Jan-Otmar Hesse | Rezension |

Das verlorene Jahr

Rezension zu „Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen“ von Adam Tooze

Abbildung Buchcover Welt im Lockdown von Adam Tooze

Adam Tooze:
Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen
übers. von Andreas Wirthensohn
Deutschland
München 2021: C.H. Beck
408 S., 26,95 EUR
ISBN 978-3-406-77346-4

Wir alle können uns noch daran erinnern, wo wir waren und was wir gemacht haben, als am 9.11.1989 die Berliner Mauer fiel, als am 11.9.2001 ein Anschlag auf das World Trade Center verübt wurde und als am 21.5.1997 der FC Schalke den UEFA-Pokal gewann. Aber was wir am 20. Januar 2020 gemacht haben, als die chinesische Führung den Ausbruch der Corona-Epidemie in Wuhan bekannt gab, das wissen die wenigsten von uns. Die Brisanz dieses Ereignisses wurde den meisten von uns erst sehr viel später bewusst. Nach einem Jahr, in dem sich faktisch die gesamte Welt im Lockdown befand, ist die Diskussion über die Folgen dieses Ereignisses für die weitere Entwicklung des Landes, ja der Menschheit in vollem Gange und das Buch von Adam Tooze ist ein ebenso wichtiger wie hilfreicher Weichensteller hierfür.

Die Corona-Krise könne als heilsame Lehre für die Zukunft dienen, denn – so der für meinen Geschmack etwas zu fatalistische Schluss des Buches – die Krise sei erst der Anfang einer zutiefst krisenbehafteten Zukunft.

Adam Tooze ist Wirtschaftshistoriker und lehrt europäische Geschichte an der Columbia-Universität in New York. Er ist aber auch einer der aufmerksamsten und hellsichtigsten Beobachter unserer Gegenwart, bestens vernetzt und sensibel gegenüber noch der kleinsten intellektuellen Regung, die das globale akademische Kommunikationsnetz durch seinen New Yorker Knotenpunkt drückt. Insofern ist er auch als Chronist und früher Analytiker der Corona-Krise bestens geeignet. Sein jüngstes, jetzt in deutscher Übersetzung herausgekommenes Buch ist einerseits eine fast minutiöse Dokumentation des Krisenverlaufs, die vor allem diejenigen mit großem Gewinn lesen werden, die nicht die Möglichkeit hatten, die Details des internationalen Krisenmanagements aus einer schier atemberaubenden Fülle publizistischer Quellen, die Tooze verwendet, nachzuvollziehen. Dabei nehmen die wirtschaftspolitischen Reaktionen gemäß der Expertise des Autors großen Raum ein. Toozes Darstellung ist andererseits ein Interpretationsvorschlag, ist der Historiker doch der Meinung, dass der Lockdown zahlreiche Schieflagen, „Systemfehler“ oder „Risiken“, die die globalisierte Welt vor der Krise ausgezeichnet haben, sichtbar gemacht hätte. Und damit kam auch zum Vorschein, dass diese Welt denkbar schlecht auf solche Risiken vorbereitet gewesen sei, obwohl sie diese letztlich selbst verursacht – so Tooze mit zahlreichen Referenzen auf Ulrich Beck. Insofern könne die Corona-Krise als heilsame Lehre für die Zukunft dienen, denn – so der für meinen Geschmack etwas zu fatalistische Schluss des Buches – die Krise sei erst der Anfang einer zutiefst krisenbehafteten Zukunft.

Welche Strukturen in der globalen Gesellschaft und Wirtschaft hat die Krise also zum Vorschein gebracht? Da ist zunächst die unermessliche und beschämende soziale Ungleichheit zwischen den Ländern, aber auch innerhalb der Länder, selbst der großen Industrieländer. In welcher Weise Menschen durch das Virus bedroht sind und in welcher Weise sie sich in medizinische Behandlung begeben können, hängt vor allem von ihren Lebensumständen ab – so zeigt Tooze an vielen Stellen auf der Grundlage von zahlreichen belastbaren Statistiken. Dabei reflektiert er stets seine eigene privilegierte, aber im Unterschied zu anderen globalen Krisen gleichfalls bedrohte Situation in einem Appartement an der Upper Westside.

Die Ungleichheit trat aber auch in Form der unterschiedlichen Ausstattung von Haushalten mit Laptops und schnellem Internet in Erscheinung. Ein weiteres wichtiges Thema ist das „Anthropozän“, also der Eingriff des Menschen in die Naturgeschichte, die die Epidemie ganz unmittelbar hervorgebracht habe: durch die übergroße Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Verknappung der tierischen Lebensräume, durch die Exzesse der globalen Mobilität, die unerträgliche Belastung des Klimas und den überbordenden Energiekonsum.

Ein drittes Thema, das die chronologische Erzählung an vielen Stellen durchbricht, ist der Aufstieg Chinas, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Gleichsam über Nacht wurde sichtbar, an welchen Stellen sich der westliche Konsum auf Wertschöpfungsketten verließ, die in China ihren Anfang nahmen. Tooze macht darauf aufmerksam, dass ein Großteil dieses kometenhaften Aufstiegs aus der letzten Dekade datiert und versteht es souverän, die Mischung aus Bewunderung und Angst zu kommentieren, die dieser bei europäischen, britischen und US-amerikanischen Eliten hervorruft. Unzweifelhaft hat die Corona-Pandemie Chinas Aufstieg weiter befördert.

„Corona entlarvte grell unseren Mangel an Vorbereitung.“ (S. 20)

Das vierte Thema ist Toozes wichtigstes: „Corona entlarvte grell unseren Mangel an Vorbereitung“ (S. 20) und dieser Befund erhält bei ihm eine überaus umfassende Bedeutung. Der Mangel betreffe nämlich nicht nur einzelne unfähige Politiker, sondern sei ein systemisches Problem, weshalb Tooze dem Lockdown an einer Stelle auch die Fähigkeit zuspricht, das „Totenglöckchen des Neoliberalismus“ zu läuten. Faktisch habe der Lockdown anonyme ökonomische Steuerungsmechanismen an die Stelle von politischen Entscheidungen gesetzt und damit sowohl Steuerungsfähigkeit, Verantwortung als auch die nötige Reaktionsgeschwindigkeit insbesondere der westlichen Staaten ausgehöhlt. Die komplexen Immunisierungsstrategien zur Risikobewältigung in China, die Tooze in einem für seine Analyse bedeutsamen Aufsatz von Chen Yixin aus dem Jahr 2019 aufgelistet fand, scheinen ihm dagegen wesentlich erfolgreicher. Yixin ist ein enger Vertrauter des chinesischen Regierungschefs Xi Jinping und war 2020 an führender Stelle bei der Bekämpfung der Pandemie eingesetzt worden.

Man kann über die Frage, ob China tatsächlich besser auf eine Pandemie vorbereitet war und, wenn ja, zu welchem gesellschaftspolitischen Preis die raschere Krisenüberwindung möglich wurde, sicher lange streiten. Auch scheint mir die Behauptung, unsere moderne Lebensweise sei für die Pandemie letztlich verantwortlich, zu pauschal und greift einer differenzierten Ursachenanalyse etwas leichtfertig vor. Was aber in Adam Toozes Buch in beinahe erschütternder Weise deutlich und nur durch eine lesenswerte Portion Zynismus erträglich wird, ist der Dilettantismus, mit dem Politiker auf der ganzen Welt durch den Lockdown gestolpert sind. Das eklatante Unvermögen fängt schon damit an, dass nach der Bekanntgabe des Virusausbruchs in Wuhan wertvolle Wochen verstrichen, während derer Politiker Lockdowns und Quarantäne als Mittel der chinesischen Diktatur verunglimpften; und zwar nicht nur solche aus dem Umfeld Donald Trumps, sondern auch jene, die derzeit in der Bundesrepublik wiedergewählt werden wollen. Die USA verhängten erst am 11. März ein allgemeines Einreiseverbot und die Bundesrepublik am 12. März weitgehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens.

Etwas komplizierter gestaltet sich die Aufgabe, die ganze Verantwortungslosigkeit zu erkennen und auszuloten, mit der politische wie wirtschaftliche Eliten rund um den Globus im Sommer 2020 die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bekämpften. An dieser Stelle nutzt Tooze seine beeindruckende wirtschaftshistorische Expertise, um zu verdeutlichen, wie Schwierigkeiten, die in der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2012 die Wirtschaft der USA und Europas existenziell bedroht hatten, zwischenzeitlich transformiert worden waren. Staatskredite an Schwellenländer waren solider finanziert und die Banken weniger krisenanfällig. Zugleich hatte sich dabei aber ein System herauskristallisiert, bei dem Zentralbanken in großem Umfang Staatsschulden aufkaufen, in der Tat ein System, das nun zur Krisenbekämpfung erneut angeworfen wurde, freilich mit einem gegenüber der letzten Dekade geradezu riesenhaften Schwungrad. Niemand vermag gegenwärtig einzuschätzen, welche Belastungen hieraus für unsere heutige Wirtschaft erwachsen.

Unbezweifelbar ist allerdings, dass die atemberaubenden Konjunkturprogramme in den USA und in Europa wahrhaft historische Dimensionen angenommen haben. Die Zentralbanken ersetzten endgültig gewählte Wirtschafts- und Finanzpolitiker, es entstand eine „inzestuöse Verbindung von Geld- und Fiskalpolitik“, so Tooze (S. 171). Der in Umlauf gebrachte Geldstrom füllte dabei zunächst die Taschen der Vermögensmillionäre und -milliardäre, bevor er in kleinsten „Kurzarbeiterlöhnen“ am Arbeitsmarkt ankam, für die spätere Generationen von Beschäftigten mit ihren Steuergeldern werden geradezustehen haben. Diese Art der Krisenbekämpfung determiniert die Verteilung der Lasten der Krise. Aber bislang ist nicht absehbar und konnte daher auch nicht Toozes Thema sein, in welcher Weise eine derartige Umverteilung von Schulden wie Vermögen unsere Gesellschaft in der Zukunft prägen wird.

Für diejenigen von uns, die kein Interesse haben, sich vorzustellen, wie die Welt in der näheren Zukunft von einer Krise zur anderen taumelt – zumal angesichts des vorhandenen politischen Spitzenpersonals – ist das Buch vielleicht etwas zu wenig prognostisch und spekulativ. Wie werden denn der Lockdown und die Krisenbekämpfung unsere Gesellschaft verändern? Ich meine nicht die Tatsache, dass wir auf absehbare Zeit keine Hände mehr schütteln und keine Freunde mehr umarmen werden. Welche Folgen hat die evident gewordene Anfälligkeit global arbeitsteiliger Produktionsprozesse für die Gestaltung von Wirtschaft und Unternehmen? Wie werden industrielle Beziehungen künftig organisiert und welche Folgen hat es in Wirtschaft und Gesellschaft, wenn Entscheidungen bevorzugt in sehr kleinen Gruppen getroffen werden? Wie werden Grassroot- und Bürgerbewegungen jenseits der unvernünftigen Impfverweigerer die Pandemie überstehen? Wie wird die Politik künftig agieren, nachdem sie gelernt hat, was eine Gesellschaft im Lockdown alles toleriert? Und welche Rolle werden die Medien spielen, die in Form von Amazon, Netflix und Zoom dem Ideal des gläsernen Konsumenten im Lockdown unverschuldet ein ganz großes Stück nähergekommen sind? Und schließlich: Was hat der Lockdown mit der Zeit gemacht? Nicht nur für junge Leute in der Ausbildung, Studierende und Schüler komprimieren sich die Monate des Lockdowns zu einem fehlenden Jahr und nichts illustriert diese bedrückenden Umstände sinnfälliger, als die Olympiade in Tokio, die das Jahr 2020 mit einem Jahr Verspätung schlicht simulierte. Offenbar hat der Lockdown die Zeit angehalten und in die Debatte darüber, was das eigentlich bedeutet, lässt sich mit Toozes Buch ausgezeichnet einsteigen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Geld / Finanzen Globalisierung / Weltgesellschaft Politik Soziale Ungleichheit

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Jan-Otmar Hesse

Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth.

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