Kerstin Wolff | Essay |

Zwischen Klassenkampf und Frauenfrage

Robert Michels und Helene Stöcker über die Prostitution um 1900

In seiner Geschichte der Sexualwissenschaft macht Volkmar Sigusch deutlich, dass die Protagonisten und die wenigen Protagonistinnen dieser sich als neu verstehenden Wissenschaft um 1900 eine gut vernetzte Community bildeten, deren Mitglieder nicht nur durch gemeinsame Interessen und vielfältige Kooperationen miteinander verbunden waren, sondern auch durch wechselseitige Ablehnung und Kritik. Was den heterogenen Kreis von liberalen Intellektuellen, Ärzt:innen, Lebensreformer:innen und Frauenrechtler:innen einte, war der Versuch, die Gesellschaft zu reformieren und positive Veränderungen in dem von Tabus und Repressionen durchzogenen Bereich des Sexuallebens anzustoßen. „Aufklärung, Wissensvermehrung und Personalisierung sowie der Kampf gegen christliche Verdikte und bürgerliche Heuchelei, gegen Sexismus und die Unterdrückung sexueller Minderheiten“ – das waren die Kriterien, die für die moderne Sexualwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts ausschlaggebend waren.[1]

Zu diesem illustren Kreis gehörten auch die beiden hier im Zentrum stehenden Personen, der Soziologe Robert Michels und die Frauenrechtlerin und Publizistin Helene Stöcker.[2] Aufgrund von Briefen Helene Stöckers, die im Nachlass von Robert Michels gefunden wurden,[3] wissen wir, dass eine persönliche Bekanntschaft zwischen den beiden bestand. Die erhalten gebliebenen Briefe legen nahe, dass sich Robert Michels 1902 mit Manuskriptvorschlägen an Helene Stöcker wandte, die in diesem Jahr die Herausgeberinnenschaft der Frauen-Rundschau übernommen hatte und daher immer auf der Suche nach geeigneten Artikeln war. Da Michels, der vom Schreiben lebte,[4] seinerseits stets auf der Suche nach geeigneten Publikationsorten war, entwickelte sich aus dieser Bekanntschaft eine Arbeitsbeziehung, die ihre intensivste Phase zwischen 1902 und 1909 erlebte. Michels’ Mitarbeit an der Frauen-Rundschau beschränkte sich (nach bisherigem Kenntnisstand) auf gerade mal einen Artikel,[5] was allerdings auch daran lag, dass Stöcker die Leitung der Zeitschrift bereits nach kurzer Zeit wieder abgab, weil sie sich mit dem Verlag nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte.

So drückt sie bereits im ersten erhalten gebliebenen Brief an Michels vom 20. November 1902 ihre Hoffnung aus, dass er „auch der Zeitschrift in der neuen Form“ seine „Teilnahme und Mitarbeiterschaft zuwenden“ wolle.[6] Michels scheint dies zugesagt zu haben, sodass Stöcker bereits zwei Wochen nach ihrem ersten Brief erneut an Michels schrieb, um ihm ihre Vorstellungen von der Zusammenarbeit mitzuteilen. „Da ich hoffe, daß Sie ein ständiger Mitarbeiter werden, erlaube ich mir die Bitte, uns die Lektüre der Manuskripte durch handlichere Form der Blätter und deutlichere Schrift erleichtern zu wollen. Es ist eine ganz unmögliche Mühe, sich durch unleserliche Ms. durchzufinden; eine schnelle Erledigung wird dadurch bedeutend erschwert. Nicht wahr, Sie verzeihen die Bitte?“[7]

Bereits diese beiden kurzen Beispiele aus der Korrespondenz von Stöcker an Michels – die Antwortbriefe sind im Zuge von Stöckers erzwungener Flucht aus Deutschland im Jahr 1933 zerstört worden[8] – geben einen ersten Eindruck von dem Charakter der Arbeitsbeziehung, die vor allem darauf beruhte, dass Michels Manuskripte bei Stöcker zur Publikation einreichte. Nach Stöckers Abschied von der Frauen-Rundschau folgte der Autor der Herausgeberin und ihren diversen Zeitschriftenprojekten. So publizierte Michels nachweislich sowohl in der ab 1905 von Stöcker herausgegebenen Zeitschrift Mutterschutz als auch in der wenig später von ihr gegründeten Neuen Generation. Dabei waren keineswegs nur finanzielle Gründe ausschlaggebend für Michels’ Engagement, sondern auch das gemeinsame reformpolitische Interesse an moralischen und sexualpolitischen Fragestellungen. So unterstützte Michels nicht nur als Autor die Ziele des von Stöcker 1902 gegründeten „Bundes für Mutterschutz“, der es sich in seiner Satzung zum Ziel gesetzt hatte, „die Stellung der Frau als Mutter in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu verbessern“, sondern trat für den Bund auch wiederholt als Redner auf.[9]

Obwohl sich Stöcker und Michels mindestens zwei Mal auch privat trafen – 1904 in Marburg und ein paar Jahre später in Turin – und trotz Michels’ Einsatz für den „Bund für Mutterschutz“ verlor das persönliche Verhältnis nicht den Charakter einer reinen Arbeitsbeziehung.[10] Zwar veränderte sich der Ton in den Briefen und Stöcker ließ Michels’ Ehefrau, die ebenfalls publizierende Gisela Lindner, grüßen und erkundigte sich nach dem Befinden der Kinder, aber abgesehen von diesen üblichen Höflichkeiten kreisten die ausgetauschten Zeilen im Kern immer nur um berufliche Fragen, also um Manuskripte, Vorträge, Treffen.

Michels gehörte damit zu den Männern und Frauen um 1900, die Helene Stöckers sexualpolitische und sozialreformerische Arbeit öffentlich unterstützten, was ihn im Kaiserreich automatisch in eine bestimmte politische Ecke rückte. Ich betone diesen Umstand an dieser Stelle deshalb so explizit, weil mir die Nähe von Robert Michels zur bürgerlichen Frauenbewegung auch ein Grund dafür zu sein scheint, warum sein 1911 erschienenes Werk Die Grenzen der Geschlechtsmoral in seiner Bedeutung lange Zeit unterschätzt wurde. Sicher spielt hier vor allem seine Nichtzugehörigkeit zu den verschiedenen Lagern der sexualpolitischen Debatten seiner Zeit eine große Rolle, worauf unlängst Vincent Streichhahn hingewiesen hat.[11] Der Umstand aber, dass männlich dominierte Wissenschaftskreise – teilweise bis heute – Werke von Frauen oder aus einem frauenbewegten Kontext nicht oder nur unzureichend rezipieren, scheint mir ebenfalls ein Grund für die bis vor kurzem überaus einseitige, auf die Parteiensoziologie fixierte wissenschaftliche Rezeption von Robert Michels zu sein.

Im Folgenden möchte ich die beiden sexualpolitischen Protagonist:innen, Robert Michels und Helene Stöcker, näher betrachten und dabei vor allem auf inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingehen. Dafür werde ich die Artikel, die Michels bis zum Ersten Weltkrieg in den Zeitschriften Stöckers veröffentlichte, in Augenschein nehmen und exemplarisch mit Stöckers Positionen vergleichen. Thematisch konzentriere ich mich hierfür auf die Frage nach dem Umgang mit dem Problem der Prostitution, über das in der zeitgenössischen Diskussion besonders kontrovers gestritten wurde. Vielen Sexualreformer:innen ging es dabei nicht allein um die Prostitution, sondern darum, die gesamten sittlichen Grundlagen der Gesellschaft zu analysieren und zu verändern. Das Sprechen über Prostitution ermöglichte ein Sprechen über Sexualität, aber auch über Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnisse. Die Prostitution legte die bürgerliche Doppelmoral uneingeschränkt bloß. Neben dem Blick auf die polar gedachten Geschlechterrollen von Männern und Frauen[12] richtete es die Aufmerksamkeit zudem auf die Ungleichverteilung finanzieller Ressourcen sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Klassen. Aufgrund seiner vielen Anknüpfungspunkte war das Thema häufig Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftskritik, so auch bei Helene Stöcker und bei Robert Michels. Im Folgenden möchte ich die Einschätzungen von Stöcker und Michels zur Prostitution analysieren und untersuchen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich dabei zeigen.

Der „Bund für Mutterschutz“ und Helene Stöckers Kampf für eine Neue Ethik

Als Basis ihrer Arbeit gründete Helene Stöcker 1905 in Berlin den „Bund für Mutterschutz“, der sich durch ein sehr breites Programm auszeichnete, das unter dem Titel einer Neuen Ethik firmierte. Die Hochphase der von Stöcker initiierten sexual- und sozialpolitischen Reformanstrengungen zur Verwirklichung der Neuen Ethik erstreckte sich von der Gründung des Vereins bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. In diesen knapp zehn Jahren entwickelte und publizierte Stöcker ihre inhaltlichen Überzeugungen. Zwar hat sie die von ihr propagierte Neue Ethik leider nie in einer zusammenhängenden Schrift dargelegt und veröffentlicht, doch finden sich sowohl in der Zeitschrift Mutterschutz als auch in deren Nachfolgerin Die Neue Generation viele programmatische Artikel, die zusammenfassen, welche Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter sich Helene Stöcker vorstellte. Bereits im allerersten Artikel formuliert sie die Grundgedanken der Neuen Ethik: Sie konstatiert, dass „über das Wesen der neuen Ethik“ noch „nichts Endgültiges, Festes“ feststehe, aber das, was sie dann im Folgenden entfaltet, wird im Kern bereits ihr Programm für die nächsten Jahre sein: „Was wir schon von der neuen Ethik wissen, das ist, dass ihr Wesen nicht in düsterer Lebensentsagung und Verneinung bestehen kann, ebenso wenig natürlich in roher, genusssüchtiger Willkür, sondern in freudiger Bejahung des Lebens und all seiner gesunden Kräfte und Antriebe.“[13]

Auf das (sexuelle) Leben bezogen bedeutete das für Stöcker, dass der Sexualtrieb positiv aufgefasst werden müsse, dass koedukative Schulen eingeführt werden sollten, damit Jungen und Mädchen von Anfang an gemeinsam miteinander aufwachsen können, und dass das (sexuelle) Verhältnis zwischen Männern und Frauen neu gedacht werden müsse. Zur Verwirklichung dieser Ziele setzte sie in erster Linie auf die Gleichberechtigung und die berufliche Gleichstellung der Frau: „Wenn Mann und Frau beide zu einem Berufe erzogen werden, der sie pekuniär unabhängig voneinander macht, dann kann erst das sittliche Verhältnis zwischen ihnen die rechte Weihe erhalten.“[14] Als die wichtigste Verbindung zwischen Mann und Frau betrachtete Stöcker das Kind. Es könne nicht sein, so Stöcker, dass „man die Menschen aus falschen Sittlichkeitsbegriffen um die köstlichsten Lebensgüter: um Gesundheit und Jugend, um die herrliche Gabe der Liebe ohne böses Gewissen, um die Freude an dem Besitz von Kindern betrügt“.[15] Ein Kind zu bekommen, sollte „in Zeiten körperlicher und seelischer Kraft und Harmonie“ angestrebt werden, „in denen die Eltern ihr Leben über sich hinaus in einem andern zu verewigen wünschen“, die bürgerliche Ehe sei dafür keine notwendige Voraussetzung, im Gegenteil.[16] Um dieses hehre Ideal verwirklichen zu können, plädiert Stöcker für eine konsequente Trennung zwischen „sexuellem Leben“ und finanzieller Lebenssicherung, unter anderem durch die Einführung einer staatlichen Mutterschaftsversicherung. Unter dieser verstand sie eine „reichsgesetzliche Mutterschafts-Versicherung […] deren Kosten am besten durch Beiträge beider Geschlechter sowie durch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln aufzubringen wären. Diese Versicherung muss aber nicht nur der Mutter zureichende ärztliche Hilfe und sachkundige Pflege während der Schwangerschaft und des Wochenbettes gewährleisten, sondern auch weiter die Erziehung des Kindes bis zu dessen eigener Erwerbstätigkeit sicherstellen.“[17] Mit dieser Idee, die der „Bund für Mutterschutz“ auch in seinem ersten Flugblatt vorstellte, wollte Stöcker die Verantwortung für unehelich geborene Kinder sozialisieren. Für den jeweiligen Vater sollte hier ‚Vater Staat‘ einspringen. Es sind diese Ideen, die Stöcker später in zwei Begriffe fasst: Neue Ethik, verstanden als „Bekenntnis zu einer Moral der persönlichen Verantwortlichkeit, insbesondere auf sexuellem Gebiet“, und Mutterschutz als „Arbeit und Fürsorge für Mutter und Kind, für Hebung der Rasse, für die kommende Generation als die Konsequenz dieser Erkenntnis, dieser Verantwortlichkeit.“[18]

Ebenso wenig wie ihre Neue Ethik hat Stöcker auch ihre Überlegungen zum Umgang mit dem Problem der Prostitution in einer zusammenhängenden Schrift veröffentlicht. Allerdings finden sich in den von ihr herausgegebenen Zeitschriften auch zu diesem Thema zahlreiche Artikel, die verschiedene Aspekte der Problematik umkreisen. Anhand von fünf ausgewählten Artikeln aus den Jahren 1905, 1909, 1911, 1912 und 1913 möchte ich im nächsten Abschnitt darlegen, welche Ursachen Stöcker für die Prostitution verantwortlich machte und welche Gegenmaßnahmen sie vorschlug.

Die Prostitutionsproblematik um 1900

Stöcker zeichnet in ihren Artikeln das Bild einer Gesellschaft, die durch starre moralische und juristische Regelungen das Ausleben der menschlichen Sexualität allein auf die Ehe beschränkt hat. Nur hier solle sowohl sexuelle Befriedigung als auch die Zeugung von Kindern stattfinden. Dieses Ideal würde aber an der gesellschaftlichen Realität scheitern, in der das frühzeitige Eingehen einer Liebesheirat aufgrund der mangelnden finanziellen Grundlage zumeist nicht möglich sei. Von den Liebenden werde erwartet, so lange keusch zu leben, bis eine Eheschließung möglich sei. Diese Erwartung sei jedoch zutiefst unrealistisch. Faktisch, so Stöcker, würden viele Männer Prostitution in Anspruch nehmen, um ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, während die Frauen in verschiedene Wesen aufgespalten würden. „So musste die eine Frau zur Dirne, die andere zum bezahlten Verhältnis, die andere zur strengen Asketin werden, um sich für eine Ehe mit diesem Manne ‚rein genug‘ zu erhalten.“[19] Dieser Sumpf „sexueller Verwahrlosung“[20] würde vom Staat nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt, indem er „insgeheim für gute Prostitutionsware“ sorge und „die Steuern aus dem ‚Gewerbe‘ der Prostitution ruhig unter die rechtlichen Einnahmen des Staates“ zähle.[21] Stöcker betonte in ihren Aufsätzen immer wieder die enge Verknüpfung von Abstinenz und Prostitution. Da sie davon ausging, dass eine keusche Lebensweise unrealistisch sei, bliebe (für den Mann) nur die Prostitution. Anders als etliche zeitgenössische Mediziner oder Vertreter christlicher Kirchen, die in langen Abhandlungen und Untersuchungen darlegten, dass ein enthaltsames Leben auch für einen Durchschnittsmann nicht gesundheitsgefährdend sei – eine Ansicht, die übrigens von genauso vielen Medizinern und Sexualwissenschaftlern immer wieder in Zweifel gezogen wurde[22] –, richtete Stöcker den Blick auf das andere Geschlecht und fragte zum ersten Mal nach den Folgen eines sexuell enthaltsamen Lebens für Frauen. Eine Frage, die bis dato gar nicht gestellt wurde, galten Frauen doch als asexuelles Geschlecht, dessen Sexualtrieb erst durch den Mann geweckt werden müsse.

Stöcker führte aus, dass ein enthaltsames Leben für Frauen gesellschaftlich wesentlich schwerwiegender sei als für Männer, weil „nicht bloß die verwehrte Geschlechtsbefriedigung als solche, sondern in bedeutend höherem Grade der unbefriedigte Drang nach Mutterschaft, die Kindersehnsucht, als ursächliches Moment körperlicher und seelischer Schädigung wesentlich in Betracht kommt“.[23] Die gesellschaftlich aufgezwungene Ehelosigkeit zeitige also gleich zwei negative Folgen: Die Kinderlosigkeit der Frau und die Prostitutionsnutzung des Mannes. Durch die Prostitution werde „eine Gruppe von Menschen sozusagen aus der menschlichen Gesellschaft ausgesondert […], die sie dann als eine Art ‚Gebrauchsgegenstand‘ für die rein physischen Nöte und Bedürfnisse der jungen Männerwelt zur Verfügung stellt. Und es wird […] auch noch von Staats wegen dafür gesorgt, dass diese ‚Gebrauchsgegenstände‘ immer in möglichst geeigneter Beschaffenheit sind. […] Hier haben wir eine Gewissenlosigkeit der alten Moral, die kaum zu fassen ist, einen durch die Jahrhunderte begangenen Körper- und Seelenmord an Millionen.“[24] Die „ganze Scheußlichkeit, die Prostitution unserer Tage und der mit ihr verbundene Kinder- und Mädchenhandel“ rechtfertige es, so Stöcker, unsere Gesellschaft nicht als Kulturvolk zu betrachten.[25]

Was aber empfahl Stöcker zur Lösung des Problems? Zunächst einmal: Vollständige Gleichberechtigung der Frau auf juristischem Gebiet – also eine Reform der 1900 mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in Kraft getretenen Ehegesetzgebung, welche die Frau fast vollständig unter die Aufsicht des Ehemannes gestellt hatte; eine gleichberechtigte Hinzuziehung der Frau zu allen gesellschaftlichen Problemen, vor allem zu jenen aus den Bereichen Sittlichkeit und Moral; die uneingeschränkte Berufstätigkeit der Frau, die damit auch finanziell unabhängig werden sollte; eine moralische und ethische Verbesserung des Ehelebens, damit die Ehe eine „höhere Gemeinschaft“ werden kann, die auf gegenseitiger Liebe und Achtung beruht; sowie ein vereinfachtes und weniger restriktives Scheidungsrecht. Ferner vertrat Stöcker die Ansicht, dass auch der Frau eine freie Sexualität zustand, die nicht allein dem Zweck der Fortpflanzung dient, und dass der sittliche Wert einer solchen sexuellen Beziehung von der Tiefe und Dauerhaftigkeit der Gefühle abhänge und nicht von der Existenz eines Rechtsinstituts wie dem der Ehe. Die für beide Partner bestehende Möglichkeit des Auslebens außerehelicher Liebesbeziehungen war deswegen in ihren Augen ein weiterer Baustein für die Abschaffung der Prostitution. Sie rückte in das Zentrum ihres Denkens die innere Verbundenheit zwischen Mann und Frau durch die Liebe. Wie Stöcker immer wieder betonte, konnte es solche Gefühle durchaus auch innerhalb einer Ehe geben, allerdings waren sie in ihren Augen nicht auf die Ehe beschränkt, sondern konnten auch in freien Lebensgemeinschaften möglich sein.

Ausgehend von ihren Ideen setzte sich Stöcker auch für eine bewusste Geburtenplanung ein und stellte eine Reihe eugenischer Forderungen auf, zu denen auch der Ausschluss bestimmter Personengruppen von der Fortpflanzung gehörte. 1905 schrieb sie, man müsse Mittel finden, „um unheilbar Kranke oder Entartete an der Fortpflanzung zu verhindern“.[26] Als Nietzsche-Anhängerin war Stöcker davon überzeugt, dass Menschen sich nicht nur der einfachen Fortpflanzung, sondern der „Höher-hinauf-Pflanzung“ verschreiben sollten, wie Nietzsche dies nannte. Diese Textpassage ist für heutige Leser:innen schwer von Äußerungen zu unterscheiden, die während des Nationalsozialismus zur Ermordung von Menschen im Namen der Eugenik geführt haben. So ist es auch kein Wunder, dass Stöcker in der Forschung gelegentlich als Eugenikerin oder sogar als Mittäterin „an der Etablierung eines eugenisch orientierten Menschenbildes und Gesellschaftsmodells“ bezeichnet wird.[27] Es ist sicher zu einfach, die Äußerungen Stöckers als eine allgemeine, der Zeit entsprechenden Einstellung zu verstehen; es ist aber trotzdem nötig, den Verlauf der Geschichte nicht auf den Kopf zu stellen. Was die nationalsozialistische Politik im Namen der Eugenik in die Tat umsetzte, konnte Helene Stöcker zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Forderungen formulierte, unmöglich wissen. Man kann von ihr deshalb auch nicht verlangen, sich einer anderen Sprache zu bedienen, als derjenigen, die ihr zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stand. Trotzdem bleibt die Frage, wie Stöcker zu eugenischen Vorstellungen stand. In ihren Texten finden sich zwar immer wieder Passagen, die in diese Richtung weisen, doch muss man sehr genau hinsehen, um zu verstehen, welche konkreten Vorstellungen sie in diesem Zusammenhang vertrat.

In all ihren Veröffentlichungen bekannte sich Stöcker zu den Prinzipien des sogenannten Neomalthusianismus, worunter eine Beschränkung der Bevölkerungsvermehrung mit Methoden der Geburtenkontrolle zu verstehen ist. Für Stöcker beinhaltete dies Forderungen nach einem straffreien Schwangerschaftsabbruch, Aufklärung über Verhütung sowie nach der Freigabe von Werbung und Vertrieb von Verhütungsmitteln. Sie sprach sich jedoch in keinem ihrer Artikel für eine ‚Eliminierung‘ oder ‚Ausmerzung‘ vermeintlich ,unwerten Lebens‘ aus, befürwortete also zu keiner Zeit jene mörderischen Maßnahmen, wie sie später von der nationalsozialistischen Politik unter dem Begriff der „Eugenik“ ins Werk gesetzt wurden. Auf diesen Umstand hat auch Annegret Stopczyk-Pfundstein aufmerksam gemacht, die sich sehr intensiv mit entsprechenden Vorwürfen gegen Stöcker auseinandergesetzt hat und zu dem Ergebnis kommt: Helene Stöcker „forderte eigentlich das, was wir heute selbstverständlich benutzen können. Verhütungsmittel, Abtreibungsmöglichkeiten bei sozialer und gesundheitlicher Indikation“.[28] Hinzu kommt, wie Carmen Hammer richtig bemerkt, dass sich das Denken Helene Stöckers „an der in der Tradition der Aufklärung stehenden optimistischen Idee einer ganzheitlichen, Körper, Geist und Sittlichkeit umfassenden Höherentwicklung der Menschheit durch das verantwortliche Handeln der Einzelnen“ orientierte,[29] und eben nicht an Überlegungen von Rassehygienikern.

Alles in allem verfocht Stöcker einen stark individualistischen und vor allem bürgerlichen Ansatz, der auf eine Veränderung jedes Einzelnen zielte, um so zu einer „Höherentwicklung“ der Gesellschaft beizutragen. In den Worten Stöckers: „Das Ideal der harmonisch entwickelten Persönlichkeit bedingt nicht nur eine höhere Wertung der Liebe, sondern gibt schon an sich eine andere Stellung dem Leben – Erleben gegenüber.“[30] Stöcker sah, wie sie an einer anderen Stelle schreibt, „in der Kultur der Persönlichkeit das Ziel unseres Strebens […] – nicht mehr im Staat wie in der Antike, nicht mehr im Jenseits, wie die christliche Religion“.[31] Was ihr Programm dabei komplett ausblendete, waren die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der von ihr propagierten Emanzipation, sie argumentierte ausschließlich vor dem Hintergrund einer bürgerlich-liberalen Weltanschauung. Im Zentrum ihrer Betrachtungen stand das weibliche Individuum, welches sie von den gesellschaftlichen Fesseln eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses befreit wissen wollte. Hinweise auf soziale Probleme wie Wohnungsmangel, (zu) niedrige Löhne, Ausbeutungsverhältnisse in Fabriken und Werkstätten oder die Doppel- bis Dreifachbelastung vor allem proletarischer Frauen durch Berufs-, Haus- und Carearbeit reflektierte sie nicht. Für sie resultierte die Prostitution daher auch nicht aus sozialen Problemen, sondern aus der bürgerlichen Doppelmoral.

Robert Michels über Prostitution in der Klassengesellschaft

In den von Stöcker herausgegebenen Zeitschriften Mutterschutz und Neue Generation finden sich insgesamt sechs Artikel von Robert Michels. Aus dem Jahr 1907 liegt eine Buchbesprechung vor, aus dem Jahr 1911 ein Kongressbericht aus Italien. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass drei der Artikel, die Michels in den Stöckerschen Zeitschriften veröffentlichte, den kompletten zweiten Teil („Außereheliche Grenzprobleme“) seines 1911 erschienenen Buches Die Grenzen der Geschlechtsmoral bilden. Es handelt sich hierbei um die Aufsätze „Vergleichende Liebeswissenschaften (Erotische Streifzüge in verschiedenen Ländern)“, „Zwischenstufen der Ehrbarkeit“ und „Die Dirnen als die Alten Jungfern des Proletariats“. Nach einem ersten Vergleich scheint es sich um (fast) wörtliche Übertragungen der Texte zu handeln.[32] Während die Artikel in dem Buch in der eben genannten Reihenfolge stehen, war die ursprüngliche Reihenfolge in den Zeitschriften eine andere. Hier erschien zuerst der Artikel „Die Dirne als die ,alte Jungfer‘ des Proletariats“ (1905), sodann „Erotische Streifzüge“ (1906) und schließlich die „Zwischenstufen der Ehrbarkeit“ (1909). Ich orientiere mich im Folgenden an der chronologischen Reihenfolge der Veröffentlichung in den Zeitschriften und konzentriere mich dabei auch hier auf die Passagen zur Prostitution.

Bereits der Titel des ersten Aufsatzes spricht Bände: „Die Dirne als die ,alte Jungfer‘ des Proletariats und die Prostitution.“[33] Michels’ Kernthese ist schnell zusammengefasst: „Der alten Jungfer in den höheren Ständen entspricht im Proletariat die Dirne.“[34] Michels zeichnet hier das Bild scharfer Gegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Während der proletarische Mann gezwungen ist früh zu heiraten, da er sich weder Hausangestellte noch Prostituierte finanziell leisten kann, greift der bürgerliche Mann in seiner Jugend auf genau diese beiden Gruppen zurück, solange er sich eine standesgemäße Heirat finanziell noch nicht leisten kann. Für die davon betroffenen Frauen hat diese Doppelmoral ganz unterschiedliche Folgen, je nachdem zu welcher sozialen Schicht sie gehören. „[D]en unverheirateten Mädchen aus der Bourgeoisie verbietet sie das Recht auf Liebe, auch wenn diese nach ihm verlangen, und dem unverheirateten Mädchen aus dem Proletariat gebietet sie den erotischen Verkehr, auch wenn es kein Verlangen danach trägt.“[35] Als Ursache der Prostitution sieht Michels vor allem ökonomische Faktoren. „Die grosse Masse der Prostituierten aber ist zu ihrem Gewerbe auf dem direkten Wege authentisch-wirtschaftlichen Elends gekommen“.[36] Folglich rekrutieren sich die meisten Prostituierten ihm zufolge aus dem Kreis des Proletariats. Die betroffenen Frauen würden somit gar doppelt abgewertet: Einmal als Frauen und das andere Mal als Proletarierinnen. Für Michels ist die Prostitution daher „ethisch betrachtet, ein Schlag ins Gesicht der gesamten Frauenwelt. […] So lange es noch möglich sein wird, sich mittelst einer lumpigen Gold-, Silber- oder gar Nickelmünze Frauenkörper zu kaufen, ist unsere vielbesungene Zivilisation nichts anderes als eine schöne Kulisse, hinter der sich Schmutz und Verbrechen verbirgt.“[37]

Diejenigen Männer, die die Prostitution nachfragen und damit am Laufen halten, sind Michels zufolge vor allem jene Männer aus der Bourgeoisie, die zu Beginn ihres Berufslebens noch keine standesgemäße Heirat eingehen können oder in reiferen Jahren keine mehr eingehen wollen. „Auch wenn er dann in verhältnismäßig späten Jahren in den Besitz genügenden Geldes gelangt ist, um sich eine Familie gründen zu können, so ist er doch vielfach durch sein Vorleben so sehr an das Auskosten außerehelicher Liebesfreuden gewöhnt, das selbst die in vielen Männern so starke Sehnsucht nach dem Besitze eines Stammhalters nicht mehr im Stande ist, ihn zu überreden, das bequeme und sorgenlose Leben des Junggesellen mit der Fahrt auf dem hohen Meere der Ehe zu vertauschen.“[38]

Dazu kämen die negativen Auswirkungen gewisser gesellschaftlicher Rituale in der Bourgeoisie. So die „langen Fangarme auf Raub ausziehender Besitzer heiratsfähiger Töchter“ und die Abneigung bürgerlicher Mädchen gemeinsam mit dem Mann in „ehelicher Kameradschaft […] sich durch das Leben hindurchzuringen“.[39] Vielmehr wollten diese sich sofort in ein (finanziell) gemachtes Bett legen. Dies alles und die Erfahrung, dass der bürgerliche Mann in der Ehe an Freiheiten verlöre, führten zu einer steigenden Zahl von unverheirateten bürgerlichen Männern, die ihre Sexualität mit proletarischen Frauen auslebten, die sich der Prostitution hingeben müssten. Als Gegenmaßnahme schlägt Michels dementsprechend vor: „Nur eine relative, auf ökonomischer Basis beruhende Kulturgleichheit aller Volksgenossen ohne Unterschied des Geschlechtes wird der Ritter Georg sein, welcher den Drachen Prostitution in seiner heutigen Form wird erlegen können.“[40]

Nach dieser gesellschaftskritischen Analyse der Prostitutionsproblematik kommt Michels interessanterweise in seinen späteren Artikeln auf die von ihm angesprochenen Klassenunterschiede nicht mehr explizit zu sprechen. Dafür macht er nationale Differenzen geltend, die uns heutzutage an äußerst fragwürdige Debatten über angebliche Nationalcharaktere erinnern. So weist Michels in einem Artikel aus dem Jahr 1906 den Prostituierten unterschiedlicher Länder verschiedene nationale Charakterzüge zu, namentlich den französischen, den italienischen und den deutschen. Während er die deutsche Prostitution als „grobsinnlich und gemein, herzlos und ungebildet, ästhetisch unschön“ beschreibt,[41] schildert er in ästhetisierenden Worten die französischen Prostituierten, die sich ihre Menschenwürde bewahrt hätten und eher den Typus der „freien Hetäre“ verkörperten. Sie entsprächen damit „der alten hohen, verfeinerten Kultur, wie wir sie auch heute noch, ja gerade heute, in Frankreich beobachten können“.[42] Michels versteigt sich sogar zu der These, dass „die Prostitution in Frankreich sittlich höher als die Prostitution in Deutschland“ stehe, was er auf das „scharf ausgeprägte Gefühl für Menschenwürde“ in Frankreich zurückführt.[43] In seiner Schilderung der französischen Prostitutionsverhältnisse werden die Prostituierten mit Worten wie „Unabhängigkeit“ und „gänzlicher gesellschaftlicher Gleichberechtigung“ in Verbindung gebracht.[44] Der „Dirnentypus“ in Frankreich, so Michels, sei mehr wert als der in Deutschland.[45] Obwohl er auch in Frankreich niedere Formen der Prostitution ausmacht, erweckt die Form der Darstellung insgesamt den Eindruck, dass Michels die Prostitution in Frankreich verharmlost, wenn nicht gar romantisiert. Erst am Ende seines Artikels ändert Michels den Tonfall und schließt mit den Worten, dass selbstverständlich allen klar sein müsse, dass „jede Prostitution verwerflich“ sei und wir „mit Ernst“ danach streben müssten, „alles, was in unseren Kräften steht, zu tun, um diese Erscheinung auf dem Wege einer Veränderung unserer Ökonomie aus einer aktuellen zu einer historischen zu machen“.[46]

Die von ihm anhand des Pariser Nachtlebens geschilderte verfeinerte Kunst der Prostitution weist Michels in einem späteren Artikel aus dem Jahr 1909 auch den Italienerinnen zu. Hier stellt er seinem Publikum den von ihm so genannten Typus der „Halbdirne“ vor, der ihm in einer Schneiderei begegnet sei. „Nur wer bereits vorher informiert und eingeführt ist, weiß, dass die Schneiderei schlechterdings nur die eine Seite des Betriebs darstellt, die andere aber in der Ausübung eines ganz anderen Berufs besteht.“[47] Interessant ist an dieser Stelle die Bezeichnung der Prostitution als „Beruf“ und die sehr harmlose Beschreibung der Gründe für diesen Beruf: Hier bekäme die „Männerwelt der höheren Stände das, was sie sucht: geheimen, nicht kompromittierenden Geschlechtsverkehr mit ,anständigen Mädchen‘; und eine Reihe von Mädchen ihrerseits das, dessen sie bedarf: relativ hohen Verdienst, ohne der Schande preisgegeben zu sein.“[48] Noch eine andere Art von Prostitution schildert er, eine, bei der sich die Mädchen „amüsieren“ aber doch ihre Jungfernschaft erhalten. Diese fände tagsüber in Ballsälen statt, wo sich Männer und Frauen zufällig träfen, um „Spaß miteinander zu haben“. Für ihn eine „anständigere, reinlichere Art der Prostitution“.[49]

Interessant an diesen beiden Artikeln sind Hinweise, denen zufolge er selbst mit den von ihm beschriebenen Frauen – Michels nennt sie in seinen Artikeln immer nur „Mädchen“ – gesprochen hat. „Ich habe mir die Mühe gegeben mehrere dieser Mädchen über ihre ökonomische und soziale Lage zu interpellieren.“[50] Bei diesen Gelegenheiten hätten die Befragten auf den sehr viel höheren Verdienst verwiesen, den sie mit der Prostitution erzielen könnten, dabei aber auch sehr deutlich gemacht, dass dieses Doppelleben unbedingt geheim bleiben müsse, da sie sich ihren Ruf als unbescholtene Frauen bewahren müssten. „Außer dem engen Kreis ihrer Benützer“, so Michels, „ahnt niemand etwas von ihrer wahren gesellschaftlichen Funktion.“[51] Was diese gesellschaftliche Funktion ist, führt der Autor hier nicht aus, er spielt hier aber wahrscheinlich auf die unverheirateten Männer gehobener Stände an, die sich keine Ehe leisten können oder wollen, wie er dies in seinem Artikel aus dem Jahr 1905 ausgeführt hat.

Auffällig an den späteren Artikeln ist die Naivität der Schilderung, welche die Ausbeutung von Frauen in der Prostitution verschleiert – jener Prostitution, die Michels selbst nur wenige Jahre zuvor noch als „Schlag ins Gesicht jeder Frau“ beschrieben hatte.[52] Dies könnte damit zu tun haben, dass bei genauerer Betrachtung der Autor in all seinen Artikeln konsequent aus einer rein männlichen Perspektive heraus argumentiert. Er stellt sexuelle Bedürfnisse von heterosexuellen Männern in den Vordergrund und hinterfragt diese nicht. Es scheint für ihn selbstverständlich zu sein, dass Männer diese ausleben. Überlegungen in Richtung Askese oder Verzicht stellt Michels in diesen Texten noch nicht an. Damit entindividualisiert Michels Frauen und weist ihnen einen Objektstatus in Bezug auf die sie benutzenden Männer zu. Das war zwar auch in seinem prostitutionskritischen Text aus dem Jahr 1905 schon so, in dem er unter anderem schrieb, dass ein proletarischer Mann, der ein Weib benötige „wohl oder übel auf einen Erwerb desselben mittels des Standesamtes bedacht sein muss“.[53] Doch hatten entsprechende Formulierungen polemischen Charakter und prangerten implizit die ökonomischen Rahmenbedingungen der Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus an. In seinen Schilderungen zum Pariser Nachtleben ist von dieser gesellschaftskritischen Polemik nichts mehr zu spüren. Hier schwärmt er davon, wie junge, idealistische Männer in Frankreich eine ethisch höherstehende Form der Prostitution kennen lernen könnten, wo die Kunst der Verführung noch etwas gälte. Gerade bei diesen Schilderungen einer angeblich leichten, lockeren, sinnlichen und nicht so ernsten, da einer „verfeinerten Kultur“ angehörenden Prostitution in Frankreich und Italien werden die Selbstverständlichkeit der männlichen Perspektive und die Warenförmigkeit des weiblichen Körpers überdeutlich. Dieser Eindruck drängt sich vor allem dann auf, wenn die Artikel in der hier vorgestellten Reihenfolge rezipiert werden, so, wie sie in den Zeitschriften von Stöcker erschienen sind.

Die Lesart der Artikel verändert sich allerdings fundamental, wenn man die Reihenfolge der Artikel umkehrt und sie so liest, wie sie in den Grenzen der Geschlechtsmoral arrangiert worden sind. Hier beginnt die Darstellung mit dem Artikel zur französischen Prostitution, gefolgt von dem zur Prostitution in Italien und gipfelt in dem Beitrag über die (jetzt im Plural auftretenden) „Dirnen als die Alten Jungfern des Proletariats“. In dieser Reihenfolge gelesen, vermitteln die Texte den Eindruck eines Differenzierungsprozesses. Der letzte Artikel erscheint dann als eine Zusammenfassung der beiden vorderen, die sich noch als idealisierende Beschreibungen von Prostitutionsverhältnissen lesen lassen. Es spricht auf jeden Fall Bände, dass Michels sich in seinem Buch für diese Reihenfolge entschieden hat. Lebensgeschichtlich scheint es allerdings so gewesen zu sein, dass er das dritte Kapitel bereits vor Januar 1905 fertig gestellt hatte, da er den Text ja bereits zu diesem Zeitpunkt in Stöckers Zeitschrift Mutterschutz veröffentlichen konnte, während die Schilderungen aus Frankreich und aus Italien erst später folgten.

Schluss

Zusammenfassend kann man die Positionen von Stöcker und Michels durchaus als gegensätzlich bis komplementär bezeichnen. Das Bild der Prostitution, welches Michels zeichnet, nimmt zwar Klassenaspekte in den Blick, blendet dabei aber Formen von proletarischer Prostitutionsnachfrage fast ebenso gänzlich aus wie einen bürgerlichen Hintergrund von Prostituierten. Obwohl Michels für seine Zeit ein ausgesprochen reflektierter Forscher ist und sich ohne Wenn und Aber für die volle Gleichberechtigung von Frauen ausspricht, gelingt es ihm meines Erachtens nicht, seinen männlichen Blick und die damit einhergehende Objektifizierung der Frau zu überwinden. Ich möchte nicht so weit gehen und behaupten, dass Michels die französischen und die italienischen Prostitutionsmodelle rechtfertigt, aber er analysiert die Prostitution in diesen Ländern, die er vermutlich aus biografischen Gründen als Gegenmodelle zur Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs idealisierte,[54] nicht derart klar wie in seinen Texten zur deutschen Prostitution. Vielmehr scheint es, als wenn er die Darstellungen, die er nach eigener Aussage von den Prostituierten in beiden Ländern erhalten hat, ungeprüft übernimmt, ohne zu bedenken, dass sich dahinter durchaus selbstermächtigende Diskursstrategien verstecken könnten. Dies ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil Michels auf die Gefahr, womöglich einem geschönten Bild aufzusitzen, an einer Stelle selbst zu sprechen kommt. So zitiert er eine namentlich nicht genannte Freundin, die ihm genau diesen Vorwurf gemacht habe, nur um den genannten Einwand dann mit einer kurzen Erklärung beiseite zu schieben. Vielleicht verschleierten ihm die Gespräche mit den Prostituierten in beiden Ländern seinen ansonsten so klaren Blick auf die zugrundeliegenden Ausbeutungsstrukturen. Der Ton, in dem Michels leicht anzüglich und kokett von den Pariser Prostituierten spricht und die Art der Darstellung, die sowohl Vertraulichkeit als auch Kennerschaft suggeriert, erinnert gelegentlich an die Prostitutionsliteratur um 1900, die unter dem Siegel der Wissenschaftlichkeit vor allem ‚pikante‘ Details preisgab . Die Grundannahme, dass es ein (männliches) Recht auf das Ausleben von sexuellen Wünschen gibt, stellt Michels nicht infrage, er diskutiert es noch nicht einmal.

Stöcker geht ebenfalls davon aus, dass Sexualität ausgelebt werden kann und muss – allerdings von beiden Geschlechtern gleichermaßen. Der blinde Fleck ihrer Analyse liegt woanders. Er resultiert aus der unhinterfragten bürgerlichen Perspektive, aus der heraus sie das Problem der Prostitution betrachtet und dessen soziale Ursachen durchgängig ignoriert. Im Mittelpunkt von Stöckers Überlegungen steht „die Frau“ als vermeintlich klassenloses Geschlechtswesen. Prostitution erscheint ihr so als Folgeproblem einer bürgerlichen Doppelmoral, die zwar unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen hat, die aber nicht von der unterschiedlichen Ressourcenverteilung abhängt.

Damit zeigt sich bei Stöcker überdeutlich das klassische Argumentationsmuster der bürgerlichen Frauenbewegung, die die Klassengegensätze ignoriert, während bei Michels die sozialdemokratische Lesart erkennbar wird, welche die Unterdrückung und Ausbeutung der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft als Nebenwiderspruch des Kapitalismus verschleiert. Erst, wenn beide Perspektiven zusammengedacht werden, ergibt sich ein realistisches Bild der vielfach verschränkten Prostitutionsverhältnisse um 1900. In ihrer Einschätzung, wie sich dem Problem abhelfen lässt, waren die Differenzen zwischen beiden allerdings weit weniger stark ausgeprägt. So schreibt Michels: „Jede Prostitution ist verwerflich, und wir müssen mit Ernst darauf unser Streben richten, alles, was in unseren Kräften steht, zu tun, um diese Erscheinung auf dem Wege einer Veränderung unserer Ökonomie aus einer aktuellen zu einer historischen zu machen.“[55] Und Stöcker schließt: „Wir versuchen, aus der bestehenden Unordnung und Trostlosigkeit, dem ungeheurlichen Tiefstand unseres allgemeinen sexuellen Bewußtseins, unseres sexuellen Lebens hinaus zu gelangen ‚durch soziale Veranstaltungen zum Zwecke systematisch gebesserter Lebensmöglichkeiten‘, das ist der eine Teil unserer Aufgabe, ‚durch Entwicklung, durch persönliche Kultur, in der die geistigen Güter der Vergangenheit von Generation zu Generation weitergegeben und fortgebildet werden‘, das ist der andere Teil unserer Aufgabe.“[56]

  1. Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt am Main 2008, S. 52.
  2. Nur nebenbei sei erwähnt, dass Helene Stöcker als einzige Frau einen Eintrag in Siguschs Geschichte der Sexualwissenschaft erhielt. Vgl. den Abschnitt „Neue Ethik, Mutterschutz und freie Liebe. Helene Stöckers Kampf gegen Männermoral, Frauenunterdrückung und Krieg“ (ebd., S. 254–260). Robert Michels war kein Eintrag in dem Werk vergönnt.
  3. Ich danke Vincent Streichhahn für die hilfreiche Durchsicht dieses Manuskripts sowie für die Zurverfügungstellung der Briefe, die er im Michels Archiv der Luigi Enaudi Stiftung in Turin (ARMFE) ausfindig gemacht hat.
  4. Siehe dazu Vincent Streichhahn / Hans Geske, Ein feministischer Klassiker, in: dies. (Hg.): Die Grenzen der Geschlechtsmoral und weitere Schriften. Robert Michels zu Sexualmoral und Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2021, S. 3–22.
  5. Robert Michels, Die politische Tätigkeit der sozialdemokratischen Frauen, in: Frauen-Rundschau 4 (1903), Nr. 21, S. 1045–1048.
  6. Helene Stöcker an Robert Michels, Brief vom 20. November 1902, ARMFE.
  7. Helene Stöcker an Robert Michels, Brief vom 3. Dezember 1902, ARMFE.
  8. Siehe dazu die detaillierten Angaben in Helene Stöcker, Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, hrsg. von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff, Wien u.a. 2015, S. 14 ff.
  9. Dies geht aus Vortragsübersichten für die Jahre 1909 und 1913 hervor. Siehe Die Neue Generation, 14.11.1909, S. 458–461 sowie Die Neue Generation, 14.9.1913, S. 506–509.
  10. Die persönliche Bekanntschaft geht aus einem Brief Stöckers vom 19. Mai 1904 hervor, in dem sie schrieb: „Ich denke sehr gerne, mit großer Freude der Stunden in Ihrem Hause. Kommt nicht einer von Ihnen Beiden oder Sie alle beide zum Internationalen Frauenkongress? Ich würde mich sehr freuen, Sie hier begrüßen zu können.“ Siehe Helene Stöcker an Robert Michels, Brief vom 19. Mai 1904, ARMFE. Der Brief ist überdies ein sehr schönes Beispiel für die engen Beziehungen zwischen den Protagonist:innen einer Bewegung, die vor allem durch Vortragsreisen und Teilnahmen an (inter)nationalen Kongressen zustande kamen. Ausführlicher zu dieser Thematik Kerstin Wolff, Anna Pappritz (1861–1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach i. Ts. 2017.
  11. Vincent Streichhahn, Der Grenzgänger. Robert Michels zwischen Frauenbewegung, Sozialdemokratie und Soziologie, in: Soziopolis, 5.10.2021.
  12. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Stöcker zwar nicht die Existenz von weiblicher und männlicher Homosexualität leugnete, sie in ihren Schriften aber fast ausschließlich Aspekte einer heterosexuellen Paardynamik thematisierte.
  13. Helene Stöcker, Zur Reform der sexuellen Ethik, in: Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik. Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz 1 (1905), 1, S. 3–12, hier S. 5.
  14. Ebd., S. 6.
  15. Ebd., S. 7.
  16. Ebd., S. 9.
  17. Flugblätter des Bundes für Mutterschutz, Nr. 1: Was will der deutsche Bund für Mutterschutz?, o. O. o. J. [3].
  18. Helene Stöcker, Das Werden der sexuellen Reform seit hundert Jahren, in: Hedwig Dohm u. a. (Hg.), Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral, Berlin 1905, S. 36–58, hier S. 37 f.
  19. Helene Stöcker, Die sexuelle Abstinenz und die Stützen der Gesellschaft, in: Die Neue Generation, 14.1.1909, Nr. 1, S. 1–12, hier S. 5.
  20. Ebd., S. 4.
  21. Ebd.
  22. Siehe dazu Andreas Hill, Medizinische Debatten über sexuelle Abstinenz in Deutschland von 1903 bis 1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Sexualwissenschaft und der Geschlechtskrankheiten, Lübeck 1996.
  23. Helene Stöcker, Liebe und Keuschheit, in: Die Neue Generation, 14.7.1911, Nr. 7, S. 280–289, hier S. 285.
  24. Helene Stöcker, Die sexuelle Not des Studenten, in: Die Neue Generation, 14.12.1913, Nr. 12, S. 641–655, hier S. 643.
  25. Helene Stöcker, Ehe und Konkubinat, in: Die Neue Generation, 14.3.1912, Nr. 3, S. 127–142, hier S. 127.
  26. Stöcker, Zur Reform der sexuellen Ethik, S. 9.
  27. Martina Hein, Die Verknüpfung von emanzipatorischem und eugenischem Gedankengut bei Helene Stöcker (1869–1943), Dissertation Bremen 1998 (Mikrofiche), S. 202 ff.
  28. Siehe dazu Annegret Stopczyk-Pfundstein, Philosophin der Liebe. Helene Stöcker. Die „Neue Ethik“ um 1900 in Deutschland und ihr philosophisches Umfeld bis heute, Stuttgart 2003, vor allem Kapitel 5: Eugenik und der Vorwurf präfaschistischer Mittäterschaft, S. 239 ff. Das Zitat findet sich auf S. 257.
  29. Carmen Hammer, Sexualität und Reproduktion im emanzipatorischen Diskurs ausgewählter Sexualreformerinnen, Univ. Magisterarb. Frankfurt am Main 2010, S. 83–89, hier S. 86.
  30. Helene Stöcker, Ehe und Konkubinat, in: Die Neue Generation, 14.3.1912, Nr. 3, S. 127–142, hier S. 136.
  31. Ebd., S. 134.
  32. Bei der Überprüfung der Zitate konnte ich einige Variationen feststellen, die jedoch in der Regel nur einzelne Worte betreffen.
  33. Robert Michels, Die Dirne als die ,alte Jungfer‘ des Proletariats und die Prostitution, in: Mutterschutz 1 (1905), Nr. 2, S. 58–65.
  34. Ebd., S. 59. Gemeint ist in beiden Fällen eine unverheiratete (ältere) Frau.
  35. Ebd.
  36. Ebd., S. 62
  37. Ebd., S. 63.
  38. Ebd., S. 60.
  39. Ebd.
  40. Ebd., S. 65.
  41. Robert Michels, Erotische Streifzüge: Deutsche und italienische Liebesformen – Aus dem Pariser Liebesleben, in: Mutterschutz 2 (1906), Nr. 9, S. 362–374, hier S. 372.
  42. Ebd.
  43. Ebd., S. 366 und S. 369.
  44. Ebd., S. 371 und S. 370.
  45. Ebd., S. 373.
  46. Ebd.
  47. Robert Michels, Die Zwischenstufen der Ehrbarkeit, in: Die Neue Generation, 14.9.1909, S. 351–359, hier S. 354.
  48. Ebd.
  49. Ebd., S. 356.
  50. Ebd., S. 354.
  51. Ebd., S. 355.
  52. Robert Michels, Die Dirne als die ,alte Jungfer‘ des Proletariats, S. 63.
  53. Ebd., S. 60.
  54. Bei der Präsentation dieser Überlegungen auf dem Michels Workshop im März 2022 in Halle machte mich Timm Genett auf diesen Zusammenhang aufmerksam. Siehe von ihm: Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876–1936, Berlin 2008.
  55. Michels, Erotische Streifzüge, S. 373
  56. Helene Stöcker, Liebe und Keuschheit, in: Die Neue Generation, 14.7.1911, Nr. 7, S. 289.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Kerstin Wolff

Kerstin Wolff ist Historikerin. Sie leitet die Forschungsstelle des Archivs der deutschen Frauenbewegung (AddF) - Forschungsinstitut und Dokumentationsstelle in Kassel. Sie forscht und publiziert zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung zwischen 1848 und 1970, zu Protagonistinnen, Themen und Aktionsformen. Foto: © Archiv der deutschen Frauenbewegung / Rohde.

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