Markus Holzinger | Rezension |

Nicht normale Organisationen

Kritische Anmerkungen zu Stefan Kühls "Soziologie des Holocaust"

Stefan Kühl:
Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust
Deutschland
Berlin 2014: Suhrkamp
411 S., EUR 16,00
ISBN 978-3-518-29730-8

1. Einleitung

Wer sich als Soziologe mit dem Holocaust beschäftigen will, muss erst einmal zur Kenntnis nehmen, dass dazu auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten eine bereits elaborierte Forschung vorliegt. Die letzten 25 Jahre „waren durch einen regelrechten internationalen Boom der Forschung geprägt.“[1] Wenige Themengebiete können eine derart große Relevanz für sich beanspruchen wie der Holocaust und das nationalsozialistische Deutschland. Nicht nur liegen mittlerweile – etwa mit Raul Hilbergs Grundlagenwerk[2] – Strukturgeschichten vor. Schon früh hat sich die Geschichtswissenschaft mit der „Anatomie des NS-Staates“ auseinandergesetzt. In Bezug auf den nationalsozialistischen Staat haben beispielsweise Martin Broszat[3] oder Hans Mommsen argumentiert, dass Hitler entscheidungsscheu und in vielerlei Hinsicht ein „schwacher Diktator“[4] gewesen sei. An die Stelle einer geordneten Regierung seien selbstzerstörerische, zerfallsbringende Impulse und Elemente getreten.[5] Hitlers Staat sei durch Ämterchaos und „polykratische“ Verwerfungen zu charakterisieren. Seine Führung ersetzte dementsprechend die geregelten Verfahren der Bürokratie durch eine amorphe „okkasionelle Binnenstruktur“.[6] Zahlreiche Sonderstäbe wurden mit Spezialaufgaben versehen, die an Stelle der Routinetätigkeiten der Bürokratie agierten. Insofern unterlief sie die geregelten Verfahren der Bürokratie, installierte vielmehr installierte, wie Broszat herausgearbeitet hat, ein „Geflecht von Personenbindungen“ auf der Basis von Cliquen.[7]

In den 1990er-Jahren begann in Deutschland wie in den anderen europäischen Ländern eine lange Phase „der intensiven empirischen Erforschung des Judenmords“.[8] Der Genozid fiel mit den Weltkriegen zusammen, insofern sind Vernichtung und Krieg nicht zu trennen. Zu den veränderten Perspektiven gehörte das zunehmende Interesse an der Deportation und Ermordung der Juden in Osteuropa. Entsprechende Studien liegen etwa zu Weißrussland,[9] Galizien[10] und Litauen vor.[11] Tatsache ist, dass ein „in sich konsistentes Konzept“ oder ein Metaplan zur „Endlösung der Judenfrage“ zu keinem Zeitpunkt vorlag, worauf Hans Mommsen immer wieder verwiesen hat.[12] Der erste Weltkrieg und seine Folgen für Deutschland, nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise von 1930, ließen die Vorstellung aufkommen, eine Eroberung des „Lebensraums Ost“ sei notwendig und damit einhergehend die Zerschlagung der Sowjetunion als Großmacht.

Der Krieg in Osteuropa war ein „war of occupation“[13] und diente weitestgehend der „Sicherung des Raumes“.[14] Die Praxis einer stufenweise sich vollziehenden Eskalation des Terrors, war das Resultat eines Amalgams aus Kriegswirtschaft, Bevölkerungspolitik, Agrarproduktion und der Ernährungssituation.[15] Die Grundidee bestand darin, Millionen Bürger der Sowjetunion umzusiedeln, dem Hungertod auszuliefern und die Ukraine als die „Kornkammer Rußlands“ unter die deutsche Gewalt zu bekommen.[16] 31 Millionen Slawen sollten dem Tod preisgegeben werden.[17] Die Intensivierung und „Beschleunigung“[18] der systematischen Ermordung verschiedener osteuropäischer Bevölkerungsgruppen – insbesondere zwischen dem März 1942 und dem Frühjahr 1943 – war dann eine Konsequenz zunehmender Versorgungsprobleme, ernährungspolitischer Engpässe und einer schleichenden „Angst vor der Niederlage“[19]. In Weißrussland starben nicht nur über eine halbe Million Juden, es wurden auch hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene und zahllose Zivilisten getötet. Die zunehmende Brutalisierung der Verhältnisse war für den Handlungsrahmen der Täter maßgeblich. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass gerade in Regionen wie im Baltikum, in Weißrussland und in der Ukraine die Massenverbrechen der Nationalsozialisten gegenüber Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen von Anfang an besonders brutal ausfielen, weil sie quasi in einem rechtsfreien Raum stattfanden.[20] Vor dem Hintergrund imperialer Expansion bot der Krieg im Osten den Raum, „um den Prozeß der Radikalisierung in den Völkermord münden zu lassen“.[21]

Gleichzeitig kennzeichnete die „Dynamik des Tötens“[22] der Umstand, dass Juden sowohl in der Ukraine wie in Weißrussland ohnehin schon Opfer von russischen respektive sowjetischen Pogromen gewesen waren.[23] Die stalinistischen Massenmorde fanden eben in der gleichen Region statt, wie der Großteil der nationalsozialistischen Verbrechen.[24] Dieser Befund beleuchtet, dass die millionenfachen Tötungsverbrechen unter kolonialer Besatzungspolitik realisiert wurden. Mithin stellt sich nicht von ungefähr die Frage nach dem kolonialen Charakter des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges in Osteuropa.[25]

Gegenwärtig hat sich die Holocaust-Forschung „immer stärker ausdifferenziert und spezialisiert“.[26] Es gibt mittlerweile eigene Subdisziplinen, wobei sich insbesondere die sogenannte „Täterforschung“ als produktiv erwiesen hat.[27] Die internationale Forschung hat sich nicht nur mit dem engeren Handlungsrahmen der Täter beschäftigt, sondern darüber hinaus auch die „Opfer“ und „Bystander“ einbezogen. Und die Debatte um die Bedeutung der „Volksgemeinschaft“ ging der grundsätzlichen Frage nach, wie weit die im deutschen Volk laut gewordenen Wünsche nach Kontinuität und Veränderung durch das ethnopolitische Projekt einer künftigen „Volksgemeinschaft“ Ausdruck fanden.[28] Offensichtlich konnte der Nationalsozialismus – obwohl seine volkswirtschaftlichen Resultate de facto die propagierten Versprechen etwa in Sachen Massenkonsum nicht einlösten –, „bei seinem Aufstieg das tiefe Gefühl der sozialen, kulturellen und politischen Gespaltenheit, das in der Weimarer Republik herrschte, ausnützen und durch die Beschwörung der nationalen Einheit viele Anhänger gewinnen.“[29]

Die hier nur im Umriss angedeuteten historischen Querverweise sind deswegen aufschlussreich, weil für die Beschäftigung der Soziologie mit dem Holocaust lange Zeit das gleiche zu gelten schien wie für die Beschäftigung mit Kriegen überhaupt: Er wurde in der Soziologie – bis auf wenige Ausnahmen[30] – nahezu verdrängt.[31] Dabei bestand das Manko der Soziologie vor allem darin, dass die Existenz des Dritten Reichs insbesondere „in der Theoriebildung weitgehend unberücksichtigt geblieben ist“,[32] obgleich sich doch gerade der Nationalsozialismus dazu angeboten hätte, eingespielte Fragestellungen und Grundbegriffe soziologischer Theorie – insbesondere der Modernisierungstheorie – zu überprüfen. Erst in den letzten Jahren wurde das Schweigen der Soziologie zum Nationalsozialismus gebrochen.[33] Nun hat Stefan Kühl mit seinem Buch Ganz normale Organisationen aus der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns eine umfassende Arbeit zu dem Thema vorgelegt.[34] Sein Ziel ist es, die kaum noch zu überschaubare Anzahl historischer Arbeiten über den Holocaust durch eine „dezidiert soziologische Antwort“ (8) zu ergänzen. Das Buch soll die Frage beantworten, weswegen sich „ganz normal erscheinende Menschen an den Gräueltaten beteiligt“ (54) haben. Kühl zufolge bleiben die Erklärungsansätze, die sich bisher auf das Handeln der „Täter“ konzentrierten, allesamt „unklar“ (14). Keine einheitliche Erklärung sei vorgelegt worden, nur eine in aufzählungsartiger Form dargebotene „biedere Faktorenforschung“ (14). Zugespitzt ließe sich sagen, dass Kühl auf der Basis systemtheoretischer Prämissen der zeitgenössischen Historie das Wasser abgraben möchte, indem er die Erforschung von Tätermotivlagen in einen organisationssoziologischen Kontext überführt. Ausgangspunkt seiner zentralen Hypothese, man müsse von der Funktionsweise „ganz normaler Organisationen“ ausgehen, um die Praxis exzessiver Gewalt zu erklären, ist die Beobachtung, „dass mehr als 99 Prozent aller Tötungen von Juden durch Mitglieder staatlicher Gewaltorganisationen durchgeführt wurden“ (22).

„Als staatliche Gewaltorganisationen werden Organisationen wie Armeen, Milizen und Polizeien verstanden, die Gewalt androhen und einsetzen, um staatliche Entscheidungen durchzusetzen. Sie unterscheiden sich von nichtstaatlichen Gewaltorganisationen wie Schlägertrupps, Terrororganisationen oder marodierenden Söldnergruppen dadurch, dass sie ihre Handlungen mit der Durchsetzung von staatlich legitimierten Ansprüchen begründen können.“[35]

Der Erfolg von Kühls Erklärungsmodell, ja der Erfolg seiner Studie insgesamt, steht und fällt demnach mit dem Nachweis, dass die Variable „staatliche Organisation“ nicht nur eine bedeutsame, sondern die ausreichende Bedingung schlechthin – im Sinne Kühls: „der Grund“ – für die Judenvernichtung gewesen sei. Angesichts der Klage über die Versäumnisse der Soziologie in Sachen Holocaust greift man mit hochgesteckten Erwartungen zum Buch von Stefan Kühl. Die Lektüreerwartungen werden meines Erachtens jedoch in eminenter Weise enttäuscht. Kühls Ausarbeitung einer Erklärung des Holocaust aus dem Blickwinkel der systemtheoretischen Organisationstheorie Luhmanns halte ich für unzulänglich und misslungen. Der Erklärungsanspruch der Studie, die ihr Titel suggeriert, ist ungerechtfertigt.

Um meine Behauptung zu präzisieren, gehe ich folgendermaßen vor: Der Aufsatz geht in einem ersten Teil zunächst der Frage nach, ob die Luhmann‘sche Organisationstheorie zu einem ausgezeichneten Bezugs- und Anknüpfungspunkt für die Thesen Kühls herangezogen werden kann (Abschnitt 2). Der zweite Teil dieses Aufsatzes ist einer genaueren Betrachtung von Kühls Erklärungsmodell gewidmet. Im Kern geht es um die Frage, inwieweit es Kühl gelingt, die Motivation von Tätern, an den Massenmorden teilzunehmen, tatsächlich mit Hilfe der „Systemreferenz Organisation“ (37) zu explizieren (Abschnitt 3). Der dritte Teil setzt sich schließlich mit der Frage auseinander, welchen Sinn Kühls Thesen machen, stellt man sie in einen komparativen Kontext (Abschnitt 4).

2. Kühls Fehlinterpretation der Organisationstheorie Niklas Luhmanns

Was ist Kühls spezifisches Erkenntnisinteresse? Seine These lautet, die bisherige Holocaustforschung habe nicht erkannt, dass die Täter ihre Handlungen „erst im Rahmen von Organisationsmitgliedschaften“ (33) begingen. Weil der zeitgenössischen Holocaustforschung der Zugang zum Konzept der Organisation bisher verschlossen war, zielt Kühls Forschungsinteresse darauf ab, das Phänomen Organisation aufmerksamer wahrzunehmen, als es bisher geboten und üblich schien. Dazu bedient er sich der Organisationssoziologie von Niklas Luhmann. Im Zentrum steht Luhmanns Theorie formaler Organisationen, näherhin dessen Konzept von „Organisationsmitgliedschaft“. Organisationen zeichnen sich nach Luhmann dadurch aus, dass

die Anerkennung und Befolgung bestimmter Verhaltenserwartungen zur Bedingung der Mitgliedschaft in einem Sozialsystem gemacht wird derart, daß nur eintreten kann, wer diese Mitgliedschaftsbedingungen akzeptiert, und austreten muß, wer gegen sie rebelliert. Auf diese Weise werden die Vorteile einer bestimmten Mitgliedschaft, zum Beispiel der Bezug eines Geldgehaltes, künstlich mit definierten oder doch definierbaren Pflichten zu einer Mitgliedsrolle verbunden.“[36]

Damit tritt für die Mitglieder der Organisation ein Mechanismus von elementarer Bedeutung in Kraft: „Die Mitglieder stellen sich auf den Unterschied von ‚persönlich‘ und ‚dienstlich‘ ein.“[37] Folglich findet sich die Organisationsleitung weitestgehend von Motivationsaufgaben „entlastet“,[38] können die Mitglieder einer Organisation die an sie gestellten Erwartungen doch nicht verweigern, „ohne ihre Mitgliedschaft zu riskieren.“[39] Das Belohnungssystem „bezahlter Indifferenz“ sorgt dafür, dass über die Mitarbeiter im Rahmen „flexibler Sachentscheidungen“ verfügt werden kann.[40] So bildet die Mitgliedschaft, nach Kühl, gewissermaßen das Scharnier für eine Art „Generalgehorsam“ (92), den Organisationen von ihren Mitgliedern erwarten dürfen.

An dieser Stelle ist auf einen wichtigen, ja zentralen Punkt der Luhmann‘schen Organisationstheorie hinzuweisen: Für ihn ist die Mitgliedschaft in formalen Organisationen nämlich an Bedingungen gebunden, die sein Organisationskonzept eng mit der von ihm entwickelten Theorie moderner Gesellschaften verbindet.[41] So verweist die Legalität einer formalen Organisation auf gesellschaftliche Gegebenheiten, die vorausgesetzt werden müssen, soll sich so etwas wie formale Mitgliedschaft überhaupt herauskristallisieren können. Ermöglicht wird etwa die Formalisierung generalisierter Verhaltenserwartungen durch den Rückgriff auf das formalisierte Recht.[42] Gleichzeitig operiert Luhmann zufolge auch das staatliche Gewaltmonopol mit dem Beginn der Moderne im Schatten des Rechts. Daher ist Politik zweitcodiert, nämlich durch die „rechtliche Codierung der Macht“.[43] Der moderne Staat ist, anders gesagt, „ohne die Gesetzesförmigkeit seiner Verfassung und ohne die Gesetzesbindung seiner Verwaltung kaum vorstellbar.“[44]

Was folgt aus diesem Seitenblick auf Luhmanns Theoriearchitektur für eine systemtheoretisch inspirierte Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus? Unter dem Blickwinkel der Luhmann‘schen Organisations- und Gesellschaftstheorie haben wir es im nationalsozialistischen Staat gerade nicht mit ganz normalen Organisationen zu tun, denn von funktionaler Differenzierung (etwa zwischen Recht und Politik) kann angesichts des nationalsozialistischen Regimes keine Rede mehr sein. Zwar gründete die nationalsozialistische Herrschaft auf einem modernen Machtapparat. Freilich hatte Hitler in seinem Griff nach der Macht sämtliche Institutionen abgeschafft, die eine Differenzierung der Staatsorgane gewährleistet hätten. „Nicht das selbst in seiner repressivsten Form bindende staatliche beziehungsweise formalrechtliche Regelwerk einer Diktatur“ bildete die Handlungsgrundlage des „Dritten Reiches“, sondern „das sogenannte ‚gesunde Volksempfinden‘….“[45] Mit diesem Befund wird verständlich, warum Hitler kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 28. Februar eine „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ unterzeichnete, in der Ernst Fraenkel die eigentliche „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“ identifiziert hat. Der politische Sektor des „Dritten Reiches“ bildete fortan ein „rechtliches Vakuum“, womit der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt war.[46] Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) bot Hitler die nächste Gelegenheit, die horizontale Gewaltenteilung dadurch zu destruieren, dass legislative Kompetenzen an die Exekutive (die Reichsregierung) delegiert wurde.

Nachdem Hitlers Regierung dann fest im Sattel saß, wurde für den gesamten politischen Bereich die Garantiefunktion von Gesetzen und Rechtsnormen grundsätzlich außer Kraft gesetzt.[47] Der Reichstagsbrand lieferte Hitler einen willkommenen Anlass, durch die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ einen ganzen Strang von Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung (WRV) – das heißt primär die Abwehrrechte gegen staatliche Übermacht – „bis auf weiteres“ ihrer Geltung zu entheben.[48]

Mit anderen Worten: Die institutionellen und ideologischen Strukturmuster, die die Ursachen des Holocaust bilden, sind mit einer Luhmann‘schen Gesellschafts- und Organisationstheorie nur schwer vereinbar. Für den Luhmann der autopoietischen Wende waren expansive Übergriffe des Politischen in die autonome Sphäre des Rechts nahezu undenkbar. „Auch das Rechtssystem“, heißt es in seiner Rechtssoziologie, „kann keinen Ausnahmezustand akzeptieren.“[49] Luhmann blieb hier – nicht anders als Jürgen Habermas – ein Kind der Nachkriegsjahre und ein Theoretiker des demokratischen Verfassungsstaates. Zwar thematisierte er, worauf Kühl zu Recht hinweist, auch die informalen Seiten einer Organisation, also Praktiken der Informalisierung oder Personalisierung, wie sie in der jüngeren NS-Forschung als Spezifikum nationalsozialistischer Herrschaft gelten.[50] Doch darf mit Blick auf den Zuschnitt der Organisationssoziologie Luhmanns folgendes nicht vergessen oder übersehen werden: Formale Erwartungen haben nach seinem Verständnis von Organisationen „ein Monopol auf Legitimität.“[51] Innerorganisa­torisch besitzen sie Luhmann zufolge eindeutig die Oberhand. Ein solches Primat ist für den Nationalsozialismus jedoch schlechterdings nicht ausweisbar.

Weil sich Kühl im Laufe seiner Untersuchung dieser signifikanten Tatsache bewusst wird, muss er das Luhmann‘sche Erklärungsmodell, das ja den konzeptuellen Kern seines Erklärungsversuchs bereitstellt, ergänzen. Es wird mit anderen Konzepten konfundiert, so dass sich Kühls Ansatz, weit davon entfernt, einheitlich und konsistent zu sein, am Ende eher wie eine Montage aus heterogenen, organisationssoziologischen Versatzstücken darstellt. Obwohl auch Kühl auf den legitimierenden Staatsbegriff verweist (260), behauptet er, der NS-Staat habe die Position vertreten, dass die enge Rechtsbindung – insbesondere für seine Organisationsmitglieder – „gelockert werden müsse“ (288). Kurzerhand greift Kühl auf das Konzept der „Zwangsorganisationen“ (126) zurück, von dem sich Luhmanns Organisationssoziologie explizit und mit historischer Begründung abgesetzt hatte. Zwangsorganisationen agieren in Bezug auf ihre Mitglieder mit dem „Einsatz von Gewalt“ (126). Dementsprechend spricht Kühl dann auch von „staatlichen Gewaltorganisationen“ (179, 286). Weil es sich im Dritten Reich gerade nicht um „normale“ Organisationen handelt, die – wie Luhmann herausstellt – „gewaltarm“ (126) handeln –, muss Kühl (313ff.) Lewis Cosers Konzept der „gierigen Organisationen“ ins Spiel bringen. Bei Coser wird er fündig, weil dessen Organisationssoziologie – im Gegensatz zu Luhmann – nachdrücklich betont, dass gierige Organisationen „von ihren Mitgliedern exklusive Loyalität verlangen, indem sie andere Rollenengagements zu kontrollieren, einschränken oder gar zu unterbinden suchen“ (316). Coser hatte Gruppen und Organisationen im Auge, „that can be said to be greedy, i.e., that are not content with claiming a segment of the energy of individuals but demand their total allegiance“.[52] Eine solche Organisationskultur stellt ihre Mitglieder vor eine harte Alternative: Entweder totale Zugehörigkeit oder soziale (unter Umständen gewalttätige) Exklusion.

Nun ist an Kühls Beschreibung, wie ich oben ja selbst erläuterte, nichts falsch. Sie ist freilich nicht mit Luhmanns Organisationssoziologie und deren gesellschaftstheoretischer Rahmung kompatibel. Zwar zeichnet Kühl ein ziemlich exaktes Bild der institutionellen Strukturmuster, wie sie die Historiker für den Nationalsozialismus längst rekonstruiert haben, doch sind seine Einsichten weder besonders innovativ, noch passen sie auf Luhmanns Organisationstheorie. Wenn Luhmann über Organisationen schreibt, hat er weder eine „Ausweitung der Indifferenzzone“ (320) noch „gierige“ Organisationen im Blick. Vielmehr geht es ihm um legale Organisationen. Ihre Legalität unterscheidet Luhmann zufolge moderne Organisationen von vormodernen oder anderen wie auch immer gearteten „Gewaltorganisationen“ (Kühl), in denen die personale Individualität der Mitglieder gleichsam gegen Null tendiert. Mitgliedschaft war eben in vormodernen Gesellschaften häufig mit Vollinklusion verbunden. „Erst die moderne Gesellschaft kann darauf verzichten“.[53] Somit setzen sich Organisationen für Luhmann aus Mitgliedern zusammen, deren Persönlichkeit in einer funktional differenzierten Gesellschaft nur partiell in die Organisation integriert werden kann. Und deswegen – und nicht weil sie gewaltförmig sind – sind die Mitgliedschaftsbedingungen für die Akteure gewissermaßen fraglos akzeptabel. Die Mitgliedschaft integriert bei Luhmann gerade nicht „die gesamte Person, sondern nur Ausschnitte ihres Verhaltens, nur eine Rolle neben anderen“.[54]

3. Was dient als Erklärungsgrundlage?

3.1 Organisation als ergänzungsbedürftiges Konzept

Die zentrale Frage in Kühls Studie lautet, weshalb ‚ganz normale Männer und Frauen‘ bereit waren, „Hunderte, ja manchmal Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu demütigen, zu quälen und zu töten“ (8). Die unabhängige Variable, die Kühl als Erklärungshinsicht anbietet, ist, wie bereits erwähnt, dann die Gegebenheit von „Organisationen“. Der Holocaust war, laut Kühl, täterspezifisch nur durchführbar, weil sich der NS-Staat „auf Organisationen […] stützen konnte“ (299). Schon diese knappen Andeutungen erklären, warum – ist das zu erklärende Phänomen die Täterschaft in Organisationen – der organisationalen Dimension des Geschehens beziehungsweise den „Strukturmerkmalen“ von Organisationen (32) hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Letztendlich sind alle weiteren und komplexeren Facetten sozialer Konfigurationen in einer Art konzentrischem Kreisarrangement um den Organisationsbegriff herum zu gruppieren. Dadurch sollen jene Lücken im Wissen ausfindig ausgemacht werden, die der Autor dank seiner Untersuchungen zu schließen beabsichtigt.

Auf den ersten Blick scheint das Mitgliedschaftsmodell eine einfache Lösung für die Frage anzubieten, weswegen sich „ganz normal erscheinende Menschen an den Gräueltaten beteiligt“ (54) haben. Mit dem (oben skizzierten) Konzept von Mitgliedschaft ließe sich demonstrieren, dass es die Einbindung in die Organisation des NS-Staates war, die die Täter dazu brachte, sich an Massenerschießungen und Deportationen zu beteiligen. Durch ihre Mitgliedschaft stellen die Akteure der „Organisation eine Art Blankoscheck für die Verwendung ihrer Arbeitskraft aus“ (92).

„Die ‚ganz normalen Männer‘ und die ‚ganz normalen Frauen‘ fingen in dem Moment an, sich an Tötungen von Juden zu beteiligen, als sie als Mitglied in einer staatlichen Organisation aufgefordert wurden, ihren Beitrag zum Vernichtungsprogramm zu leisten.“ (24)

Eine Organisation setze zwar „unterschiedliche Mittel zur Motivation ihrer Mitglieder“ (86) ein. Doch liege, so Kühl, das Beunruhigende am Holocaust gerade darin,

„dass es bei organisierten Gewaltanwendungen zweitrangig ist, aus welchen Motiven sich Personen an Folterungen, Erschießungen oder Vergasungen beteiligen. […] Was am Ende für die Organisation zählt, ist allein, dass die von ihr erwarteten Handlungen ausgeführt werden.“[55]

Diese Hypothese ist nach meinem Dafürhalten jedoch als eine angemessene Kontextualisierung der spezifischen Ursachen für den Mord an Millionen von Opfern deutscher Rassenpolitik vollkommen unhaltbar. Bei einem zweiten Blick erweist sie sich darüber hinaus auch noch als Sackgasse. Nähme man Kühls These für bare Münze, würde seine organisationsoziologische Prämisse in ihrer schlichten Form, wie Thomas Klatetzki zu Recht bemerkt hat, implizieren, „dass man jedes Krankenhaus, jede Werbeagentur, jede Universität oder jede Autofabrik geradezu problemlos in eine ‚killing organization‘ verwandeln kann: Alles, was laut Kühl geschehen muss, ist, dass das System entsprechende Verhaltenserwartungen an die Mitglieder stellt“ 56. Doch dürfte die Überführung eines „alltäglichen“ Organisationszwecks (etwa die Dienstleistungen eines Krankenhauses) in ein genozidales Programm zumindest unter rechtsstaatlichen Bedingungen, wie Kühl selbst zugesteht (307), kaum zu bewerkstelligen sein.

Dass es in der Tat keiner abnormen Persönlichkeit bedarf, um aus einem Menschen einen Mörder und brutalen Täter zu machen, können Harald Welzers[57], aber auch Sönke Neitzels und Welzers gemeinsame Studien[58] zeigen. Ausgangspunkt ihres Erklärungsversuchs ist die These, dass Täter im Normalfall keine disponierten Verbrecher und Gewaltmenschen sind. Für Welzer ist deshalb der gesellschaftliche Referenzrahmen entscheidend, innerhalb dessen die Täter handelten. Denn, wenn es zutreffend ist,

„dass es keine Mörder gibt, sondern nur Menschen, die Morde begehen, sind die meisten von uns unter Umständen wahrscheinlich bereit zu töten – es müssen nur die situativen, sozialen und handlungsdynamischen Bedingungen dafür vorliegen, dass sich Potentialität in Handeln übersetzt.“[59]

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Menschen Mitglieder einer Organisation sind, sagt zunächst schlichtweg nichts über den Kontext aus, in dem die Täter ihre Handlungen ausüben. Der nationalsozialistische Judenmord vollzog sich ja nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb bestimmter Sinn- und Relevanzstrukturen. Es sind latente Denk- und Wahrnehmungsschemata sowie Handlungsdispositionen, aber auch korrelierte moralische Zurechnungssysteme nötig, um die Menschen zu veranlassen, exzessive Gewalt auszuüben. Dass es sich dabei um das ganz normale Verhalten innerhalb der Indifferenzzone handelt, ist eine Behauptung, die zur Erklärung nicht ausreicht. Vielmehr lautet die entscheidende Frage, so Klatetzki,

„wie diese Verbote organisatorisch außer Kraft gesetzt werden können. Damit das gelingt, bedarf es vor allem eines ideologischen Rahmens, einer Legitimation (‚die nationale Sicherheit‘, ‚das Judenproblem‘), die es den Individuen gestattet, ihr brutales Handeln als angemessenes und richtiges Handeln zu definieren. Es bedarf weiterhin der Neutralisierung und Annullierung moralischer Bewertungen durch die Verwendung einer euphemistischen Sprache (‚Kollateralschäden‘), durch das Ausblenden der Konsequenzen der eigenen Brutalität und durch ideologische Vergleichsprozesse, die den Nutzen des eigenen Handelns herausstreichen.“[60]

Um es auf den Punkt zu bringen: Der „Organisationsbegriff“ ist in diesem Zusammenhang als wesensmäßig ergänzungsbedürftiger Ausdruck zu identifizieren. Wichtig an der Frage, warum die Täter zu derartigen Handlungen fähig waren, ist die institutionelle Handlungspraxis, die die Ausübung massiver Gewalt möglich machte.

3.2 Vermischung von Organisations- und Gesellschaftsebenen

Im Laufe seiner Studie scheint auch Kühl aufzugehen, dass gar nicht Organisationen oder Mitgliedschaft an sich den Erklärungsrahmen für die Handlungen der Täter liefern können, sondern die „gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (92). Breiten Raum nehmen in Kühls Text daher Ausführungen ein, die sich mit Merkmalen beschäftigen, die den gesellschaftlichen und nicht, wie der Leser erwarten würde, den organisationalen Rahmen der Täter bilden.

– Im Rekurs auf Götz Aly konstatiert Kühl, dass es sich beim Nationalsozialismus um eine „Zustimmungsdiktatur“ (100) gehandelt habe. In dieser Zustimmungsdiktatur zehrte der organisationale Rahmen von der übergeordneten „Konsensfiktion“ (102) der nationalsozialistischen Ideologie. Aly hatte gefordert, wirtschaftliche und ideologische Komponenten nicht länger als Gegensätze zu begreifen, und zu einer Ökonomisierung des Holocaust beigetragen. Zur Beantwortung der Frage, warum Hitler so schnell die Loyalität der Mehrheit mobilisieren konnte, formulierte er die These, die Deutschen hätten sich durch die wohlfahrtstaatlichen Verbesserungen (Krankenversicherung, Lohn- und Rentenerhöhung, Einführung des Kindergeldes etc.) einnehmen lassen. Hitler habe das Volk mittels sozialer Wohltaten gleichsam systematisch bestochen.[61] Dabei wurde ein Teil der notwendigen Bestechungssummen durch die Enteignung der Finanz- und Betriebsvermögen der europäischen Juden eingetrieben. Kühl bindet Alys These von der „Gefälligkeitsdiktatur“ an die Funktion der regulären Entlohnung im Rahmen der Mitgliedschaftsmotivation (177ff.). Ein großer Teil der Bevölkerung – nach Kühl: auch die Täter – wurde zu Nutznießern der „gewaltigen Raubmaschinerie“ (195). Wie die „Masse“ habe auch der Einzelne auf der Ebene der Organisationseinheit „vom jüdischen Eigentum profitiert“ (181).

– Kühl bezieht sich auch auf den Korpsgeist der militärischen Einheiten und die „Kameradschaftserwartungen“, die Felix Römer oder Sara Berger[62] in ihren exemplarischen Arbeiten ausführlich herausgearbeitet haben und zieht aus diesen Befunden Analogien zur „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ im Sinne einer „totalen Gemeinschaft von Kameraden“ (163).[63] Damit zusammenhängend kristallisierte sich ein spezifischer Konformitätsdruck heraus, auf den bereits Browning[64] oder Pohl[65] verwiesen haben. Sie führen überdies sozialen „Gruppendruck“, „Karrierismus“, „blindem Gehorsam und „Autoritätsgläubigkeit“ als Motive der Täter an. Das Gros der Soldaten führte Erschießungsbefehle nur widerwillig aus. Doch verstieß, wer sich der „unangenehmen Pflicht des Mordens“ entzog, „ gegen das Kameradschaftsgebot der gleichmäßigen Lastenverteilung.“[66]

– Selbstverständlich ignoriert auch Kühl nicht, dass der Holocaust durch einen totalitären Staat organisiert wurde, „einen Staat, der seinen Bürgern keine konkurrierenden Erwartungshaltungen gestattete“ (309). Das NS-Regime sei überhaupt kein Rechtsstaat gewesen, sondern „der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers“ (289) und habe in einer „Grauzone der Legalität“ (269) operiert. Kühl verweist auf Fraenkels These vom Doppelstaat. Die faktische Herrschaftsausübung kraft informaler Maßnahmen sei im Dritten Reich „lediglich rechtsstaatlich getarnt worden“. (288)

– Kühl thematisiert ebenfalls die Volksgemeinschaft als übergeordnetes Konzept (162), das in den letzten Jahren vor allem durch die Untersuchungen Michael Wildts auf Resonanz in der Geschichtswissenschaft gestoßen ist. Wildt hat dargelegt, wie wirksam das „rassistische Volksgemeinschaftsprojekt“ für die ideologische Indoktrination des Volkes gewesen ist.[67] Schließlich wurde bei Täteranalysen immer wieder die „antisemitische Grunddisposition“[68] der Akteure herausgestellt. Im Rahmen der von Wildt initiierten Analysen fand sich ein womöglich doch zu enger Täterbegriff problematisiert und die Frage in den Raum gestellt, ob Gewalt im „Dritten Reich“ nicht „vergemeinschaftet“ wurde.[69] Kühl nimmt auf solche Überlegungen affirmativ Bezug. Auch nach seiner Einschätzung legte die NS- Führung großen Wert auf die „weltanschauliche Erziehung“ (111): „In der NS-Propaganda verschwammen die Differenzen zwischen einem rassisch definierten Volk – der ‚Volksgemeinschaft‘ in einem Staat – und der ‚Gemeinschaft‘ in den NS-Organisationen – der ‚Volksgemeinschaft‘ im Betrieb…“. (163)

Nun sind diese Beobachtungen, die Kühl mit den entsprechenden Literaturreferenzen abstützt, sicherlich nicht falsch, allerdings alles andere als neu. Außerdem fragt man sich, ob sie die Schlussfolgerung rechtfertigen, auf die Kühl verfällt, wenn er reklamiert, er habe ein (neues) Erklärungsmodell für die Tätermotive begründet. Wieder treten theoriesystematische Mängel seiner Arbeit zutage. Das Problem besteht darin, dass sich die Konturen der organisationssoziologischen Analyseebene, auf die Kühl so großen Wert legt, mit der (übergeordneten) gesellschaftlichen Referenzebene vermischen, zumal im letzten Drittel seines Buches. Wird der Ausnahme- im NS-Staat zum Dauerzustand, wird – wie Fraenkel gezeigt hat – „der ‚Normenstaat‘ immer mehr durch einen ‚Maßnahmenstaat‘ überlagert“ (293) und greifen die Rassengesetze der NS-Justiz und die „Vorstellung von einer ‚rassisch reinen ‚Volksgemeinschaft‘ […] tief ‚in das Leben der Menschen‘“ (291) ein, dann sind diese Sachverhalte keineswegs auf organisationale Gegebenheiten zurückzuführen. Vielmehr verweisen sie unübersehbar auf die institutionellen und gesellschaftlichen Konstellationen des NS-Staates, die sich im Kern zu einer neuen historischen Gestalt von „Kontinentalimperialismus“[70] formierten. Die Täterforschung vermochte also nicht von ungefähr nachzuweisen, dass die Motive der Täter in Organisationen gerade nicht formal „generalisiert“ (330) waren. Sie genossen situativ ganz erhebliche Freiheiten und Handlungsspielräume.[71] Bei der Durchführung der Judenmorde falle, so Dieter Pohl, die „weitgehende Bedeutungslosigkeit formaler Kompetenzen ins Auge. Was in Verordnungen und Einzelerlassen scheinbar klar geregelt war, fiel in der Realität der Besatzungsherrschaft und der Personalengpässe bloßer Improvisation anheim“.[72] Nicht (vornehmlich) „aufgrund der Einbindung in eine Organisation“ (117), sondern aufgrund der gesellschaftlich vermittelten Sinnstiftungen und Deutungsmuster sahen sich die Täter befähigt, die angeordneten Massentötungen auszuführen.[73]

Schon diese wenigen Hinweise eröffnen der Forschung ganz unterschiedliche Optionen, welche Phänomene eigentlich untersucht und erklärt werden sollen. Kühl müsste deshalb methodisch zeigen, wo die Trennlinie zwischen gesellschaftlichen und organisatorischen Sachverhalten verläuft. Doch ist zu bezweifeln, dass es ihm gelingt, die Prämissen des von ihm angesteuerten „umfassenden Erklärungsansatzes“ (8) präzise zu formulieren. Dass organisationale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in vielfältiger Weise wechselseitig aufeinander bezogen und ineinander verschränkt sind, dürfte außer Zweifel stehen. Gleichwohl müssten Gesellschaft und Organisationen analytisch als zwei unabhängige Dimensionen traktiert werden, soll die organisatorische Perspektive, wie Kühl es anstrebt, stark gemacht werden.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Damit behaupte ich nicht, dass die Organisationsvariable für den NS-Staat keine Rolle spielt. Selbstverständlich musste auch und gerade die Ermordung von Millionen von Menschen organisiert werden.[74] Und die Organisationen sind sicherlich auch „Käfige“[75] gewesen, deren Insassen durch eine „Pervertierung der Disziplin“[76] zu blindem Gehorsam genötigt werden sollten. Doch kann eine Ursachenbeschreibung des Holocaust nur verständlich sein, wenn sie nachzeichnet, wie eng das Verbrechen „mit der gesamten nationalsozialistischen Gewaltpolitik verflochten war.“[77]

3.3 Wie hängt was miteinander zusammen?

Kühls Erläuterungen sind noch in einem weiteren Punkt unplausibel und kritikwürdig. Diese Kritik betrifft seinen Anspruch, eine Erklärung zu liefern, die beweise, „wie das alles miteinander zusammenhängt“ (14). Kühls Frage lautet: Was hat Polizisten, SS-Männer, Wehrmachtssoldaten „dazu getrieben“ (53), sich an den Massenmorden zu beteiligen? Ein raumzeitliches Ereignis zu erklären, heißt eine Rekonstruktion seiner kausalen Geschichte vorzulegen.[78] Und eine solche Erklärung ist dann eine kausale, wenn sie die Ursachen des Ereignisses benennt.[79] Ursachen wären in diesem Fall die „sinnhaften Gründe“[80], die einen Täter zu seiner Handlung veranlasst haben.[81] De facto handelt es sich bei Kühls „Soziologie des Holocaust“ jedoch um eine bloß additive Aufrechnung von möglichen Variablen und Symptomen. Der Gegenstand, den Kühl zu erklären behauptet, stellt sich bei Lichte besehen als eine willkürliche Auswahl typischer Bedingungskonstellationen dar: die antisemitische Grundeinstellung, kriegsbedingte Entgrenzung und Enthemmung, die Zerstörung des Rechtsstaates, Zwangs- und Gewaltmechanismen, Karriereorientierung, Korpsmentalität, Geld und Gruppendruck. Dass diese Auflistung die hinreichenden und notwendigen Bedingungen für die Motive von Personen umfasst, hat Kühl empirisch nicht gezeigt. Damit will ich nicht sagen, Kühl liege mit der Identifizierung und Durchleuchtung bestimmter Dimensionen in seiner Ursachenbeschreibung des Holocaust grundsätzlich falsch. Allerdings ist nach meinem Dafürhalten nur schwer zu sehen, inwiefern Kühls eher abstrakt gehaltenen Behauptungen die geprüften Aspekte tatsächlich „systematisch miteinander in Beziehung“ setzen (18). Für den hier zu verhandelnden Zusammenhang sind hauptsächlich zwei Problembereiche von Bedeutung.

Erstens: Motivationszuschreibungen (82f.) oder soziale Mechanismen (35), die Personen mit unterschiedlichen Motiven zu Massentötungen animieren (sollen!), erklären noch keine Motive. Das könnten sie nur, ginge Kühl von der Prämisse aus, dass der Sinn individuellen Handelns nicht auf die Selektion individueller Motive verweist, sondern sich überhaupt erst im Kontext einer sozialen Praxis bestimmen lässt. Um die Organisation tatsächlich als eine autonome Ebene auszuweisen, die Handlungen bedingt, müsste Kühl, wie Durkheim, „das Individuum eliminieren“.[82] Auf der anderen Seite ist in empirischer Hinsicht kaum zu bezweifeln, dass sich soziale Sachverhalte in der Regel nicht ohne die sinnhafte Bezugnahme von Akteuren auf Handlungen konstituieren. „Institutionen handeln immer nur durch Akteure, die sich ihren Leitideen verpflichtet fühlen.“[83] Organisationen haben keine Fähigkeit zur Selbstproduktion.[84] „Soziale Systeme selegieren als ‚soziale Systeme‘ selbst nichts.“[85] Dass die Handlung einer Person einem organisatorisch oder kulturell vermitteltem Schema folgt, bedeutet nicht, dass der Handelnde keine subjektiven Gründe hat, ist das organisationale Skript doch nicht (notwendigerweise) dasjenige Faktum, das ihn zum Handeln motiviert.[86] Kühl argumentiert hier offensichtlich widersprüchlich. Er behauptet, seine Studie eröffne, wie für akteurstheoretische Versuche üblich (37), einen „Zugang über die Motivation von Personen“ (36). Er muss aber später konzedieren, dass man mit dem Blick auf Mechanismen der Organisationen „über die wahren Motive von Personen soziologisch nichts sagen kann“ (86). Personen seien sogar – Kühl (32) spricht hier von einem innovativen „Clou“ (?) – „Strukturmerkmale von sozialen Systemen“ (32) und insofern, wie Luhmann seinerseits annimmt, „soziale Konstruktionen“.[87] Man darf Handlungen aber nicht nur als organisationalen Output auffassen, sondern muss – wenn man schon behauptet, die Motive der Täter im Blick zu haben – das soziale Handeln des Deutens, Zurechnens sowie Verarbeitens analysieren.[88]

Zweitens: Lässt man das (zugegebenermaßen) komplexe methodische Problem, dass Motivationszuschreibungen oder soziale „Mechanismen“ die Motive von Akteuren noch gar nicht erklären, einmal beiseite, stellt sich für den Versuch von Motivzuschreibungen die nicht minder schwierige Frage, welche Motive für welchen Typus von NS-Täter je nach seiner Rolle und seinem Engagement wirksam waren. Sollen Motive oder zumindest „Motivationszuschreibungen“ (82f.) ernsthaft rekonstruiert werden, reicht die bloß generelle Auflistung von Typen der Mitgliedschaftsmotivation nicht aus. Gerade zur Beantwortung der Frage, mit welchem Gewicht die genannten Faktoren – a) gesellschaftlicher Rahmen, b) Organisationssystem, c) Motive der Täter – auf die Aktivierung eines Skripts der Situationsdeutung einwirken, kommt es darauf an, im Einzelnen zu zeigen, warum und wie ein Akteur durch ein Deutungsmuster in seinen Motiven beeinflusst wird. Dieser Sachverhalt leuchtet umso mehr ein, als die Täterforschung gezeigt hat, wie schwierig es ist, analytisch eindeutige Kategorisierungen und Determinanten, die das Täterverhalten bestimmen, zu identifizieren.[89]

Unter den Arbeiten, die versuchen, die Täterperspektive in einer Narration kohärent nachzuzeichnen, ist etwa Michael Wildts Buch Generation des Unbedingten hervorzuheben, das sich mit Blick auf das NS-Personal der Jahrgänge zwischen 1900 und 1910 annimmt.[90] Anhand der Generationslage der „Kriegsjugendgeneration“ beschreibt Wildt die Karriere einer Gruppe exponierter „Weltanschauungstäter“,[91] sollte sich aus diesem Kreis doch später das Gros der Verwaltungselite des Reichssicherheitshauptamtes rekrutieren. Wildt untersucht die Geschichte dieser Generation, die ihren Anfang an den deutschen Universitäten in den 1920er-Jahren[92] nahm und den Karrierehöhepunkt erreichte, als sie im Reichssicherheitshauptamt Reinhard Heydrichs Vorstellung einer „kämpfenden Verwaltung“[93] verwirklichte. „Was zählte, war der politische Wille und die Entschiedenheit ihn durchzusetzen.“[94] Diesen Tätern verschaffte der institutionelle Wandel im „Dritten Reich“ die Handlungsspielräume, um ihre NS-ideologischen Imaginationen de facto zu realisieren. Im Oktober 1939 wurden die SS und die Polizei auf Anweisung von Hitler aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit herausgelöst. Sie waren nun einer gesonderten Gerichtsbarkeit in Strafsachen unterstellt, die „bei besonderem Einsatz“ zu erfolgen habe. Aufgrund dieser Maßnahme fielen Sicherheitspolizei wie der SD nicht mehr unter die Kontrolle durch die regulären Kriegsgerichte der Wehrmacht.[95]

Zusammenfassend lässt sich mit Michael Wildt sagen: „Erst aus der Verbindung einer generationellen Erfahrung, die sich zu einer spezifischen Weltanschauung formte, und einer Institution neuen Typs wie dem Reichssicherheitshauptamt sowie den Bedingungen des Krieges lässt sich die Praxis dieser Akteure erklären.“[96] Zumal im Vergleich mit einer Täterforschung, die zunehmend sowohl die „Intentionen als auch Persönlichkeitsdispositionen sowie die soziale Praxis und situative Dynamiken in die Analyse“[97] einbezieht, stößt Kühls abstrakte „Liste“ (88) und sein relativ unverbindliches „Bündel“ (241) der „Motivationsmittel“, über die eine Organisation verfügt, schnell ins Leere. Angesichts der Tatsache, dass die fruchtbarsten und überzeugendsten Ergebnisse in der Forschung über den Nationalsozialismus im Allgemeinen und über die Täter im Besonderen nicht nur durch heterogene Kombinationen prozessualer, narrativ-biographischer und institutioneller Ansätze bestechen, sondern auch durch die dadurch garantierte Ausleuchtung komplexer Faktorengeflechte[98] wirkt die Behauptung, die systemtheoretische Organisationstheorie führe alles in einem „umfassenden Erklärungsansatz“ (8) zusammen, nach meinem Eindruck etwas antiquiert. Dass Kühl die angekündigte Synthese faktisch nicht anbietet und sich der annoncierte Erklärungsansatz aus seinen Ausführungen auch nicht herausdestillieren lässt, macht die Sache nicht besser.

4. Normale Organisationen als Ursachenerklärung und soziologischer Vergleich

Kühl unterstreicht an mehreren Stellen seines Buches, dass er sein Erklärungsmodell durchaus im Kontrast zu anderen Konzepten verstehen möchte, die den Ursachen von Genoziden auf den Grund gehen wollen. Die Monographie sei konzeptionell „gegen den aktuellen Trend geschrieben, Massengewalt nicht durch die Anwesenheit, sondern gerade durch die Abwesenheit stattlicher Organisationen zu erklären“ (22). Wenn es sich bei der Ambition, Massengewalt jetzt endlich durch die Anwesenheit staatlicher Organisationen zu explizieren, nicht um eine bloße Behauptung handeln soll, hätte Kühl im Grunde einen komparativen Ansatz wählen müssen. Gerade im Vergleich hätte er zeigen können, dass die Täter „erst aufgrund der Einbindung in eine Organisation“ (117) zu tragenden Akteuren des Völkermordes wurden.[99] Das Erkenntnisziel des komparativen Vorgehens läge also darin, die maßgebliche Variable der Erklärung – für Kühl: die „Systemreferenz Organisation“ (37) – zu kontrollieren. In diesem Sinne betonte bereits Durkheim:

„Wir verfügen nur über ein einziges Mittel, um festzustellen, daß ein Phänomen Ursache eines anderen ist: das Vergleichen der Fälle, in denen beide Phänomene gleichzeitig auftreten oder fehlen, und das Nachforschen, ob die Variationen, die sie unter diesen verschiedenen Umständen zeigen, beweisen, daß das eine Phänomen vom anderen abhängt.“[100]

Vergleich heißt ja keineswegs, alles gleichzusetzen. Aber der Vergleich ist die analytische Operation, die uns erlaubt, „Ereignisse, Handlungen und Kontexte zu identifizieren, zu isolieren und voneinander abzugrenzen. Nur wer Vergleichen mit Gleichsetzen verwechselt, kann also glauben, der Nationalsozialismus könne mit anderen Diktaturen nicht verglichen werden“.[101]

Nun lässt sich aber leicht zeigen, dass es eine ganze Reihe von Völkermorden gegeben hat, bei denen die staatliche Organisation keine besondere Rolle spielte. Ein Beispiel hierfür liefert der Völkermord in Ruanda. Für die meisten Kriege und Konflikte in Afrika ist kennzeichnend, dass sie häufig von „Quasi-Staaten“[102] oder „Parastaaten“[103] ausgehen, deren Machtmonopol gar nicht vorhanden, schwach ausdifferenziert, gescheitert oder vollkommen zerstört ist. Innerhalb von einigen Wochen wurden beim Völkermord in Ruanda zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen ermordet. Die im Zuge der Entkolonialisierung an die Macht gelangten Hutu-Extremisten töteten systematisch Angehörige der Tutsi und gemäßigte Hutu. Der typische Gewaltakteur war in dieser Situation nicht eine staatliche SS-oder Polizeieinheit. Die Masse der Tutsi wurde „einer Keulen und Macheten schwingenden Meute überlassen, die aus der örtlichen Landbevölkerung, das heißt den Nachbarn, aber auch Freunden und zum Teil sogar Verwandten der Opfer bestand.“[104] Der Völkermord wurde weitegehend von Jugendgruppen, kleineren Milizen, Todesschwadronen organisiert und über Entwicklungsgelder finanziert.[105]

Christian Gerlach kommt in einer Studie zu „extrem gewalttätigen Gesellschaften“ anhand mehrerer Beispiele genozidaler Gewalt aus dem 20. Jahrhundert zu dem Ergebnis, dass die „schockierende Macht der Gewalt gerade von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren herrührt“.[106] So demonstrieren die Vorgänge in Indonesien in den Jahren 1965/66, wie eine ganze Gesellschaft zu partizipatorischer Gewalt aufgehetzt wurde, ohne dass machthabende Militärs und politischen Eliten die Exzesse zentral geplant und angeordnet hätten. Gerlach kritisiert an der Genozidforschung ihre „Staatsfixiertheit“ und ihren Hang „einen monolithischen Akteur aus Menschen (aus Beamten und anderen) zu konstruieren“.[107]

Nimmt man solche Beobachtungen ernst, so wird fraglich, ob bei einem Völkermord die Kategorie der staatlichen Organisation einen so zentralen Stellenwert einnimmt, wie Kühl suggeriert.[108] Man könnte freilich einwenden, der Holocaust sei für sich gesehen einzigartig und daher nicht mit anderen Massentötungen vergleichbar. Generell seien geschichtliche Großereignisse oder Makrogewalt zu komplex, um die für Vergleiche notwendigen Funktionsäquivalente dingfest machen zu können.[109] Und in der Tat sprechen gute Gründe dafür, die Singularität und letztendlich auch die Kontingenz von Genoziden ins Zentrum analytischer Betrachtungen zu stellen. Kühl scheint derartige Einschätzungen nahezulegen, wenn er die Massengewalt im Kontext des Holocaust explizit an strukturelle Besonderheiten knüpft. Dass er die Kategorie „staatliche Organisation“ (22) ins Spiel bringt, dient ja nicht zuletzt der Absicht, ein Unterscheidungsmerkmal des Holocaust gegenüber anderen Massenverbrechen namhaft zu machen. Für den hier verhandelten Zusammenhang bleiben Kühls Bemerkungen jedoch einerseits vollkommen unzureichend. Ganz lapidar erläutert er, man müsse in anderen Gewaltkontexten „eher auf gruppen- denn auf organisationssoziologische Erklärungen zurückgreifen“ (324). Was sein kurzer Hinweis in der Sache auch immer bedeuten möge, so ist er für einen umfassenden Erklärungsansatz, wie Kühl ihn anvisiert, viel zu oberflächlich und unsystematisch. Denn auch der Soziologe Kühl müsste näher klären, welchen Einfluss welche Gruppen unter welchen institutionellen Bedingungen auf „ganz normale Männer/Frauen“ hatten.

Andererseits wäre – bevor ich diesen Abschnitt schließe – noch die folgende Frage zu bedenken: Lässt sich der nationalsozialistische „Staat“ wirklich mit der gängigen Terminologie aus den Werkzeugkästen der Herrschafts- oder Staatssoziologie charakterisieren? Sicherlich ist der Holocaust zunächst staatsdirigistischer[110] als beispielsweise der Genozid der Roten Khmer, die als siegreiche kommunistische Guerillabewegung aus dem Bürgerkrieg hervorgingen.[111] Aber: Nimmt man Webers Kriterium der legitimen physischen Gewaltsamkeit oder gar – wie heute etwa (auch in der Systemtheorie Luhmanns) üblich – den Idealtypus des „demokratischen Rechts- und Interventionsstaates“ als Maßstab für die Moderne,[112] müsste die Geschichte des Dritten Reichs in Wahrheit doch als eine Geschichte der „Entstaatlichung“ geschrieben werden.[113] Franz Neumann ging sogar – in kritischer Absetzung von Fraenkel – noch einen Schritt weiter:[114] Unter dem Signum des autoritären Führerstaats vollzog sich im nationalsozialistischen Herrschaftssystem seiner Ansicht nach ein Prozess der fortschreitenden Erosion des staatlichen Charakters des Regimes.[115] Denn die Funktionseinheit des staatlichen Verwaltungsapparates wurde sukzessive durch die nationalsozialistische Einparteiendiktatur zerstört.[116] Wohl zu Recht hat Mark Mazower konstatiert, dass das „Dritte Reich“ „nicht wie andere Staaten geführt“ wurde.[117]

5. Schlussbemerkung

Zur Erinnerung: Kühls Studie reklamiert für sich, ein theoretisches Konzept zu artikulieren, das die verstreuten und unterschiedlichen Ursachenvariablen (die „biedere Faktorenforschung“ der Historiografie) „mithilfe der systemtheoretischen Soziologie zu einem umfassenden Erklärungsansatz“ (8) zusammenführt. Ziehen wir nun unsererseits die Fäden zusammen.

Erstens: Kühls Referenz auf Luhmanns Theorie vermag als Erklärungsgrundlage für den in Frage stehenden empirischen Fall nicht zu überzeugen. Das „Neue des nationalsozialistischen Regimes bestand darin“, so Michael Wildt, „daß es sich eben nicht auf Staat und Gesetz als Ordnungsprinzip gründete, sondern auf Volk und Rasse“.[118] Von Zwangsorganisationen und dem Nationalsozialismus ist in Luhmanns organisationssoziologischen Arbeiten jedoch nicht die Rede. Da ist für Kühls Unterfangen nichts zu holen. Luhmanns Aversion gegen Ausnahmen ist der Forschung keineswegs entgangen. So wurde seinem Ansatz beispielsweise theoretisches Versagen vor der zivilisationshistorischen Ausnahmesituation schlechthin bescheinigt, das heißt vor dem Schrecken des Holocaust und des nationalsozialistischen Terrors.[119] Will man Luhmanns Theorieansatz gerecht werden, ist er historisch wie konzeptionell ganz anders zu situieren. Was Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie (vor allem aber in seiner Rechts- und politischen Soziologie) reflektiert hat, ist ein ziemlich genau datierbarer Ausschnitt aus dem „normativen Projekt des Westens“ (H. A. Winkler) gewesen, namentlich die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik als eines Rechts- und Verfassungsstaates nach 1945. Erst unlängst hat Volker Kruse[120] in seinen Arbeiten über die kriegsgesellschaftliche Moderne nachgewiesen, wie ungeeignet das Luhmann‘sche Theoriegebäudes mit seiner Akzentuierung funktionaler Differenzierung dazu ist, die kriegerische Moderne im Allgemeinen und das nationalsozialistische Deutschland im Besonderen zu erfassen.[121] Anhand der gängigen Vorstellungen zur Verfasstheit von Moderne lässt sich der Nationalsozialismus nicht entschlüsseln. Dessen Modernisierungsversprechen – Wohlfahrtsstaatlichkeit, Vollbeschäftigung, Auflösung von Traditionen – trugen eindeutig regressive Züge. Es handelte sich allenfalls um eine „vorgetäuschte Modernisierung“[122] , die mit der Ermordung der europäischen Juden in Wahrheit einen eklatanten „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) manifestiert. Gerade diese mangelnde „Modernität“ des „Dritten Reiches“ offenbart die „normativen Defizite des deutschen Modernisierungsprozesses“[123].

Diese historischen Faktizitäten verdeutlichen, warum Kühl in weiten Teilen seines Textes gar nicht auf Luhmann rekurrieren kann, sondern „Zwangs“- oder „Gewaltorganisationen“ zur Kenntnis nehmen muss, die er sich mit Cosers Konzept „gieriger“ Organisationen erklärt. Im Resultat kommt es deshalb zur Aufweichung seiner Begrifflichkeit und zu einer Überdehnung seines Organisationsbegriffes, womit er sich eine Reihe von Widersprüchen einhandelt, die im Dementi seiner Grundthese gipfeln: Im Widerspruch zum Buchtitel gibt Kühl am Ende seiner Arbeit zu verstehen, dass die Zweckprogramme, wie sie die Führung des NS-Staates im Laufe des Zweiten Weltkrieges aufboten, „alles andere als normal“ (301f., siehe auch 321) gewesen seien. Die Täter des Nationalsozialismus agierten ganz und gar nicht in einem normalen gesellschaftlichen Referenzrahmen. Statt eines theoretisch und methodologisch kontrollierten Perspektivenwechsels in der Organisationsforschung präsentiert Kühls Analyse eine Perspektivenkonfusion.

Zweitens: Wer glaubt, des zugegeben komplexen Phänomens, das der Holocaust darstellt, mit Variablen, die leicht zur Hand sind, Herr werden zu können, muss die Frage, was eigentlich erklärt werden soll, klar beantworten. Kühls zentrale These lautet, die Täter seien „erst aufgrund der Einbindung in eine Organisation“ (117) zu Akteuren des Völkermordes geworden. Doch verdient sein Erklärungsansatz, der die Motivbasis der Täter mit Bezug auf die „Systemreferenz Organisation“ (37) verstehen will und folglich der organisationalen Dimension die ausschlaggebende kausale Rolle zuschreibt, unsere Skepsis. Denn Kühl geht im Zuge seiner Studie auf, dass für die Handlungssituation der Täter gerade nicht die organisationale Dimension, sondern der gesellschaftliche Referenzrahmen der Nazi-Diktatur, das heißt die soziokulturelle Codierung der Situation, in der sie handelten, entscheidend war (auch wenn sich die Motive und Intentionen der Täter über dieses Erklärungsmodell nicht hinreichend sicher deduzieren lassen). Kühl selbst lässt schließlich offen, was wirklich die Ursache für die Handlungen gewesen sei. Er räumt ein, dass sich der Holocaust „nicht allein über das Verhalten in Organisationen erklären“ (325) lasse, sondern die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe einbezogen werden müssen. Angesichts dieses Zugeständnisses wird gänzlich unklar, auf welche analytische Ebene sich Kühls Erklärung letztlich stützt. Man vermisst eine Problematisierung der Frage, worin sich die von ihm beanspruchte „Systemreferenz Organisation“ (37) und ihr gesellschaftlicher Rahmen unterscheiden. Die von Kühl unterstellte „erhebliche Erklärungskraft“ (325) seines Ansatzes dürfte also keinen Bestand haben. Kühls Monographie scheint vielmehr eine Beobachtung von Norman Braun zu bestätigen, der über die Qualität soziologischer Theorien und ihrer Basisprämissen schrieb: „Häufig sind die jeweiligen Aussagen nicht einmal präzise genug formuliert, um überhaupt empirisch falsch sein zu können.“[124]

Drittens: Der in Aussicht gestellte „Mehrwert eines soziologischen Zugangs“ (330) bleibt insbesondere deswegen uneingelöst, weil Kühl nicht hinreichend verdeutlicht, wie sich die einzelnen (längst bekannten) Erklärungsvariablen – Opportunismus, ökonomische Anreize, ideologische Indoktrination, Gruppendruck, Zwang, Kameradschaft etc. – tatsächlich zu Tätermotiven bündeln lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass bei Kühl – nicht anders als bei den von ihm kritisierten Ansätzen – die einzelnen Faktoren weder gewichtet, noch die verschiedenen Variablen wirklich miteinander in Beziehung gesetzt werden. Es bleibt bei einer bloßen „Aufzählung“ (35), womit die Frage, „wie das alles miteinander zusammenhängt“ (14), auch bei Kühl unbeantwortet bleibt.

Viertens: Das methodologische und substanzielle Anregungspotenzial seines organisationssoziologischen Zugriffs würde Kühl aktualisiert haben, hätte er mit Vergleichen gearbeitet. In komparativen Studien „the causal argument is central to the analysis; thus, causal propositions are carefully selected and tested rather than introduced ad hoc as incidental parts of an overall narrative.“[125] Wenn Menschen erst durch Organisationen zu Taten gebracht werden, „die sie außerhalb der Organisation nicht tun würden“ (299), hätte Kühl vergleichbare Fälle durchmustern müssen, in denen die Organisationsvariable fehlt. Mehr als vage Andeutungen, was die möglichen Ergebnisse derartiger Sondierungen anlangt, liefert er leider nicht. Er merkt lediglich an, der „Unterschied des Holocaust zu einer ganzen Reihe anderer Fälle von Massentötungen politischer, ethnischer oder religiöser Minderheiten“ bestünde darin, „dass er sich stark auf die staatliche Ordnung stützen konnte“ (22). Das ist freilich, soweit es um die Identifikation notwendiger Kausalursachen geht, eine pure und zirkuläre Behauptung: Denn, ob „das eine Phänomen vom anderen abhängt“ (Durkheim), also die Klärung der Frage, welche Wirkungen auf welche Ursachen notwendig oder hinreichend rückführbar sind, hat sich Kühl erspart, weil er sich auf den Einzelfall beschränkt.

Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Fazit, dass eine überzeugende Adjustierung der Systemtheorie für eine Analyse des Holocaust weiterhin aussteht. Die vorliegende Monographie von Kühl ebnet den Weg dorthin leider nicht.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Review-Symposiums zu Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. Weitere Besprechungen folgen in Kürze!

  1. Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust: Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 10.
  2. Raul Hillberg, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961.
  3. Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969.
  4. Hans Mommsen, Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, S. 131; Ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, Reinbek 1991, S.75ff.
  5. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 2009, S. 124.
  6. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1914–1949, München 2003, S. 624.
  7. Martin Broszat, Der Staat Hitlers, S. 68.
  8. Ulrich Herbert, Holocaust-Forschung in Deutschland: Geschichte und Perspektiven, in: Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust, S. 31–82, hier S. 50.
  9. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
  10. Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996.
  11. Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, 2 Bde., Göttingen 2011.
  12. Hans Mommsen, Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa, Bonn 2014.
  13. Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 13.
  14. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 98.
  15. Vgl. hierzu die beiden oben bereits zitierten Studien Christian Gerlachs und Götz Aly / Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung, Frankfurt am Main 1991, sowie Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, Bd. 2, S. 1517ff.
  16. Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, Bd. 2, S. 1510.
  17. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 96.
  18. Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord, Hamburg 1999, S. 168.
  19. Deutsche Besatzungspolitik in Litauen, Bd. 2, S. 1526.
  20. Ebd., S. 1510.
  21. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 866.
  22. Michaela Christ, Die Dynamik des Tötens, Frankfurt am Main 2011.
  23. Vgl. Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, sowie Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 54ff.
  24. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2010.
  25. Vgl. zu dieser Fragestellung Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord, sowie Robert Gerwarth / Stephan Malinowski, Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466.
  26. Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust, S. 10.
  27. Vgl. etwa Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 2011; Christopher Browning, Ganz normale Männer, Reinbek 1997; oder Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main 2005.
  28. Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 8 (2011), H. 1, www.zeithistorische-forschungen.de/1-2011/id=4756.
  29. Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 1–17, hier S. 5.
  30. Die immer wieder zitierten Ausnahmen sind etwa: Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt am Main 1977; Talcott Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis: II, in: The Review of Politics, 4 (1942), 2, S.155–172; Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1987 [1932]; Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, sowie die an Weber angelehnte Theorie charismatischer Führerherrschaft bei Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, hier S. 95–118. Zu neueren Interpretationsversuchen siehe etwa Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995; Maurizio Bach, Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen, Baden-Baden 1990; und Maurizio Bach / Stefan Breuer, Faschismus als Bewegung und Regime: Italien und Deutschland im Vergleich, Wiesbaden 2010.
  31. Hans Joas / Wolfgang Knöbl, Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie, Frankfurt am Main 2008. So auch Michaela Christ / Maja Suderland (Hrsg.), Soziologie und Nationalsozialismus – Positionen, Debatten, Perspektiven, Frankfurt am Main 2014, S. 16: „Hinsichtlich der gesellschaftlichen Debatten über den Nationalsozialismus kam es indes nicht zu einer solchen Austauschbeziehung für die Soziologie, und es folgten kaum fruchtbare Forschungstätigkeiten…“ Siehe dazu auch Maurizio Bach, „Drittes Reich“ und Soziologie. Was kann die Soziologie zum Verständnis der nationalsozialistischen Führerdiktatur beitragen?, in: Soziologie, 41 (2012), S. 19–27.
  32. Stefan Deißler, Geschichtslosigkeit als Gegenwartsproblem. Ein Schlaglicht auf die epistemologische Dimension der Debatte um den Ort des Nationalsozialismus in der Soziologie, in: Soziologie 42 (2013), S. 127–146, hier: S.130.
  33. Bach, „Drittes Reich“ und Soziologie, S. 25.
  34. Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. Zahlen in Klammern verweisen nachfolgend hierauf, sofern kein anderer Text ausgewiesen wird.
  35. Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Warum sich Hunderttausende am Holocaust beteiligten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2014, 11, S. 93–100, hier S. 95.
  36. Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Organisation, in: Thomas Ellwein / Hans-Hermann Groothoof / Hans Rauschenberg / Heinrich Roth (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliches Handbuch. Das Erziehen als gesellschaftliches Phänomen, Berlin 1969, S. 387–408, hier 393.
  37. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 4. Aufl., Berlin 1995, S. 42.
  38. Ebd., S. 97.
  39. Ebd., S. 36; und Ders., Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 112f.
  40. Ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 97.
  41. Ders., Organisation und Entscheidung, S. 405ff. Vgl. dazu ausführlich Armin Nassehi, Die Organisation der Gesellschaft; in: Jutta Allmendinger / Thomas Hinz (Hrsg.), Organisationssoziologie, Sonderheft 42 der KZfSS, Opladen 2002, S. 443–478.
  42. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 828.
  43. Ebd., S. 357.
  44. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1999, S. 155.
  45. Michael Wildt, Generation des Unbedingten, S. 856.
  46. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt am Main 1974, S. 26.
  47. Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft?, Hannover 2004.
  48. So etwa: die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, die Meinungsfreiheit, das Verbot der Zensur, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Eigentum samt Entschädigung bei Enteignung.
  49. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main, S. 414.
  50. Sven Reichardt / Wolfgang Seibel, Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011.
  51. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 64.
  52. Lewis A. Coser, Greedy Organisations, in: European Journal of Sociology 8 (1967), 2, S. 196–215, hier: S. 198.
  53. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 836.
  54. Ebd., S. 829.
  55. Kühl, Ganz normale Organisationen. Warum sich Hunderttausende am Holocaust beteiligten, S. 100, sowie S. 241 des rezensierten Bandes.
  56. Thomas Klatetzki, Keine ganz normale Organisationen. Eine Erwiderung auf Stefan Kühls Artikel: „Ganz normale Organisationen. Organisationssoziologische Interpretationen simulierter Brutalitäten“, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), S. 302–312, hier: S. 311.
  57. Harald Welzer, Täter.
  58. Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt am Main 2011.
  59. Harald Welzer, Wer waren die Täter? Anmerkungen zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, S. 237–253, hier S. 238.
  60. Klatetzki, Keine ganz normale Organisationen, S. 311.
  61. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005, S. 333.
  62. Felix Römer, Kameraden: Die Wehrmacht von innen, Hamburg 2013; und Sara Berger, Experten der Vernichtung: Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013, S. 331 ff.
  63. Im Gegensatz dazu verweist Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Kriege, Reinbek 2001, darauf, dass die massenhaften, schließlich in die Millionen gehenden Verluste den ursprünglichen Gruppengeist völlig zerstört und die Wehrmacht fortschreitend zu einem zusammengewürfelten Haufen gemacht hätten.
  64. Browning, Ganz normale Männer, S.105ff.
  65. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 307.
  66. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 187.
  67. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 13.
  68. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 307.
  69. Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, S. 373.
  70. Dieter Pohl, Der Holocaust und die anderen NS-Verbrechen: Wechselwirkungen und Zusammenhänge, in: Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust, S.124–141, hier S. 137.
  71. Vgl. etwa Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999, S. 61: „Die Intensität und das Ausmaß dieses Terrors [gegen die jüdische Bevölkerung, M.H.] hingen ausschließlich von dem einzelnen Kreishauptmann ab.“
  72. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 296.
  73. „Das Handeln der Täter wurde jedoch vor allem durch jene NS-Institutionen und ihre Handlungspraxis bestimmt, in denen die späteren Täter sozialisiert und geprägt wurden“, kommentiert Frank Bajohr, Täterforschung: Ertrag, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes, in: Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust, S. 175.
  74. Sara Berger, Experten der Vernichtung, S. 13.
  75. Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007, S. 286.
  76. Bartov, Hitlers Wehrmacht, S. 93ff.
  77. Dieter Pohl, Massengewalt und der Mord an den Juden im „Dritten Reich“, in: Fritz Bauer / Sybille Steinbacher (Hrsg.), Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, Frankfurt am Main / New York 2012, S. 107–123, hier S. 122. Das erkennt ja am Ende auch Kühl. Deswegen muss er seine These immer wieder einschränken und die Kategorien für die Genese der Ursache in der Schwebe halten: „Wenn ich von ‚ganz normalen Organisationen‘ spreche, darf nicht übersehen werden, dass diese Faktoren – Einbettung in einen totalitären Staat, der gierige Zugriff der Organisation auf ihre Mitglieder und die Besonderheit einer Kriegssituation – nicht nur Umweltbedingungen der staatlichen Gewaltorganisationen waren, sondern diese Organisationen auch im Inneren veränderten.“ (322)
  78. Doris Gerber, Analytische Metaphysik der Geschichte, Berlin 2012, S. 159.
  79. Vgl. ebd.
  80. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1985, S. 5.
  81. So Donald Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main 1990, S. 83: „Zum Handeln ist nötig, daß, was der Handelnde tut, sich unter einer Beschreibung als beabsichtigt darstellt, und dazu ist nach meiner Auffassung wiederum erforderlich, dass dem Handelnden sein Tun unter einer Beschreibung bewusst ist.“
  82. Siegwart Lindberg, Zur Kritik an Durkheims Programm für die Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 139–151, hier S. 144.
  83. Rainer M. Lepsius, Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Birgitta Nedelmann (Hrsg.), Politische Institutionen im Wandel. Sonderheft 35 der KZfSS, Opladen 1995, S. 392–403, hier: S. 399.
  84. Rainer Greshoff, Ohne Akteure geht es nicht! Oder: warum die Fundamente der Luhmannschen Sozialtheorie nicht tragen, in: Zeitschrift für Soziologie 37 (2008), S. 450–469.
  85. Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt am Main / New York 1993, S. 516.
  86. Gerber, Analytische Metaphysik der Geschichte, S. 244. Thomas Schwinn, Differenzierung ohne Gesellschaft, Weilerswist 2001, S. 51. Christian Smith, What is a Person?, Chicago 2010, S. 342. Insofern gilt immer noch der Satz aus Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt am Main 1984, S. 15, dass „der Handelnde [...] die letzte Instanz (ist), die angehört werden muß, wenn es festzustellen gilt, ob in einem vorliegenden Fall gehandelt wird oder nicht. Nur er weiß, woraufhin – falls überhaupt auf etwas – das Geschehen entworfen wurde“.
  87. Luhmann, Niklas, Organisation und Entscheidung, S. 110. Es ist schon merkwürdig, wie bereits Klatetzki, Keine ganz normale Organisationen, S. 307, in Bezug auf einen Aufsatz von Kühl formulierte, dass jemand über die Motive von Personen sprechen möchte, „aber dem psychischen Geschehen keine weitere Aufmerksamkeit schenkt“. Klatetzki identifiziert bei Kühl eine aufwärtsreduktionistische Erklärungsstrategie. Die Motive und Handlungen würden vollständig von der Makro-Entität abgeleitet. Klatetzkis Referenztext ist: Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Organisationssoziologische Interpretationen simulierter Brutalitäten, in: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), 2, S. 90–111.
  88. In diesem Sinn nochmals Geert Keil, Handeln und Verursachen, Frankfurt am Main 2000, S. 460: „Allgemein erklären wir Handlungen, gelungene wie fehlgeschlagene, über die Angaben des erstrebten Ziels, nicht über die des erreichten Ziels oder die Beschreibung der ausgeführten Körperbewegung.“
  89. Frank Bajohr, Täterforschung. Ertrag, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes, S. 169ff.
  90. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 52.
  91. Ebd., S. 82.
  92. Ebd., S. 89ff, 850f.
  93. Ebd., S. 857.
  94. Ebd., S. 854.
  95. Ebd., S. 476f.
  96. Ebd., S. 847.
  97. Berger, Experten der Vernichtung, S. 11.
  98. Dazu Frank Bajohr, Täterforschung: Ertrag, Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes 2015, S. 181, Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 14–15 (2007), S. 3–7, hier S. 3; und Jürgen Matthäus, Holocaust als angewandter Antisemitismus, in: Frank Bajohr / Andrea Löw, Der Holocaust, S. 102–124, hier 108–112.
  99. Siehe dazu etwa Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick (Hrsg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, New York 2009.
  100. Emile Durkheim, Die Regeln soziologischer Methode, Frankfurt am Main 1981, S. 205.
  101. Jörg Baberowski, Totale Herrschaft im staatsfernen Raum. Stalinismus und Nationalsozialismus im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 1013–1028, hier: S. 1013.
  102. Robert Jackson, Quasi-States: Sovereignty, International Relations, and the Third World, Cambridge 1990.
  103. Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994.
  104. Axel Paul, Das Unmögliche richten. Schuld, Strafe und Moral in Ruanda, in: Leviathan 34 (2006), S. 30–60.
  105. Mann, Die dunkle Seite der Demokratie, S. 658ff.
  106. Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 9f.
  107. Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften, S. 15.
  108. Vgl. ebenso Mark Mazower, Violence and the State in the Twentieth Century, in: American Historical Review 107 (2002), S. 1147–1167, hier S. 1177.
  109. Pohl, Massengewalt und der Mord an den Juden, S. 121.
  110. Mann, Die dunkle Seite der Demokratie, S. 311.
  111. Ebd., S. 500; Patrick Raszelenberg, The Khmer Rouges and the Final Solution, in: History and Memory 11 (1999), 2, S. 62–93.
  112. Diese Defintion ist etwa die Ausgangsbasis für den SFB 597 „Staatlichkeit im Wandel“. Stephan Leibfried / Michael Zürn, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Transformation des Staates, Frankfurt am Main, S. 11–19, hier S. 11.
  113. Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, S.405ff.
  114. Neumann, Behemoth, S. 554.
  115. Ebenso mit Rekurs auf Neumann konstatieren Bauch / Breuer, Faschismus als Bewegung und Regime, S. 143: „Der von den Nationalsozialisten ab 1933 beherrschte Staat war zwar ein Anstaltsbetrieb, aber, erstens, ein politischer, kein hierokratischer (auch wenn er auf psychischen Druck keineswegs verzichtete) und, zweitens, ein solcher, der sein Monopol legitimen physischen Zwangs zunehmend einbüßte, wie dies vor allem Franz Neumann herausgearbeitet hat.“ Die Nationalsozialistische Partei verwendete Mittel, die den Kern aller Staatlichkeit: das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit, gerade nicht respektierten. „Ihre Organisation beruht auf charismatischer Herrschaft, allerdings in dem für die Epoche der Massendemokratisierung charakteristischen Modus der antiautoritären Umdeutung des Charisma in Richtung der plebiszitären Führerdemokratie.“ (ebd., S. 77).
  116. Ebd., S. 213.
  117. Mark Mazower, Hitlers Imperium, München 2009, S. 212.
  118. Wildt, Generation des Unbedingten, S. 856.
  119. So z.B. Lutz Ellrich, „Tragic Choices“: Überlegungen zur selektiven Wahrnehmung der Systemtheorie am Beispiel des Nationalsozialismus, in: Albrecht Koschorke / Cornelia Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 159–172.
  120. Vgl. Volker Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege, Konstanz 2015.
  121. Vgl. ebenso Markus Holzinger, Niklas Luhmanns Systemtheorie und Kriege, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (2014), S. 458–475, hier S. 464.
  122. Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft, S.405ff. Interessanterweise hatte dies bereits Talcott Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis: II, S. 159, konstatiert, ohne daraus Konsequenzen für seine Modernisierungstheorie abzuleiten: „Now in certain essential respects the still rather vague and imperfectly crystallized system of ideas of the National Socialist movement, stands in drastic conflict with those which have held the dominant position in the Western world and become institutionalized as part of its social structure. Thus for instance, ‘race’ membership in the ‘mystical body’ of the German people, in all cases supersedes any considerations of individual quality or competence. This constitutes a fundamental break with the ethical significance of universalistic standards, in a variety of fields of application, such as rational knowledge, the personal rights and liberties of a human individual as such, technical competence and the like. In place of these, in its racial and party particularism, and in its emphasis on unlimited loyalty to the Führer, it puts patterns that are much more appropriate to a traditionalistic organization of authority than a rational-legal one.“
  123. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 2, Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, München 2011, S. 1176.
  124. Norman Braun, Theorie in der Soziologie, in: Soziale Welt 59 (2008), S. 373–395, hier S. 376.
  125. James Mahoney / Dietrich Rueschemeyer, Comparative Historical Analysis in the Social Sciences, Cambridge 2003, S. 11.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politik Gewalt Gruppen / Organisationen / Netzwerke

Markus Holzinger

Professor Dr. Markus Holzinger, Philosoph und Soziologe, ist seit 2003 Mitarbeiter der Volkswagen Group Academy. Seit 2014 lehrt er zudem als apl. Professor für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören insbesondere die Soziologische Theorie, Globalisierungsforschung, Kriegssoziologie, Wissenschafts- und Risikosoziologie sowie Historische und Politische Soziologie.

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