Maurizio Bach | Rezension | 03.08.2021
Zwischen Kapitalismuskritik und Sozialromantik
Rezension zu „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“ von Wolfgang Streeck
Mit seinem neuesten Werk bietet Wolfgang Streeck seinen Lesern viele bereits aus früheren Publikationen bekannte Argumente, einige diskussionswürdige, aber auch manch fragwürdige These und Vorschlag. Sie alle kreisen um eine verschachtelte, teilweise weitläufige Analyse der Krise des Neoliberalismus, nach Streeck das Sinnbild des umfassenden Versagens des kapitalistischen Marktes, das Versprechen von Wohlstand und sozialen Fortschritt für die breite Masse der Gesellschaft einzulösen.
Alles andere als neu sind etwa die Thesen und Reformvorschläge zur europäischen Währungsunion. Diese gehört Streeck zufolge abgeschafft, um die Demokratie, den Wohlfahrtsstaat und die politisch-kulturelle Vielfalt der europäischen Gesellschaften, die auf die Institutionenordnung des demokratischen Nationalstaates angewiesen sind, zu retten. Man könnte ergänzen, der Euro gehörte nicht zuletzt aufgegeben, um den Kernbestand des europäischen Projekts, die Friedenssicherung und die Kooperationswilligkeit der Mitgliedstaaten zu bewahren, dies allerdings ohne supranationale Staatswerdung. Und Deutschland sollte sogar als erstes Mitgliedsland aus der Währungsunion austreten, um eine Neuorganisation des europäischen Währungssystems zu ermöglichen, etwa durch eine temporäre Etablierung eines Süd- und eines Nord-Euros, wobei sich über Abwertungen des ersten eine Neubalancierung des Gesamtsystems einstellen könnte. Diesen Punkt spricht Streeck aber in vorliegendem Buch gar nicht an, wohl weil er davon überzeugt ist, dass Deutschland weiterhin alles für den Erhalt des Euros tun wird, im Interesse der eigenen Exportindustrie und der nationalen Wohlstandssicherung. Das habe das Corona-„Wiederaufbauprogramm“ der EU nochmals gezeigt, das nach Streeck seine Konjunkturförderungs- und Konvergenzziele höchstwahrscheinlich zwar verfehlen wird, jedoch durch Stärkung der Regierungen Macrons und Draghis vorübergehend zum Erhalt des Euro beigetragen hat. Den höchsten Preis dafür zahlen freilich die südlichen und östlichen Peripherieländer, nicht zuletzt mit einem Rückbau des Wohlfahrtsstaates, einem Versagen des Gesundheitssystems (offensichtlich geworden in der Corona-Krise), einer Verarmung großer Teile der Bevölkerung und dergleichen gesellschaftliche Verwerfungen mehr.
Um Streecks Hauptargument nochmal zuzuspitzen: Die supranationale Zentralisierung der Währungskontrolle in der EZB gefährde das europäische Projekt mehr als es ihm nütze, weil es die Spaltung zwischen dem reichen ökonomischen Zentrum im Nordwesten Europas und der armen Peripherie des Südens und Ostens vertiefe und zementiere. Den wettbewerbsschwachen Mitgliedstaaten der Peripherie bleibe nämlich das einzige Instrument versagt, ihre Wachstumschancen effektiv zu verbessern und sich damit der Abhängigkeit von den starken Exportökonomien, allen voran Deutschlands, zu befreien: die Abwertung der eigenen Währung. Die Paradoxie des Euro-Systems habe sich denn auch in der Finanz- und Staatsschuldenkrise in aller Deutlichkeit gezeigt, als mit den Euro-Rettungsschirmen und den drakonischen Austeritätsauflagen die Abhängigkeiten der „Schuldenländer“ von Brüssel offen zutage getreten seien, was die Europaskepsis großer Teile der Bevölkerung verstärkt und mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen eine nationalistische Welle in Europa ausgelöst habe. Dieser Diagnose ist aus meiner Sicht nur zuzustimmen. Um sie nachzuvollziehen, muss man sich allerdings ein Stück weit von kosmopolitischen Illusionen und weltverbessernden Utopien lösen und sich die empirischen Indikatoren und Daten genauer ansehen, die Streeck in extenso vorlegt und interpretiert. Vor allem muss man sich klar machen, dass die Europäische Union mit ihrer währungs- und normengestützten hegemonialen Gesellschaftsordnung und politisch-bürokratischen Zentralisierung imperiale Ziele verfolgt, deren Hauptgefahr darin liegt, dass sie die historisch gewachsenen gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten und institutionell-demokratischen Ordnungen der Nationen Europas zerstört. Wie gesagt, all diese Befunde sind Wiederholungen von bereits bekannten Argumenten unseres Autors.
Nicht gänzlich neu, doch in vergleichbarer Ausführlichkeit und Pointierung bisher so nicht vorgetragen, sind dagegen Streecks Vorschläge für institutionelle Alternativen zum supranational-hegemonialen Integrationsmodell der Europäischen Union. Es läuft auf eine Rückholung der nationalen Souveränität hinaus, nicht nur in monetärer, sondern auch in wirtschaftlicher sowie politisch-gesellschaftlicher Hinsicht. Streeck plädiert für einen neuen nationalen Wirtschaftsprotektionismus in Verbindung mit einer Stärkung genossenschaftlicher Strukturen sowie basisdemokratischer Repräsentation. Wenig überraschend lugt dann allerdings in Gestalt von „regionalen Planungsgemeinschaften“ doch noch der alte Traum von der sozialistischen Planwirtschaft hervor. Damit sollen sich die lokalen und überschaubaren Kleingesellschaften mit ihren historisch gewachsenen kulturellen Besonderheiten sowie Selbstbestimmungsbestrebungen wieder stärker im politischen Prozess der demokratischen Interessenaggregation und Wertesynthese wiederfinden. Davon verspricht sich Streeck zudem, dass der Verselbständigung der „meritokratischen“ beziehungsweise „merkato-technokratische“ Eliten auf globaler Ebene entgegengewirkt werden könne. Dass auf diese Weise dem Rechtspopulismus das Wasser abgegraben werden soll, ist evident. Dennoch liegt auch der Einwand nahe, Streeck mache sich damit zumindest implizit nationalistische Positionen zu eigen. Derartige Bedenken wird er nicht so leicht entkräften können. Denn bei all seinen Bemühungen, die wirtschaftlichen und politischen Vorzüge „kleiner“, weniger komplexer sozialer Gebilde – lokale Gemeinschaften, „kleine Staaten“ etc. – theoretisch, ja sogar anthropologisch und sozialpsychologisch zu begründen, kann ihm die Kritik nicht erspart bleiben, er denke letztlich in Kategorien mehr oder weniger geschlossener und vor allem (ethnisch) homogener Gesellschaften. Dafür sprechen sowohl die vorgebrachten Argumente für eine Wiedererrichtung der territorialen Grenzen, als auch die ungeschminkte Reifikation nationaler Kollektividentitäten, denen Streeck geradezu eine Aura der condition humaine verleiht.
Von einer Rückholung der staatlichen Souveränität, einer Wiederherstellung der verlorengegangen Bindung der Politik an die nationale Gesellschaft und einer Reterritorialisierung und Einhegung der Märkte verspricht sich Streeck also, die vielbeklagten Deformationen der Demokratie wieder rückgängig machen zu können, insbesondere die „elito- und meritokratischen“ Entkopplungen vom Demos, der sozialen Basis. Das scheint mir allerdings mindestens in zweierlei Hinsicht eine fragwürdige Erwartung. Zum einen ist es doch etwas weit hergeholt, die zweifellos beobachtbaren substanziellen Ent-Demokratisierungsprozesse, insbesondere in Europa, primär als Effekte der Globalisierung und der institutionellen Europäisierung zu deuten. Wie wäre es mit einer weniger struktural-konspirativen Sichtweise und mit näherliegenden soziologischen Erklärungen? Dass die parlamentarische Demokratie in der Praxis stets von inhärenten Selbstgefährdungspotenzialen bedroht ist, gehört spätestens seit Max Weber, Robert Michels und Vilfredo Pareto zum Kanon der politischen Soziologie. Wider ihrem normativen Selbstverständnis (re-)produzieren Demokratien undemokratische Erscheinungen wie die Oligarchisierung der Führungsschichten, ihre Vereinnahmung durch Partikularinteressen, nicht-legitime Einflussnahmen „unsichtbarer Mächte“, Manifestationen ressentimentgeleiteter Wählerschichten, eine Verselbständigung und Entkopplung bürokratisch-technokratischer Instanzen sowie, last, not least, eine populistisch-charismatische Diktaturanfälligkeit. Wie jede Herrschaftsform hat es auch die institutionelle Demokratie in der Praxis mit eigendynamischen sozialen Prozessen zu tun, die das Versprechen der Selbstregierung der Regierten brechen, aushöhlen, verzerren, ins Gegenteil verkehren oder auch einfach nur ad absurdum führen. Solcherart nicht-intendierte und „perverse“ Effekte der gesellschaftlichen wie institutionellen Demokratisierung zu erklären, gehört seit jeher zu den Herausforderungen der politischen Soziologie. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist indes eine analytisch-theoretische Perspektive, die sich von der Illusion der rationalen Gestaltbarkeit der Gesellschaft löst und sich gegenüber kontingenten und überraschenden Wandlungsprozessen aufgeschlossen zeigt.
Zum anderen, und das ist mein zweiter Einwand gegen Streecks Demokratierettungsvorschläge, zielt auf diese normativ-rationalistische Dimension. Streeck kann auf diese Illusion wohl nicht verzichten, kämen andernfalls doch die epistemischen Fundamente seiner politischen Motive im engeren Sinne ins Wanken. Diese sind nicht frei von anachronistischer Sozialromantik und normativen Implikationen. Damit komme ich zu meinem letzten Kritikpunkt, der die Grenzüberschreitung zur Politikberatung betrifft. Wie gesagt, Streeck sucht explizit nach Auswegen aus der Krise des Neoliberalismus und entwickelt praktisch-politische Gestaltungsvorschläge. Diese weisen in die Richtung einer Rehabilitierung des geschlossenen und sozial homogenen Nationalstaates, in seinen Augen der einzige Garant für Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Obwohl zweifelsohne Vieles für letzteres spricht, liefe eine Renationalisierung, wie sie Streeck vorschwebt, doch darauf hinaus, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. Kann ein politisches Vergesellschaftungsmodelle von gestern die Probleme von heute und morgen lösen? Ich hätte da Zweifel, und zwar aus mehreren Gründen.
Ob Tendenzen, wie der in wohlhabenderen Kreisen beliebte Konsum lokaler Bioprodukte oder die Vermehrung von auf umweltpolitische Tugendhaftigkeit setzenden Stadtverwaltungen, tatsächlich in der Lage wären, jene sozialen Bewegungen hervorzubringen, die, wie Streeck es sich vorstellt, eine „moralische Erneuerung“ in seinem Sinne einleiten könnten, erscheint zweifelhaft. Es ist doch nicht zu übersehen, dass selbst für die militanten Lokalisten und Ökoaktivistinnen ein Leben ohne Smartphone, PC und Internet unvorstellbar ist. Ebenso wenig ist zu erwarten, dass die Giganten der Digitalindustrie, das internationale Großkapital und die Großmächte einem Rückbau der globalen Verflechtungen tatenlos zuschauen werden. Daran hat selbst die Corona-Krise kaum etwas geändert. Die Einschränkungen der internationalen Mobilität und Transaktionen, wie sie mit dem Herunterfahren des Flug- und Straßenverkehrs und der Unterbrechung der Lieferketten während der Lockdowns einhergegangen sind, zeigen kaum nachhaltige Effekte. Das hat uns die Pandemiepause in diesem Sommer 2021, in dem das vor-pandemische Mobilitäts- und wirtschaftlich Produktivitätsniveau schnell nahezu wieder hergestellt wurde, vor Augen geführt. Insofern spricht diese Entwicklung für eine beträchtliche Resilienz der kapitalistischen Wirtschaft, auch und gerade angesichts gesellschaftlicher und ökonomischer Krisen.
Darüber hinaus ist kaum vorzustellen, dass die globalen Verflechtungen, die ja nicht zuletzt auch eine höhere soziale Integrations- und Zivilisationsstufe -über die räumlich begrenzte und segregierte Staatsgesellschaft hinaus – verkörpern, wieder aufgelöst werden könnten. Dass epochale Entwicklungsschübe, wie sie mit der Globalisierung und Europäisierung einhergehen, selten reibungslos vonstatten gehen, sondern zumeist zusammen mit Konflikten, Stockungen, Widersprüchen, Ungleichzeitigkeiten und vielfältigen Rückschlägen auftreten, lehren uns die Diskontinuitäten des Zivilisationsprozesses. Diese Lektion gilt auch für die Staatlichkeit und die Demokratie, wie wir sie kennen. Ob die künftigen sozial-politischen Spannungsbalancen sich als Revival der früheren Kleinstaaten darstellen oder sich vielmehr gänzlich neuartige Konstellationen mit unerwarteten Dynamiken zeigen werden, ist heute nicht voraussehbar. In Anbetracht der voranschreitenden Digitalisierung der Sozialwelt ist wohl eher mit einer hybriden Symbiose zwischen virtueller E-Democracy und einer Art von übermächtiger staatlicher „Digitokratie“ zu rechnen. Eine solche Entwicklung könnte unser überkommenes Verständnis von Repräsentation und Regierung, Verfassung und Wohlfahrtsstaat fundamental in Frage stellen. Mit anderen Worten: Auch die demokratischen Verfassungsordnungen werden sich mit den weiteren sozialen Integrations- und Zivilisationsschüben voraussichtlich grundlegend verändern, was freilich immer auch Risiken für die Freiheit, soziale Sicherheit und politische Stabilität birgt. Dass aber eine Reterritorialisierung und Reformatierung in kleineren Maßstäben der Demokratie und der Gesellschaft im Sinne Streecks die einzig sinnvolle Lösung sein könnte, scheint mir keineswegs ausgemacht zu sein. Die Zukunft ist immer offen. Oder, um es mit Hegel zu sagen: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ ---
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Demokratie Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Politische Ökonomie
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