Monika Grubbauer | Rezension | 18.05.2022
Zwischen lokaler Verortung und globaler Vernetzung
Rezension zu „Am Ende der Globalisierung. Über die Refiguration von Räumen“ von Martina Löw, Volkan Sayman, Jona Schwerer und Hannah Wolf (Hg.)

Der Band Am Ende der Globalisierung: Über die Refiguration von Räumen könnte aktueller nicht sein, präsentiert er doch erste Ergebnisse aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Berliner Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“. Letzterer untersucht im Verbund aus Sozialwissenschaften, Geografie, (Stadt-)Planung und Architektur gegenwärtige sozialräumliche Transformationsprozesse im globalen Kontext. Konzipiert und geplant wurde das Vorhaben noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie für einen Untersuchungs- und Förderzeitraum von insgesamt zwölf Jahren, Startschuss war Januar 2018. Nun hat die Corona-Pandemie grundlegend neue soziale und räumliche Dynamiken mit sich gebracht, die den im SFB aufgeworfenen Fragestellungen noch einmal mehr Relevanz verleihen. Um das vorwegzunehmen: Die Autor:innen kommen keinesfalls zu dem Schluss, Globalisierungsprozesse hätten – wie der Buchtitel vermuten lässt – nun ein Ende gefunden (oder dass man deren Anfang eindeutig belegen könnte). Vielmehr bietet der vorliegende Band originelle Thesen und anschauliche Belege für die Widersprüchlichkeit raumbezogener gesellschaftlicher Transformationsprozesse zwischen lokaler Verortung und globaler Vernetzung. Er macht zudem deutlich, wie fruchtbar ein interdisziplinärer Ansatz ist, um ineinandergreifende und sich überschneidende Prozesse der Raumkonstitution auf verschiedenen räumlichen Skalen zu fassen.
Im Zentrum der Beiträge steht die Untersuchung des spannungsgeladenen Wechselspiels zwischen dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen, raumbezogener Imaginationen und alltäglichem räumlichen Handeln. Einem unterkomplexen Verständnis von Globalisierung, das eine gleichförmige wie kontinuierlich voranschreitende globale Vernetzung und Abhängigkeit postuliert, wird das Konzept der Refiguration entgegengestellt. Mit diesem Begriff bezeichnen die Herausgeber:innen in ihrer Einleitung die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Vernetzungs- und Entgrenzungstendenzen auf der einen sowie Territorialisierungs- und Schließungstendenzen auf der anderen Seite. Ziel ist es, mit dem vorliegenden ersten Band in der von den Soziolog:innen und SFB-Sprecher:innen Hubert Knoblauch und Martina Löw herausgegebenen Reihe, Ansätze einer raum- und wissenssoziologisch fundierten Diagnose gesellschaftlichen Wandels weiterzuentwickeln und diese mit ersten empirischen Forschungsergebnissen zu fundieren. Präsentiert werden die Resultate entlang der Themen Verräumlichungen von Politiken, Refiguration digitalisierter Räume und global-lokales Raumwissen.
Das Theoriegerüst, das sowohl dem Band als auch der Arbeit des Sonderforschungsbereichs zugrunde liegt, wird von Martina Löw und Hubert Knoblauch im zweiten Kapitel vorgestellt. Im Kern geht es darum, die soziologische Analyse der gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte raumtheoretisch zu unterfüttern und zu einer „Sozialtheorie des Raumes“ (S. 27) weiterzuentwickeln. Die Autor:innen erkennen an, dass die raumbezogene Forschung innerhalb der Sozialforschung seit dem spatial turn vor rund 25 Jahren an Bedeutung gewonnen habe, gleichzeitig sei jedoch auch ein Mangel an Präzisierung und Spezifizierung der sozialtheoretischen Konzepte, die diese Forschungen anleiten, festzustellen. Das Rahmenkonzept der Refiguration, das die beiden Autor:innen bereits in anderen Aufsätzen ausbuchstabiert haben, nutzt den von Norbert Elias geprägten Begriff der Figuration und entwickelt diesen weiter, um gesellschaftlichen Wandel als widersprüchlichen und spannungsgeladenen Prozess zu begreifen, der durch „sich räumlich artikulierende Wirkkräfte“ (S. 32) gekennzeichnet ist. Empirisch fassbar werden diese Wirkkräfte mittels einer Heuristik grundlegender Raumfiguren wie etwa Territorialraum, Bahnenraum, Netzwerkraum und Ort. Diese Raumfiguren zeichnen sich durch jeweils distinkte sozialräumliche Logiken aus, die in Konkurrenz zueinander stehen, sich aber auch überlagern und verstärken können. Aktuell, so die forschungsleitende These, seien diese Raumfiguren und ihr Verhältnis zueinander maßgeblich durch drei Entwicklungen geprägt, nämlich durch Mediatisierung, Translokalisierung und „Polykontexturalisierung“. Letzteres bezeichnet multiple räumliche Bezüge im kommunikativen Handeln. Diese drei Entwicklungen sowie die Heuristik der vier Raumfiguren werden in den einzelnen Beiträgen aufgegriffen und empirisch untersucht. Der Brückenschlag zum zentralen Konzept der Refiguration gelingt hierbei unterschiedlich gut.
Im Themenabschnitt Verräumlichungen von Politiken beleuchten Johanna Hoerning, Theresa Adenstedt und Paul Welch Guerra die handlungsleitenden Raumlogiken von NGOs und Organisationen der Interessenvertretung im Feld der Wohn- und Asylpolitik. Die Autor:innen nehmen produktiv auf die Leitfragen des Bandes Bezug und zeigen, dass sich in beiden Feldern bedeutsame räumlich-politische Restrukturierungen feststellen lassen. Dies wird anhand von Kommunikations- und Interventionsstrategien, den Logiken der Verortung sowie den Praktiken der translokalen Vernetzung der Akteure auf interessante Weise nachvollzogen. Der Beitrag von Steffen Mau, Fabian Gülzau und Kristina Korte betrachtet physisch-materielle Grenzinfrastrukturen und schlägt für diese eine Typisierung in Bezug auf ökonomische, politische und kulturelle Faktoren vor, die auf Basis von vier Fallstudien vertieft wird. Mau et al. argumentieren, dass fortifizierte Grenzen global zunehmen und dass die Motive hierfür vielfach (auch) in historischen Konflikten und kulturellen Differenzen zu finden seien. Trotz seiner interessanten Schnittstellen zwischen Raumsoziologie und Grenzregimeforschung bleibt der Beitrag im Hinblick auf die Ausgangsthese der Refiguration weniger ergiebig als die anderen dieses Abschnitts.
Der zweite thematische Abschnitt Die Refiguration digitalisierter Räume wird mit einem Text von Hubert Knoblauch, Arne Janz und David Joshua Schröder eröffnet, in dem die Autoren untersuchen, inwiefern sich digitalisierte Kontrollzentren raumkonstituierend auswirken. Sie zeigen sehr anschaulich, dass das kommunikative Handeln in Kontrollzentralen etwa für Verkehr, Strom, Sicherheit oder Müllentsorgung durch multiple und zunehmend simultan wirksame räumliche Bezüge geprägt ist. Die kontrollierten Außenräume werden im Hinblick auf ausgewählte thematische Aspekte durch Karten und Monitore im Kontrollzentrum dargestellt und durch Überlagerung der Informationen „zu pluralen Räumen“ (S. 166) im Inneren der Kontrollzentren synthetisiert. Die Autoren argumentieren, dass Polykontexturalität sowohl durch die zunehmende räumlich-physische Interaktion von Personen mit unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen im Kontrollraum selbst als auch durch verstärkte digitale Automatisierung und Integration von Echtzeitdaten zum Tragen käme. Ebenfalls mit kommunikativem Handeln unter dem Einfluss von Mediatisierungsprozessen beschäftigt sich der Beitrag von Gabriela Christmann und Martin Schinagl, in dem das Handlungsfeld der Stadtplanung in den Blick genommen wird. Die Autor:innen analysieren, wie Geoinformationssysteme und CAD-Anwendungen[1] das Planungshandeln prägen. Sie zeigen sehr detailliert, dass die Arbeit mit digitalen Daten sowie das digitale Zeichnen veränderte Raumkonstruktionen zur Folge haben. So schreibt sich beispielsweise die Logik der Layer, der Schichten mittels derer GIS-basierte Programme unterschiedliche Datensätze abbilden und überlagern, in das planerische Handeln ein. Diese Layer dienten verstärkt dazu, räumliche Zusammenhänge und Muster zu erkennen, während „subjektiv-kognitive räumliche Syntheseleistungen“ (S. 194) in den Hintergrund träten. Nur am Rande jedoch widmen sich die Autor:innen dem Einfluss spezifischer kultureller und regulativer Kontexte für das Raumwissen, obwohl Daten in verschiedenen Städten auf drei Kontinenten erhoben wurden. Der Beitrag von Dominik Bartmanski, Seonju Kim, Martina Löw, Timothy Pape und Jörg Stollmann diskutiert Stadtentwicklungsphänomene unter dem Vorzeichen der Digitalisierung am Beispiel der südkoreanischen Smart City-Modellstadt Songdo. Demonstriert wird, dass das Narrativ von der Smart City als Stadt der Zukunft verkürzt ist und das Versprechen radikaler Neuheit kaum eingelöst wird. Die Analyse Songdos offenbart vielmehr, wie die Restrukturierung der südkoreanischen Gesellschaft in der Spätmoderne ihren räumlichen Ausdruck in den standardisierten Apartmentkomplexen der bürgerlichen Mittelschichten findet. Die gleichermaßen soziale wie räumliche Dimension von Refigurationsprozessen wird hier sehr deutlich. Im letzten Beitrag dieses Themenbereichs betrachten Eric Lettkemann und Ingo Schulz-Schaeffer die Konsequenzen von Digitalisierung und Mediatisierung für die Nutzung des öffentlichen Raumes. Zu diesem Zweck analysieren sie mobile Anwendungen, die digitale Informationen über die Aufenthaltsorte von Nutzer:innen liefern, und argumentieren sehr überzeugend, dass solche Anwendungen die Raumkonstitution von Nutzer:innen im Alltag deutlich verändern. Dies geschieht vorrangig dadurch, dass basierend auf Empfehlungen und Kommentaren gezielt neue Orte angesteuert werden können. Ortsbezogene Bedeutungsstrukturen würden den Autoren zufolge hierbei jedoch interessanterweise eher verstärkt als verändert, indem Nutzer:innen ihren Bewegungsradius erweitern, ohne jedoch „die Grenzen der eigenen sozialen Welten zu verlassen“ (S. 276).
Den Auftakt zum dritten thematischen Abschnitt Global-lokales Raumwissen macht ein Beitrag von Gunter Weidenhaus und Eva Korte, der sich mit den Praktiken der Lebensführung und Statusarbeit der „globalen“ Mittelschicht auseinandersetzt. Im Vergleich zwischen Kenia und Deutschland zeigen die Autor:innen auf, dass die jeweiligen Raumvorstellungen und insbesondere die Identifikation als Globalist:in vor dem Hintergrund historisch bedingter kolonialer und postkolonialer Subjektivitätskonstruktionen deutlich differieren. Überaus anschaulich und gelungen ist der Beitrag von Linda Hering und Julia Fülling. Die Autorinnen untersuchen die Raumlogiken, nach denen die Produktionsnetzwerke von Bananen aus der Karibik strukturiert sind. Sie verdeutlichen, dass in der Kommunikation am Verkaufsort die Raumfiguren des Orts- und des Bahnenraumes sehr unterschiedlich zum Tragen kommen. Geografisch markierte Anbaugebiete werden in den Werbestrategien sichtbar gemacht und durch ästhetische Landschaftsaufnahmen und Darstellungen der Produzent:innen symbolisch aufgeladen. Die Logistik der containerisierten Seeschifffahrt mit Kühlcontainern und Reifelagern wird komplett ausgeblendet. Der Beitrag von Anna Steigemann und Philipp Misselwitz diskutiert räumliche Praktiken des „Homemaking“ in Berliner Unterkünften für geflüchtete Menschen. Gezeigt wird eindrücklich, dass in diesen Praktiken der räumlichen Aneignung und Transformation der Unterkünfte bestehendes Raumwissen mobilisiert und refiguriert wird, das zuvor „in verschiedenen Kontexten (polykontextural) und an unterschiedlichen Orten (translokal) angeeignet wurde“ (S. 406). Die Autor:innen plädieren dafür, diesem Raumwissen im Integrationsprozess mehr Aufmerksamkeit zu widmen und es stärker als Ressource zu nutzen.
Den Abschluss des Bandes bilden zwei Beiträge, in denen der Forschungsprozess aus methodischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive reflektiert wird. Séverine Marguin setzt sich mit den Bedingungen interdisziplinärer Wissensproduktion im Kontext des Sonderforschungsbereiches auseinander. Sie diagnostiziert seitens der Soziologie eine „Kreativisierungstendenz“, seitens der Architektur eine „Verwissenschaftlichungstendenz“ (S. 148). Diese „konvergierende[n] Tendenzen“ (ebd.) führten zunehmend zu wechselseitigen methodischen wie konzeptionellen Anleihen aus der jeweils anderen Disziplin. Die Autorin zeigt auf Basis einer an Bourdieu angelehnten feldtheoretischen Argumentation, dass diese Annäherung innerhalb des Forschungsverbundes nicht ohne Friktionen von Statten geht. Auch wenn sich die Emergenz eines neuen akademischen Feldes der interdisziplinären Raumforschung andeute, blieben insbesondere die Karrierewege für Nachwuchswissenschaftler:innen stark disziplinär geprägt. Séverine Marguin und Hubert Knoblauch beschließen den Band mit einem Beitrag aus der Perspektive einer „reflexiven Methodologie“, die „die Analyse des Forschens als eines praktischen Handelns“ (S. 447) zum Ziel hat. Vor dem Hintergrund einer wissenschaftstheoretischen Einordnung werden die Rolle der Wissenschaftsethnografin innerhalb des SFB sowie das kommunikative Format der „sensitizing visits“ als Instrumente der „kollektiven Selbstbeobachtung und -reflexion“ (S. 451) diskutiert. Interdisziplinäre Forschung, so das Resümee, sei auch in sozial-kommunikativer Hinsicht ein anspruchsvoller Prozess, schließlich seien Missverständnisse, gegenläufige Zielsetzungen und disziplinäre Hierarchien Teil der alltäglichen Arbeit im Verbund.
Der Band gibt Einblicke in laufende Forschungsarbeiten, insofern ist es nachvollziehbar, dass die Beiträge sich im Hinblick auf empirische Befunde unterschiedlich ergiebig darstellen. Dennoch bieten viele der Beiträge greifbare erste Ergebnisse, die die Ausgangsthesen empirisch unterlegen. Interessant ist, dass nicht nur offensichtliche räumliche Phänomene und Dynamiken erforscht werden, sondern auch empirische Beispiele kommunikativer Prozesse diskutiert werden, in denen Räumlichkeit eher implizit eingeschrieben ist und erst durch die Forschungen sichtbar wird. Es fällt auf, dass einige der ergiebigsten Beiträge sich ethnografischer Methoden bedienen, etwa diejenigen zu digitalisierten Kontrollzentren, zum Planungshandeln, zur Smart City Songdo oder zu den Produktionsnetzwerken der Banane. In methodischer Hinsicht neue Wege beschreitet insbesondere der Beitrag zu den Raumpraktiken in Berliner Unterkünften für Geflüchtete und bietet damit eine äußerst gewinnbringende Illustration für die Mobilisierung von Raumwissen. Sehr ergiebig ist auch die wissenschaftstheoretische Reflexion der letzten beiden Beiträge, die für das Feld der interdisziplinären Raumforschung wichtige Anknüpfungspunkte liefert.
Man darf gespannt sein, wie die Ausgangsthese der Refiguration im weiteren Forschungsverlauf präzisiert und weiterentwickelt wird. Aktuell nehmen die Forschenden, möglicherweise auch vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Disziplin, unterschiedlich darauf Bezug. Löw und Knoblauch schlagen vor, Refiguration als Prozess auf der Ebene sozialen und kommunikativen Handelns zu denken, der sich durch einen „Qualitätswechsel des Sozialen“ (S. 32) auszeichnet. Die relevante Einsicht der bisherigen Forschungsarbeiten und -ergebnisse ist, dass sowohl gesellschaftliche Transformationsprozesse als auch individuelles Handeln aktuell grundlegend von gegensätzlichen räumlichen Wirkkräften gekennzeichnet sind – ein Widerspruch, der durch (politische) Entscheidungen für oder gegen bestimmte Verortungen, Grenzziehungen oder räumliche Skalen nicht aufgelöst werden kann.
Fußnoten
- CAD ist ein Akronym für Computer Aided Design. Auf dieser Technologie basierende Anwendungen werden beispielsweise zur Erstellung von 2D- und 3D-Modellen im Bereich der Gebäudekonzeption oder der Landschafts- und Gartengestaltung verwendet.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Digitalisierung Globalisierung / Weltgesellschaft Stadt / Raum Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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