Kai Eric Berghoff | Veranstaltungsbericht |

Zwischen De- und Re-Nationalisierung. Soziale Sicherung in Zeiten europäischer Krisen

Gemeinsame Jahrestagung der Sektionen Sozialpolitik und Europasoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Europa-Universität Flensburg, 1.– 2. Oktober 2015

Die von Monika Eigmüller (Flensburg) und Thilo Fehmel (Leipzig) organisierte Jahrestagung widmete sich insbesondere zwei Fragestellungen. Erstens: Wie beeinflussen die Krisen im europäischen Raum die Geschlossenheit oder Offenheit der Systeme sozialer Sicherheit? Zweitens: Welche Wandlungsprozesse wurden durch die Krisen auf der Ebene sozialer Sicherung sowie der Sozialstruktur ausgelöst? Die Relevanz der Auseinandersetzung mit diesen Themen ergibt sich aus der Beobachtung, dass der im Rahmen der Krisen stärker werdende Einfluss europäischer Institutionen teils massive Umbrüche in den sozialen Sicherungssystemen der Nationalstaaten mit sich bringt. Gleichzeitig lässt sich aber feststellen, dass die Legitimitätskrise der EU größere Spielräume für nationale Entscheidungen eröffnet. Aus der jeweiligen Betroffenheit von Europaforschung und Sozialpolitikforschung von dieser so skizzierten Gemengelage erklärt sich, so Monika Eigmüller in ihrem einleitenden Referat, die Motivation, die Jahrestagungen der Sektionen für Europasoziologie und Sozialpolitik erstmals gemeinsam durchzuführen. Wie Eigmüller hervorhob – und damit begann die eigentliche Konferenz –, waren es die Arbeiten von Stephan Leibfried gewesen, die bereits Mitte der 1990er-Jahre auf ein europäisches Verständnis der Sozialpolitik abgezielt hatten und so dieses Forschungsfeld überhaupt erst auf den Weg brachten.

Eröffnet wurde die Konferenz folgerichtig durch STEPHAN LEIBFRIED (Bremen), der sich in seinem Vortrag mit dem umstrittenen Vertragswerk „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, kurz TTIP, befasste. Im Zentrum stand hierbei die Frage, welche Gewinner und Verlierer TTIP im Hinblick auf die Verteilung von Wohlstand hervorbringt. Laut Leibfried profitieren insbesondere die Oberschichten von der Vereinbarung, während die Unterschichten nicht mit positiven Effekten rechnen könnten. Er plädierte deshalb dafür, die Ratifizierung von Freihandelsabkommen mit dem Ausbau von Sozialschutzsystemen zu verknüpfen. Für den europäischen Raum schlägt Leibfried unter anderem eine europäische Arbeitslosenversicherung sowie stärkere bildungspolitische Anstrengungen vor.

Anschließend untersuchte CHARLOTTE GAITANIDES (Flensburg) Solidarität in der Währungsunion aus juristischer Perspektive. Dabei stellte sie heraus, dass der Gedanke der Solidarität Grundlage jedes Einigungsschrittes in Europa gewesen sei, weshalb auch im Rahmen des fiskalischen Handelns auf das Solidarprinzip rekurriert werde. Schließlich stehe eine einheitliche und verrechtlichte Fiskalpolitik auf der europäischen Ebene noch aus, sodass der Gedanke der Solidarität momentan den einzigen Ankerpunkt für eine gemeinsame Fiskalpolitik bilde. Eine wichtige Erkenntnis sei zudem, dass solidarisches Handeln im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verwirklicht werde und dieser daher als „Solidaritätsinstrument“ angesehen werden könne.

Nach diesen beiden Eröffnungsvorträgen ging es im ersten Panel um „Theorie(n) der Krisendynamik“. MAURIZIO BACH (Passau) beschäftigte sich zunächst mit der Frage, ob die neuerlichen Krisen Europas weitere Integrationsprozesse in Gang setzen. Ganz im Gegenteil seien aber die üblichen Mechanismen zum Beispiel der Konsensfindung durch das Agieren der Europäischen Union ausgehebelt worden. Zudem betonte er, die Krisen sowie die als ihre Lösung propagierte Austeritätspolitik würden einerseits eine Nord-Süd-Spaltung Europas und andererseits negative sozialstrukturelle Folgen hervorbringen, die ebenfalls einer intensiveren Europäisierung im Weg stünden.

CHRISTIAN LAHUSEN (Siegen) befasste sich in seinem Vortrag mit transnationaler Solidarität im europäischen Raum, indem er den theoretischen Rahmen und Annahmen aus einem neu anlaufenden Forschungsprojekt vorstellte. Dabei betonte er, sein Fokus liege auf transnationaler Solidarität der horizontalen Ebene, also zivilgesellschaftlichen Formen, zu denen noch Forschungsbedarf bestehe. Die bisher markierten konflikt- und modernisierungstheoretischen Positionen zu diesem Thema seien nicht ausreichend festgeklopft, als dass man sich dem Forschungsgegenstand angemessen nähern könne. Die europäische Zivilgesellschaft, konstatierte Lahusen, kennzeichne gegenwärtig ein hohes Maß an Fragmentierung sowie an kompetitiven und konfliktiven Beziehungen einzelner Akteure zueinander. Zudem könne Solidarität nur themen- und trägerspezifisch mobilisiert werden.

Im letzten Beitrag dieses Panels befasste sich NIKOLA TIETZE (Hamburg) mit Ungleichheitskonflikten in Europa und den Folgen der verstärkten Europäisierung. Dabei definierte sie Ungleichheitskonflikte als Situationen, in denen Ungerechtigkeitsphänomene von der Gesellschaft thematisiert werden. Europäisierungsprozesse, so Tietze, tangieren insbesondere solche Ungleichheitskonflikte, die sich auf die Verteilung von Gütern oder auf den Zugang zu Sozialleistungen beziehen. Ihre Schlussfolgerung lautete, dass die Europäisierung Ungleichheitskonflikte zunehmend dynamisiere, obschon der nationale Rahmen weiterhin letztlich den Ausschlag gebe.

Das zweite Panel behandelte die Griechenlandkrise unter dem Gesichtspunkt institutioneller Dynamik der Sozialpolitik. ALEXANDRA KAASCH (Bielefeld) setzte sich in ihrem Beitrag damit auseinander, wie die OECD-Staaten sowohl historisch als auch aktuell sozialpolitisch agiert haben und welche Ideen dabei auf inter-, trans- und supranationaler Ebene ausgetauscht wurden. Ein zentrales Ergebnis ihrer Forschung besteht darin, dass sich die Krisenreaktionen in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 vom Verhalten in früheren Situationen unterscheiden, insbesondere in zweierlei Hinsicht: Erstens würden sich internationale Organisationen inzwischen relativ früh und umfassend einschalten. Zweitens zeige sich, dass deren Empfehlungen vor allem auf einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates setzen würden, statt sich wie früher auf Austeritätspolitiken zu verlassen. Aktuell sei jedoch eine Überlagerung sozialpolitischer Diskussionen durch andere Krisen, wie zum Beispiel die Flüchtlingskrise, zu beobachten.

JENNY PREUNKERT (Leipzig) ging anschließend der Frage nach, ob die Arbeitslosigkeit in der aktuellen Krise in sechzehn ausgewählten EU-Staaten als europäisches oder nationales Problem gesehen wird. Ihre empirische Untersuchung habe zunächst ergeben, dass in den meisten Ländern, mit Ausnahme von Griechenland und Spanien, Arbeitslosigkeit immer stärker als gesamteuropäische Herausforderung wahrgenommen werde. Zudem sei in einem Zeitvergleich ermittelt worden, dass im Jahre 2010 der Kampf gegen Arbeitslosigkeit besonders in den von Arbeitslosigkeit stärker betroffenen Ländern als europäische Aufgabe gegolten habe. Dies hätte sich im Jahr 2014 geändert, da nun insbesondere die Zugehörigkeit zum sozialdemokratischen beziehungsweise links-alternativen Lager ausschlaggebend geworden seien.

Im dritten Panel wurden die Auswirkungen der Krise auf die Regulierungen am Arbeitsmarkt untersucht. VERA GLASSNER (Linz) machte den Anfang, indem sie sich mit der Frage auseinandersetzte, inwiefern Gewerkschaften und Eurobetriebsräte während der Krise Kooperationsbeziehungen schaffen und aufrechterhalten konnten. Hierzu ging sie anhand zweier Fallstudien auf die Arbeitsbeziehungen im VW-Konzern und bei GME/GM-Opel ein. Ihre Befunde ergaben, dass die Arbeitsbeziehungen im VW-Konzern von der wirtschaftlichen Situation kaum tangiert worden seien, sodass nach wie vor ein hohes Maß an transnationaler Kooperation vorliege. Bei GME/GM-Opel hingegen habe transnationale Kooperation zwar ebenfalls noch einen hohen Stellenwert, es seien seit der Krise aber auch Erosionstendenzen feststellbar.

TORSTEN MÜLLER (Brüssel) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit den Auswirkungen des Handelns europäischer Akteure auf die Lohnentwicklung sowie die Tarifsysteme der Länder Europas. Die Hintergrundfolie für seine Ausführungen bildete die Annahme, es existiere ein neuer europäischer Interventionismus im Geiste der New Economic Governance. Dieser zeichne sich durch eine Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die europäische Ebene, eine Stärkung der Exekutivorgane gegenüber der Legislative und eine einseitige inhaltliche Ausrichtung auf Austerität sowie strukturelle Reformen aus. Insgesamt führe dies auf der Ebene der Tarifpolitik sowohl zur Aushöhlung (über-)sektoraler Tarifverträge als auch zu einem Rückgang der tariflichen Abdeckungsrate, was eine negative Lohnentwicklung zur Folge habe.

Das vierte Panel drehte sich im Kern um die Frage, inwiefern sich im Zuge der Krise eine Europäisierung der Solidarbeziehungen feststellen lässt. Thematisch wurde es durch JOCHEN ROOSE (Wroclaw) eröffnet, der sich damit beschäftigte, wie im Rahmen der Krise Verantwortlichkeiten in Deutschland und Griechenland bestimmten Akteuren zugeschrieben werden. Die vorgestellten Ergebnisse beruhen auf einer Inhaltsanalyse von drei griechischen und drei deutschen Zeitungen aus dem Zeitraum von 2009 bis 2013. Auf dieser Grundlage zeige sich, dass die Zuschreibung von Verantwortung in Deutschland stärker europäisiert werde als in Griechenland, wo der Diskurs eher national geprägt sei.

HOLGER LENGFELD (Leipzig) diskutierte schließlich die Einstellungen der europäischen Bevölkerung zu fiskalpolitisch motivierten Hilfsleistungen. Dazu hatte er Daten des Eurobarometers und des Surveys „Fiscal Solidarity in the European Union“ ausgewertet und die Befunde mittels relativer Häufigkeiten und Mehrebenenanalyse dargestellt. Zwei zentrale Resultate konnten auf dieser Grundlage ermittelt werden: Erstens werde deutlich, dass 54 Prozent aller Bürger Europas sowie die Mehrheit der nationalen Bevölkerung in 17 von 27 Ländern fiskalischen Hilfen befürworten, sodass vom Vorhandensein europäischer Solidarität durchaus gesprochen werden könne. Allerdings würden die Daten unter anderem auch belegen, dass die Einwohner mittel- und osteuropäischer Staaten mit Ausnahme der Polen eher eine Verweigerungshaltung gegenüber Bail-Outs an den Tag legen würden.

In der Gesamtschau kann die Tagung als sehr gelungen gelten, da die vorgestellten Beiträge Europa- und Sozialpolitik aus unterschiedlichsten theoretischen wie empirischen Perspektiven betrachtet und damit den Facettenreichtum dieser beiden Themengebiete hervorgehoben haben. Da auch aktuelle Forschungsvorhaben vorgestellt wurden, bot die Tagung zudem auch ein Forum zur Diskussion. Insbesondere zwei forschungsrelevante Aspekte sollten betont werden. Erstens hat die Tagung gezeigt, dass die Beschäftigung mit den Themenbereichen Europa und Sozialpolitik aus sozialwissenschaftlicher Sicht nach wie vor aktuell und relevant ist, was sich auch in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise äußert. Zweitens ist die Konferenz als Plädoyer für die stärkere Vernetzung von Europa- und Sozialpolitikforschung zu verstehen, welche meines Erachtens in den Sozialwissenschaften teilweise noch zu kurz kommt. Die Veranstaltung hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass zwischen beiden Feldern Interdependenzen bestehen.

Konferenzübersicht:

Einführung

Monika Eigmüller (Flensburg) / Thilo Fehmel (Leipzig), Soziale Sicherung in Zeiten europäischer Krisen

Eröffnung

Stephan Leibfried (Bremen), TTIP: Von Gewinnern und Verlierern – Zur Einschätzung von Handelsabkommen, die fast die ganze OECD-Welt und 40 Prozent des Welthandels betreffen

Charlotte Gaitanides (Flensburg), Solidarität in der Währungsunion? – Rechtsrahmen und Rechtswirklichkeit

Panel I (Theorie(en) der Krisendynamik)

Maurizio Bach (Passau), Gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union

Christian Lahusen (Siegen), Transnationale Solidarität in Europa. Konzepte, Annahmen, Befunde

Nikola Tietze (Hamburg), ‚Jenseits von Klasse und Nation‘ – Ungleichheitskonflikte in Europa

Panel II (Krise und institutionelle Dynamik der Sozialpolitik)

Alexandra Kaasch (Bielefeld), Transnationaler sozialpolitischer Ideenwandel als Krisenreaktion

Jenny Preunkert (Leipzig) / Christian Reimann (Cottbus), Arbeitslosigkeit – europäische Herausforderung oder nationales Problem? Problemwahrnehmungen der Bevölkerung in der aktuellen Krise

Panel III (Krise und Wandel der Arbeitsmarktregulierung)

Vera Glassner (Linz), Transnationale Solidarität im Feld der Arbeitsbeziehungen

Torsten Müller (Brüssel), Ein neuer europäischer Interventionismus? Auswirkungen der Krisen-Governance auf Löhne und Tarifpolitik

Panel IV (Europäisierte Solidaritäten)

Jochen Roose (Wroclaw) / Moritz Sommer (Berlin)/ Franziska Scholl (Berlin), Wenn die Sozialpolitik an ihr Ende kommt. Verantwortungszuschreibung in der Eurozonenkrise in Deutschland und Griechenland

Holger Lengfeld (Leipzig) / Sara Schmidt (Hamburg) / Julia Häuberer (Hamburg), Transnationale Solidarität in Europa? Einstellungen zu fiskalischer Unterstützung für krisenbetroffene EU-Mitgliedsländer

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Europa Soziale Ungleichheit

Kai Eric Berghoff

Kai Eric Berghoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Soziologie (Institut für Gesellschaftswissenschaften und Theologie) der Europa-Universität Flensburg. Seine Interessenschwerpunkte sind die soziologische Ungleichheitsforschung, die Sozialpolitik Deutschlands und die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Außerdem befasst er sich mit migrationssoziologischen Themen.

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