch dem Sammelband zugrunde, der die documenta als ein Großereignis im Kunstfeld betrachtet. Das in der Einleitung vom Herausgeber Paul Buckermann formulierte Erkenntnisinteresse ist ein doppeltes: Zum einen geht es um das von der documenta hervorgebrachte Wissen, zum anderen um das gesellschaftliche Wissen über die documenta selbst. Darüber hinaus entfaltet Buckermann in seiner Hinführung die These, „dass epistemische Pluralität als Problem und Struktur einer ausdifferenzierten Gesellschaft sich an der documenta nicht nur analytisch adäquat zeigen lässt, sondern dass die documenta als Weltereignis der Kunst auch […] ganz praktisch eine gesellschaftliche Reflexion von epistemischen Konflikten provoziert“ (S. 8). Er charakterisiert die documenta damit als eine „besondere Kontaktzone“, weil sie – zumal als „Weltereignis“ – „vielfältige Kooperationen und Konflikte über symbolische und epistemische Grenzen hinweg verlässlich bindet“ (S. 16). Des Weiteren verweist Buckermann mit Niklas Luhmann auf die Funktion der Kunst, Kontingenz vorzuführen und sichtbar zu machen, was auf die „reale Realität“ (Luhmann) ausstrahle und Rückkopplungen erzeuge.
Die Beiträge versammeln verschiedene Zugänge sowie zahlreiche mit ihnen verknüpfte Fragen und Erkenntnisinteressen. Dabei stehen zuweilen einzelne documenta-Ausstellungen im Vordergrund, häufiger handelt es sich jedoch um vergleichende Betrachtungen. Die von Buckermann als zentral ausgewiesenen Begriffe Wissen, Ereignis und Geltung erhalten dabei in den Beiträgen ein jeweils unterschiedliches Gewicht.
Zu den in theoretischer Hinsicht stärksten Texten zählen der Artikel von Christine Magerski und ihrem Coautor David Roberts sowie ein Text von Cornelia Bohn. Magerski und Roberts diskutieren das Konzept der documenta fifteen, die kurz vor Erscheinen des Sammelbandes offiziell eröffnet wurde. Ausgangspunkt ihrer Abhandlung sind die europäischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die Kunst als Motor gesamtgesellschaftlichen Wandels verstanden wissen wollten. Magerski und Roberts vertreten in ihrem ausgesprochen klugen und gedankenreichen Essay die These, dass sich die Möglichkeiten formal-ästhetischer Innovation schon seit den 1920er-Jahren nahezu erschöpft hätten. Seitdem gehe es vor allem darum, die neue Themen zu erschließen und andere inhaltliche Möglichkeiten zu erproben, wie man an der documenta fifteen (erneut) sehen könne. Die documenta und ihre Geschichte zeige exemplarisch, wie die Kunst den nach inhaltlicher Innovation strebenden Avantgardismus ritualisiert habe (S. 44). Mit dieser Einschätzung bestätigen Magerski und Roberts die vom Herausgeber behauptete „Stellvertreterposition“ (S. 19) der documenta für das gesamte Kunstfeld. Sie erweise sich als ein „transästhetisches Museum“ (S. 58) par excellence, das einer sich ihres „transitiven Moments bewusste, sich gezielt der Vergesellschaftung öffnende Kunst“ Platz biete. Zugleich fragen die Autor:innen rhetorisch-kritisch nach den Kosten eines solchen „social turn“ (S. 55) der Kunst.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Prominenz ereignisbasierter Sozialtheorien und dem Aufstieg des Konzepts der Gegenwartskunst und dessen „Insistieren auf der Ereignishaftigkeit des Kunstwerkes“ (S 69).
Cornelia Bohn nähert sich der documenta aus einer zeittheoretischen Perspektive, die sich nicht nur, aber doch maßgeblich am Gerüst der Systemtheorie orientiert. Ihr zufolge besteht ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Prominenz ereignisbasierter Sozialtheorien (wofür die Systemtheorie Luhmanns das beste Beispiel ist) und dem Aufstieg des Konzepts der Gegenwartskunst und dessen „Insistieren auf der Ereignishaftigkeit des Kunstwerkes“ (S 69). Dies könne man an der Geschichte der documenta nachvollziehen, wie die Autorin anhand diverser Exempel verdeutlicht. Auch bei Bohn zeigt sich also die Beispielhaftigkeit des Kunst(groß)ereignisses documenta für das Kunstfeld allgemein. Darüber hinaus entfaltet Bohn in ihrem Text theoretische Überlegungen zum Ereignisbegriff und zu Geltungsfragen, die weit über die documenta als konkretem Gegenstand hinausreichen.
Daneben gibt es eine Reihe von Beiträgen, deren Abstraktionsgrade geringer ausfallen, insofern sie sich mit konkreten Entwicklungen innerhalb der documenta auseinandersetzen. Die jeweiligen Autor:innen markieren dabei deutlich ihre eigenen gesellschafts- und kunstpolitischen Positionen: Kathrin Peters rekonstruiert die Geschichte der documenta aus queerfeministischer Perspektive, Katja Hoffmann und Sebastian Lemme nehmen in ihren Beiträgen eine postkoloniale Perspektive ein. In solch spezifischen Analyseeinstellungen haben bestimmte documenta-Ausgaben ‚versagt‘, während andere ‚vorbildlich‘ beziehungsweise ‚fortschrittlich‘ erscheinen.
Noch näher am Gegenstand bewegt sich Nanne Buurman in ihrem Beitrag. Im Unterschied zu den vorgenannten Autor:innen betrachtet sie verschiedene documenta-Ausgaben aus der autobiografischen Perspektive einer seit Jahren involvierten Kuratorin, Kunstvermittlerin und Autorin. Das eröffnet neben Einsichten in ihre professionelle Sozialisation auch einen interessanten Blick auf die „Hinterbühne“ (Erving Goffman) der documenta mit ihren Arbeitsbedingungen, organisatorischen Entwicklungen und Nebenprojekten sowie vielschichtigen Formen des Ein- und Ausschlusses. Auch Buurman nimmt dabei macht-, repräsentations- und institutionskritische Positionen ein, wie sie die entsprechenden studis (gender, race, postcolonial etc.) nahelegen (S. 197).
Marie Rosenkranz interessiert sich für die Präsenz des Politischen in den documenta-Ausstellungen der letzten Jahre, wobei sie auch grundsätzlich nach dem Verhältnis von Kunst, Politik und Wissen in der Geschichte der documenta fragt. Die Autorin beginnt mit der Feststellung, dass der documenta schon immer eine politische Dimension eingeschrieben war, denn auch Kunst sei „ein westliches und somit politisch aufgeladenes Konzept, das Wissenssysteme hierarchisch ordnet“ (S. 167) und selbstverständlich Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Krisen herstellt. Hierauf aufbauend zeichnet sie anhand exemplarischer Analysen den qualitativen Wandel der so verstandenen politischen Dimension der documenta nach. Die zunehmende Relevanz des Politischen führt sie auf eine allgemeine Politisierung des Wissensbegriffs zurück, für die im Übrigen aus Sicht der Rezensentin auch die oben genannten Beiträge von Peters, Hoffmann und Lemme einschlägige Beispiele wären.
„Die historische Dynamik der documenta mit ihrem Anspruch, der globalen Gegenwart gerecht zu werden, löst die Ausstellung in der globalen Gegenwart auf.“ (S. 23)
Angesichts der Wahl eines Teams an Kurator:innen für die documenta fifteen fragt Séverine Marguin in ihrem Beitrag, welchen Stellenwert das Kollektivprinzip in der bisherigen Geschichte der documenta hatte. Anhand einer eingehenden Analyse von Daten aus dem documenta-Archiv kann sie zeigen, dass diesem Prinzip fast durchweg nur eine marginale Bedeutung in der documenta zukam. Sophia Prinz schließlich sieht die documenta als Großausstellung aufgrund interner Aporien an ihr Ende gekommen und diagnostiziert erste Tendenzen der Auflösung: „Die historische Dynamik der documenta mit ihrem Anspruch, der globalen Gegenwart gerecht zu werden, löst die Ausstellung in der globalen Gegenwart auf“ (S. 23), so Prinz.
Das Spannungsfeld zwischen Affirmation und Kritik, in dem sich alle Artikel bewegen, kommt in den Beiträgen von Michael Hutter, Steffen Sigmund und Aleksandra Barjaktarević sowie von Cheryce von Xylander und Ulf Wuggenig am deutlichsten zum Tragen. Hutter greift in seinem Aufsatz den Begriff der Geltung auf, indem er „Geltungsschübe“ (S. 28) in der Geschichte der documenta identifiziert. Ihm zufolge gab es drei Phasen, die aus jeweils ein bis zwei documenta-Ausstellungen bestehen und in denen sich die Ausstellung zu einem Weltkunstereignis mauserte. Als Indikatoren dienen Hutter neben Budgethöhe und Publikumszahlen auch und vor allem die öffentlichen Kontroversen um die jeweilige Ausstellung – inklusive der damit einhergehenden Bewertungen.
Auch der Beitrag von Sigmund und Barjaktarević rekonstruiert die Entwicklung der documenta in erster Linie als eine Erfolgsgeschichte. Die Kunstschau sei eine Institution, der es nicht nur gelinge, „verschiedene Interessen und Vorstellungen von der Demokratie und der Kunst zu verknüpfen, sondern darüber hinaus auch demokratische Wertvorstellungen zu etablieren und zu legitimieren, die weit über die faktischen Besucher:innen hinaus gesellschaftliche Wirkung erzielten“ (S. 218).
Xylander und Wuggenig hingegen steigen mit einer deutlichen Krisendiagnose in ihren Beitrag ein und attestieren der documenta einen anhaltenden Legitimitätsverlust. Im weiteren Verlauf konzentrieren sich die Autor:innen vor allem auf Josef Beuys, der – posthum zum documenta-Künstler schlechthin stilisiert (S. 134) – auf fehlgeleitete Weise rezipiert werde. Beuys habe sich weltanschaulich nicht nur an Anthroposophie und Esoterik orientiert, sondern auch an sexistischen und offen nationalistischen Vordenkern; ungeachtet dessen sei er heute vor allem in links-alternativen Publikumsschichten anerkannt. Diese ‚Fehlleistung‘ scheint ihnen paradigmatisch für eine ganze Reihe weiterer Defizite und Probleme, an denen die documenta kranke. Ja, mehr noch: Im Sinne eines unbewältigten Erbes sei der lange Schatten Beuys’ maßgeblich verantwortlich für die aus Sicht der Autor:innen problematischen Entwicklungen. Diese Erkenntnis wiegt umso schwerer, da sie die documenta als „deutsches Besinnungsinstrument par excellence“ verstehen, „mittels dessen nationale Deutungshoheit in Fragen ästhetischer Wertigkeit – und damit, implizit, auch ethischer Stellungnahme – artikuliert und verbreitet“ werde (S. 152).
Das von Buckermann herausgegebene Buch enthält nicht nur eine Fülle von Erkenntnissen über und Einblicken in die Kunstgroßschau namens documenta. Es führt auch auf zuweilen geradezu drastische Weise vor Augen, wie unterschiedlich die Einschätzungen und Bewertungen ausfallen – je nach Erkenntnisinteresse und theoretischem Hintergrund. Man verliert zwischendurch die Gewissheit, es stehe dabei immer die gleiche Kunstinstitution im Zentrum der Analysen. Angesichts dieser disparaten Lage wäre ein Nachwort hilfreich gewesen. Überhaupt drängt sich nicht unbedingt der Eindruck auf, es habe hier ein ausgeklügeltes herausgeberisches Konzept vorgelegen. Miteinander korrespondierende oder mit Gewinn gegeneinander argumentierende Beiträge müssen sich die Lesenden (so auch die Rezensentin) selbst zusammensuchen. Ein wenig mehr kuratorischer Ehrgeiz hätte dem Buch gut getan.
Fußnoten
- Er wurde im Juli 2022 publiziert, also vor der kontroversen Debatte um Antisemitismus, die sich im Sommer und Herbst desselben Jahres an der documenta fifteen entzündete.
- Siehe https://wissensgeltung.hypotheses.org/ [22.1.2023].
- Siehe https://wissensgeltung.hypotheses.org/ueber-das-trn [22.1.2023].
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Epistemologien Kunst / Ästhetik
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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