Dirk Baecker | Rezension |

Im Griff des Affekts

Rezension zu „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Stephan Lessenich

Stephan Lessenich:
Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs
Deutschland
Berlin 2022: Hanser Berlin
160 S., 23 EUR
ISBN 978-3-446-27383-2

Niemand erwartet von der Soziologie einen Bericht zur Gefühlslage der Gesellschaft. Man wüsste, dass man es mit einer Metapher zu tun hat, deren Sinn und Bedeutung nur durch eine Diagnose der strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Probleme erhellt werden könnte. Nicht einmal Psycholog:innen sprechen noch von Gefühlen. Haben wir es mit einem Feuilletonismus zu tun?

Das wäre ja nicht von Schaden. Im Feuilleton kreuzen sich schon immer essayistische Strategien, die nach Bedarf Register ziehen, die fachwissenschaftlich nach Struktur, Semantik und Affekt sauber unterschieden würden. Stephan Lessenich ist mit dem vorliegenden Buch eine Studie gelungen, die dem Feuilleton durchaus verwandt ist, zugleich jedoch darüber hinausgeht. Auch bei ihm kreuzen sich Aussagen zu Semantik, Struktur und Affekt, doch bleibt immer nachvollziehbar, um welches Register es jeweils geht.

Die „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“, die Lessenichs Buch im Untertitel aufruft, kann in der Tat nur mit einer Begriffsstrategie analysiert werden, die neben soziologischen auch psychologische und psychiatrische Diagnosen kennt. Lessenichs Gegenstand ist ein „gesellschaftliches Massenbewusstsein“ (S. 83), das an Émile Durkheims conscience collective und an sozialpsychologische Kategorien der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule („die autoritäre Persönlichkeit“) erinnert und doch so nicht mehr verstanden werden kann, weil man nicht wüsste, mit welchen Mitteln der empirischen Sozialforschung oder der soziologischen Theorie der „Masse“ oder einer „Gesellschaft“ ein „Bewusstsein“ unterstellt werden kann. Dieser Befund wird nicht besser, wenn es statt des Bewusstseins um die „Nerven“ dieser Gesellschaft geht.

Was also hat es mit diesem „Nervenzusammenbruch“ (S. 37), mit unserer „strukturellen Nervosität“ (S. 54), mit der „Herrschaft des Ressentiments“ (S. 126), dem „Irr-Sinn der herrschenden Verhältnisse“ (S. 129) auf sich? Lessenich untersucht in fünf Kapiteln die Normalität der Gesellschaft als Ergebnis von Normalisierungspraktiken, die Finanzkrise als Ergebnis eines illusionären Umgangs mit der Zukunft, die Einwanderungsgesellschaft Deutschlands als Erfahrung von Kontrollverlust, die Wachstumsgesellschaft als gnadenloses Ergebnis einer (im doppelten Sinne des Wortes:) fossilen Mentalität der Ressourcenverschwendung und identitäre Bewegungen aller Art als das Resultat eines Kampfes um gesellschaftliche Teilhabe. Die durchaus essayistischen Skizzen dieser Kapitel, über die sich im Detail umso besser streiten lässt, als sie im Großen und Ganzen wohl kaum auf Widerspruch stoßen, werden von einer einzigen sozialtheoretischen Kategorie zusammengehalten, die Lessenich von Cornelius Castoriadis übernimmt, nämlich der Kategorie eines gesellschaftlich Imaginären.[1] Darunter ist ein gesellschaftlicher Sinnüberschuss zu verstehen, der unter den Bedingungen der Kontingenz aller Verhältnisse eine Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen nur zulässt, wenn man „schöpferisch“, das heißt ebenso kreativ wie spekulativ und fallweise illusionär mit ihnen umgeht. Die Gegenwart einer Gesellschaft lässt sich vor dem Hintergrund aller Erfahrungen mit ihrer Vergangenheit nur aus ihrer Zukunft verstehen. Allem Handeln und Erleben eignet ein fiktionales Element, das der jeweils nächsten Teilhabe an Kommunikation den Charakter einer Wette verleiht, die man gewinnen, aber auch verlieren kann.

Der springende Punkt an Lessenichs Analyse ist nun, dass dieses Imaginäre in den vergangenen Jahrzehnten eine fatale Tendenz aufwies, nämlich die, mit dem Normalen identisch zu sein. Ein Kurzschluss zwischen der kurzen Vergangenheit der Nachkriegszeit, einer Gegenwart ohne große Überraschungen und einer Zukunft, die man sich als inkrementelle Verbesserung Desselben vorstellte, alle drei Zeithorizonte eingebettet in eine absurde „Vorstellung endloser, ewiger Zeit“ (S. 100 f.), bewirkte, dass jeder Sinn dafür verlorenging, wie sehr das runaway system der Ausbeutung fossiler Energien und des von diesem System ausgelösten Klimawandels inklusive seiner großen Migrationskrisen alternativlos seinem verdienten Ende entgegeneilt. Wenn dieses Regime eines normalisierten Imaginären jedoch zusammenbricht, wie es aktuell der Fall ist, tritt der Nervenzusammenbruch an seine Stelle. Die Vergangenheit wird zu einer Vergangenheit nicht der befriedeten Normalität, sondern der mit Müh und Not überstandenen Katastrophen. Die Gegenwart wird zu einer Gegenwart höchst widersprüchlicher Signale einer fehlenden Akzeptanz für all das, worauf man sich noch gestern verlassen zu können glaubte. Und die Zukunft hat nicht mehr die einigermaßen beruhigende Funktion, für alle gleichermaßen unbekannt zu sein und daher einen eher zivilen Umgang miteinander zu motivieren, sondern wird zu einer Drohkulisse, die zunehmend brutale Verteilungskämpfe wahrscheinlich macht.

Der Nervenzusammenbruch ist das erwartbare Resultat einer Störung von Erwartungen normalisierten Handelns und normalisierten Erlebens, die den Affekt aufruft, so Niklas Luhmann, um mit Enttäuschungen fertigzuwerden, die kognitiv jedes Verstehen überfordern.[2] Gefühle agieren positiv wie negativ im psychischen System wie ein Immunsystem, das die Fortsetzung autopoietischer Operationen auch dann ermöglicht, wenn es unmöglich geworden ist, die Konsequenzen des eigenen Handelns und Erlebens zu übersehen.[3] Lessenich spricht daher von der Bedeutung von „Affektpolitiken“ (S. 13), die auf der Ebene von, wie ich annehme, Regierungshandeln, sozialen Bewegungen, alltäglichen Stimmungen und Praxiskalkülen aller Art auf der einen Seite Enttäuschungen anerkennen und aufgreifen und auf der anderen Seite in halbwegs aussichtsreiche Bemühungen um Konsequenzen, darunter auch ein kommunizierbares Verständnis der jeweiligen Situation, übersetzen. Das Risiko, das man dabei eingeht, besteht darin, auch diese Bemühungen scheitern zu sehen, die Enttäuschung zu bestätigen und den Affekt zu bekräftigen. Aus Enttäuschung, Wut und Zorn wird ein „Ressentiment“ (S. 126 f.), das die Autopoiesis der Psyche wie der Kommunikation dadurch schützt, dass anderes schon gar nicht mehr erwartet wird.

Diese Verschränkung von Kommunikation und Psyche zu einem „gesellschaftlichen Massenbewusstsein“ der Nervosität ist das Ergebnis flächendeckender Zusammenbrüche von Zukunftshorizonten. An die Stelle eines schöpferischen tritt ein destruktives Imaginäres, das jedoch nicht das Ende aller Dinge einläutet, sondern eine Fortsetzung im Modus der Enttäuschung. Diese soziologische wie ebenso psychologische Deutung der Gegenwart erklärt die Rücksichtslosigkeit, mit der auf Finanzmärkten (von uns allen, soweit wir uns an diesem Spiel beteiligen können) Vermögenpositionen gewahrt werden, die Gewalt, mit der europäische Außengrenzen verteidigt werden, und nicht zuletzt die immensen Schwierigkeiten, von einer fossilen auf eine nachhaltige Basis der Bewirtschaftung von planetarischen Ressourcen umzusteigen. Es trifft uns in jeder Hinsicht unvorbereitet. Lessenichs Analyse ist unter diesem Gesichtspunkt so scharf wie nötig. Das soll nicht heißen, dass er alle Hoffnung hat fahren lassen. Eine Ökonomie der Anerkennung der Endlichkeit stofflicher Ressourcen sowie einer Bestimmung gesellschaftlicher Bedarfe nicht über den Markt, sondern über „demokratische Entscheidungen“, eine Politik gesellschaftlicher Mitsprache und eine Solidarität, die soziale Grenzen zu überschreiten vermag, sind die Lösungsperspektiven, die er auf der vorletzten Seite seines Textes benennt (S. 130). Doch nicht einer Diskussion möglicher Lösungen ist sein Buch gewidmet, sondern dem Verlust eines Verständnisses von Normalität und der Hilflosigkeit, mit der unsere Gesellschaft im Westen wie im Norden dem Einspruch der Jugendlichen, den Angeboten von Migrant:innen und nicht zuletzt den Lebensentwürfen begegnet, die aus einem queeren, feministischen und postkolonialen Weltbild resultieren.

Die Kategorie des Nervenzusammenbruchs, an dessen Rand wir uns bewegen, trägt das Buch. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Soziologie sich um Fragen der Befindlichkeit kümmern muss, die nur aus dem Zusammenspiel sozialer, psychischer und organischer Faktoren zu verstehen sind. Talcott Parsons‘ Pionierleistungen auf dem Gebiet der Beschreibung einer human condition sind in diesem Zusammenhang wiederzuentdecken.[4] Wann gelingt es der Soziologie, einen Anschluss an die Kognitionswissenschaften zu finden, der diese um Fragen der sozialen Formation von Handeln, Erleben und Erwarten bereichert? Bleibt uns noch Zeit, die soziologische Forschung in diesem präzisen Sinne der Frage nach Körper, Geist, Kultur und Planet Erde um anthropologische Aspekte zu vertiefen, die neuerdings in einem strikten Sinne auch ökologisch zu denken sind?[5] Stephan Lessenichs Buch darf, wenn ich mich nicht täusche, auch als Programmschrift seiner Arbeit als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gelesen werden. Wird man sich dort jener Kleinarbeit am gesellschaftlichen Imaginären widmen, die in jedem gesellschaftlichen Feld aus minimalen Anfängen aussichtsreiche Perspektiven zu gewinnen versucht? Oder muss es wieder und immer noch das Imaginäre einer „anderen“ gesellschaftlichen Ordnung, einer Alternative zum „Kapitalismus“ sein, die den Ausweg weist?

Am Rande des Nervenzusammenbruchs gibt es Chancen für den kühlen Blick.[6] Dieser kühle Blick darf jedoch von Affekten nicht absehen, sondern muss sie zu berücksichtigen wissen. Lessenichs Buch ist im Material seiner Beschreibung von Finanz-, Migrations- und Identitätskrisen ein überzeugendes Plädoyer für eine entsprechende Erweiterung soziologischer Kategorien. Es geht jedoch nicht nur um einen Anbau. Es geht darum, dass die scheinbar akzidentellen Affekte in Wirklichkeit genau jenen supplementären Charakter haben, ohne den kein noch so vernünftiges Argument zu denken ist. Sie motivieren die Normalisierung ebenso wie den Mut zur Abweichung.

  1. Siehe Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984; ders., Das Imaginäre. Die Schöpfung im gesellschaftlich-geschichtlichen Bereich, in: Harald Wolf (Hg.), Das Imaginäre im Sozialen. Zur Sozialtheorie von Cornelius Castoriadis, Göttingen, 2012, S. 15–38.
  2. So Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 364.
  3. Ebd., S. 371.
  4. Siehe insbesondere Talcott Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, New York 1978, S. 352–433.
  5. Ich denke an Carole L. Crumley, Historical Ecology. A Robust Bridge Between Archaeology and Ecology, in: Sustainability 13 (2021), 8210, und das unter dem Schlagwort „Anthropozän“ jüngst gewachsene Interesse an einer Erdsystem- bzw. Mensch-Erde-System-Forschung („Geoanthropologie“).
  6. Immer wieder zu zitieren: Edgar Allan Poe, A Descent into the Maelström, 1841.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Diversity Gender Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Migration / Flucht / Integration Ökologie / Nachhaltigkeit Psychologie / Psychoanalyse Soziale Ungleichheit Sozialer Wandel

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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