Luca Kokol | Rezension | 12.01.2024
Vom Kerbholz zur Schuldenuhr
Rezension zu „Schulden machen. Praktiken der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert“ von Jan Logemann, Stefanie Middendorf und Laura Rischbieter (Hg.)
Aktualität
Am 15. November 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz von 2021 für verfassungswidrig und stellte somit die Haushaltsplanung der Ampelkoalition für das Jahr 2024 auf den Kopf. Wie die anschließenden Debatten zur Schuldenbremse in Deutschland sowie Reaktionen aus dem Ausland exemplarisch verdeutlichen, ist Staatsverschuldung ein politisches Instrument mit weitreichenden Auswirkungen in viele verschiedene Bereiche einer Volkswirtschaft. Ein historischer Blick auf unterschiedliche Formen, Bedingungen und Folgen von Staatsverschuldung könnte den Rahmen gegenwärtiger Debatten produktiv erweitern, indem es auf die Entstehungskontexte aktueller Praktiken aufmerksam macht. Die Herausgeber*innen des Sammelbands „Schulden Machen – Praktiken der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert“, Jan Logemann, Stefanie Middendorf und Laura Rischbieter, betonen bereits in der Einleitung die politische Relevanz von Staatsverschuldung als einer zentralen Quelle öffentlicher Finanzierung im Kontext von Polykrisen wie zum Beispiel dem Klimawandel, Bankenpleiten, aber auch als vermeintliche Ursache der angestiegenen Inflation (S. 11). Ebenjener Aktualitätsbezug, setzt sich im überwiegenden Teil der Beiträge fort, obwohl man dem Titel nach eher auf ein historisches Werk schließen würde.
Tatsächlich erfasst der Sammelband ein sehr langes 20. Jahrhundert. Der zeitliche Rahmen reicht vom Mittelalter bis zur Finanzkrise 2020 (auch Ausblicke in die Zukunft werden nicht gescheut). Diese Spannbreite ist zugleich Stärke und Schwäche des Sammelbands. Beiträge wie der von Natascha van der Zwan können so die Rolle von institutionellen Investoren in der Staatsverschuldung im historischen Wandel nachzeichnen. Während Pensionsfonds im 20. Jahrhundert aufgrund von rechtlichen Investitionsbestimmungen dazu angehalten wurden, in Staatsanleihen zu investieren, hat sich dieses Kräfteverhältnis mit einer Lockerung der Investitionsbestimmungen zugunsten von Pensionsfonds gewendet. Van der Zwan wirft in dem Zusammenhang auch demokratietheoretisch relevante Fragen auf, indem sie etwa darauf verweist, dass Gläubiger*innen in ihrer aktuellen Position Ansprüche gegen gewählte Regierungen erheben können.
Korinna Schönhärls Beitrag hat eine ähnliche Stoßrichtung. Ausgehend von einer detaillierten historischen Aufarbeitung der griechischen Verschuldungsgeschichte im 19. Jahrhundert betont sie die Macht ausländischer Kreditgeber*innen über nationalstaatliche Regierungen. In diesem Sinne gelingt es vielen Beiträgen dieses Sammelbands, interessante Brücken zwischen vergangenen und aktuellen Praktiken der Staatsverschuldung zu schlagen. Diese Bezüge sind fundamental wichtig und ermöglichen meist wesentliche Erkenntnisgewinne für aktuelle Debatten, da ihre Historisierung den Blick für Kontinuitäten und Veränderungen schärft und sich somit die Durchsetzung bestimmter Positionen in ihrer Kontingenz nachvollziehen lässt. Vor allem hinsichtlich der Kürze der Beiträge (fast alle sind unter zwanzig Seiten lang), stellt der Anspruch, anhand historischer Fallbeispiele Schlüsse für gegenwärtige Bedingungen der Staatsverschuldung zu ziehen, einen Spagat dar, bei dem es de facto unmöglich ist beiden Aspekten gleichermaßen gerecht zu werden. Während bei manchen Beiträgen die historische Ausarbeitung sehr kurz ausfällt, sind bei anderen die Bezüge zur Gegenwart etwas verknappt dargestellt.
Pluralität
Eher als einzelne Fälle erschöpfend zu behandeln, scheint es Ziel des Sammelbands zu sein, einen breit gefächerten Überblick über das Thema zu verschaffen. In einer sehr einfachen und leicht zugänglichen Sprache halten die Autor*innen ihre Leser*innenschaft am Ball und führen in fünf, jeweils mehrere Beiträge umfassenden Kapiteln an Akteure, Artefakte, Debatten, Relationen und Zeitlichkeit von Staatsschulden heran. Schon die Gliederung scheint an W-Fragen angelehnt zu sein (wer, wie, was…), die auch in den Beiträgen nicht aus dem Blick geraten, sodass der Sammelband eine grundsätzliche Neugier bedient, die an das Titellied der Sesamstraße erinnern mag. Diese Breite an Fragestellungen macht ihn aber nicht nur zugänglich für interessierte Neueinsteiger*innen, sondern bietet auch Menschen, die sich schon länger mit der Thematik beschäftigen, historische Erkenntnisse, Perspektiven aus anderen Disziplinen und schöne Anekdoten. In diesem Sinne ist der Sammelband ganz das Produkt seiner Faktoren (wohlgemerkt nicht die Summe, da das Zusammenkommen der unterschiedlichen Beiträge einen deutlichen Mehrwert bietet). Seinen Ursprung hat der Band in einem 2017 gegründeten Netzwerk verschiedener Forscher*innen aus den Sozial-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften. Der Ansatz, der aus diesem fachübergreifenden Zusammenschluss hervorgeht, klingt besonders im englischen Titel des Netzwerks an: „Doing Debt“. Wenngleich er sich erstmal nach einer wortwörtlichen Übersetzung aus dem Deutschen anhören mag, betont die nicht ganz griffige Formulierung auf Englisch viel stärker die soziale Konstituierung von Verschuldungsbeziehungen – anstelle des alltäglichen Verständnisses von Verschuldung als „Miese machen“ oder eben „going, getting…“, beziehungsweise „running into debt“.
Diversität
Angesichts einer solchen Pluralität an Disziplinen und Ansätzen hätte man auch mit der entsprechenden Diversität an Blickwinkeln rechnen können. Doch dem ist leider nicht, beziehungsweise nur bedingt so.[1] Während sich der Sammelband auf eine zeitliche Spanne festlegt (wenn auch eine sehr weit gefasste) ordnet er sich leider nicht explizit geografisch ein. Genau solch einer ausgesprochenen Kontextualisierung bedürfte es allerdings, da sich fast alle Beiträge im Sammelband entweder auf Europa oder die angelsächsischen Staaten beziehen. Dabei hätte ein Blick auf Geschichten der Staatsverschuldung aus Ländern des Globalen Südens schon allein aufgrund ihrer Position in der internationalen Währungshierarchie weitere, beziehungsweise andere Aspekte gezeigt und Unterschiede offenbart. Wohlgemerkt kann ein 300-seitiger Sammelband nicht alles abdecken. Dann sollte dies jedoch expliziert werden, anstatt ausgehend von einer sehr begrenzten Region mit vielen Spezifitäten zu beanspruchen, allgemeingültige Dimensionen der Staatsverschuldung aufzuzeigen – wie es der Ton vieler Beiträge im Band nahelegt. Der einzige Beitrag, der sich in einem geografisch weiter gefassten Rahmen bewegt, ist Mischa Suters Artikel über Währungen als zentrales Mittel kolonialer Machtausübung. Während dieser Beitrag sehr interessante Einblicke gewährt, kann er in seiner Einzelstellung nicht im Ansatz dem Ausmaß regionaler Unterschiede oder auch postkolonialen Besonderheiten im Kontext von Staatsverschuldung gerecht werden.
Kohärenz
Kohärenz kann ein hochgesteckter Anspruch an einen Sammelband sein, vor allem an einen mit der oben angepriesenen Pluralität. Dennoch schneidet „Schulden machen“ aufgrund seiner klaren Unterteilung in fünf Kapitel, die je einen Aspekt des Gegenstands behandeln, auch in dieser Hinsicht sehr gut ab. Besonders gut strukturiert ist das erste Kapitel, „Akteure: Wer macht Schulden“, ein Bündnis aus fünf Beiträgen, das wie ein gestaffeltes Argument gelesen werden kann: Während Duncan Needham am Beispiel von Großbritannien, Frankreich und Deutschland aufzeigt, dass Regierungen hauptsächlich während Kriegen die Staatsverschuldung erhöhten und in diesen Situationen auch den Goldstandard oder wie heutzutage im Fall von Corona die Schuldenbremse aussetzen, deutet Leon Wansleben darauf hin, dass in Krisenzeiten diese Ausgaben in wesentlichem Maße von Zentralbanken aufgekauft werden. In der Hinsicht zieht er zu Beginn seines Beitrags eine Parallele zwischen der Kreditaufnahme der USA während des Zweiten Weltkriegs und der Staatsverschuldung im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Dabei arbeitet Wansleben die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Formen des Zusammenspiels von Geld- und Fiskalpolitik zwischen 1942 und 2020 heraus, indem er zum Beispiel die Entstehung der stark unabhängigen EZB nach dem Modell der Deutschen Bundesbank erläutert und mit der Praxis der Anleihekäufe nach der Finanzkrise 2007/8 kontrastiert.
Alexander Nützenadel beleuchtet hingegen die Rolle von Staatsanleihen und damit einhergehenden neuen Finanzprodukten für das Geschäftsmodell privater Banken – ebenfalls im Rahmen verschiedener Kriege und Krisen. Auch Natascha van der Zwans Beitrag fügt sich gut in diese Gliederung ein, da die Autorin, wie oben bereits erwähnt, die sich wandelnde Beziehung zwischen privaten Pensionsfonds und Staatsschulden aufzeigt. Stefanie Middendorf rundet das Kapitel schließlich mit einem Beitrag auf der Mikroebene ab, indem sie fragt, welche Rolle Kleinanleger*innen beim Handel von Staatsanleihen spielen (können). Somit ergänzen sich die einzelnen Beiträge auf eine Weise, die das erste Kapitel schon fast wie einen Wettbewerb zur Ermittlung des „wichtigsten“ Akteurs der Staatsverschuldung anmuten lässt – und fügen sich beim Lesen zu einem größeren, holistischen Bild zusammen.
Dem ist im zweiten Kapitel leider nur bedingt so, ein roter Faden ist schwer greifbar, zu unterschiedlich scheinen die Themen der einzelnen Texte, die an dieser Stelle etwas plump unter dem Titel „Artefakte: Wie und wo werden Schulden greifbar“ zusammengefasst wurden. Am ehesten lassen sich die ersten beiden Beiträge in ihrer Kombination wie eine Evolutionsgeschichte der Infrastrukturen von Staatsschulden verstehen: Von Kerbhölzern (Tim Neu) bis hin zu Börsen und digitalen Plattformen (Arjen van der Heide) werfen sie Fragen auf, wie das Medium die Praxis der Verschuldung beeinflusst. Während Kerbhölzer nur ein begrenztes Maß an Information dokumentieren können und somit immer durch Kontextwissen der involvierten Akteure ergänzt werden mussten, hebt van der Heide zum Beispiel hervor, dass Staatsanleihen im Kontext von digitalen Plattformen unpersönlicher und eben auch schneller und mit weniger Fehlern gehandelt werden. Florian Fastenrath hingegen stellt den Ansatz des Buches auf den Kopf, indem er sich die Verschuldungspraktiken von Kommunen, also Staatsschulden von „innen“ anguckt und fragt, warum Kommunen sich gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts an spekulativen Geschäften beteiligten. Der letzte Beitrag von Jan Logemann leitet dagegen gut in das nächste Kapitel über, indem er vom symbolischen Wert von Schuldenuhren, ihrem Auftreten und ihrer Verbreitung, Parallelen zu rhetorischen Mustern und Diskursen zieht, die politische Debatten zu Staatsverschuldung gegenwärtig prägen.
Das dritte Kapitel adressiert verschiedene Debatten um Staatschulden und vereint daher eine diverse Sammlung an Beiträgen, die sich aber schön zu einem Flickenteppich zusammenfügen. Hier geht es primär darum, „wie“ über Schulden gestritten wird – nicht darum, die verschiedenen Perspektiven abzubilden bzw. zu reproduzieren, sondern aufzuzeigen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern. Dementsprechend werden gängige Argumentationsmuster untersucht, zum Beispiel in Parlamentsdebatten (Lukas Haffert) oder im Rahmen von Verhandlungen zwischen Gläubiger*innen und Regierungen bei der Festlegung von Zinssätzen (Sebastian Teupe).
Auch die Kapitel vier und fünf, „Relationen: Wie und wo werden Schulden zu Macht?“ und „Zeitlichkeit: Wie lange währen Schulden“, sind weit genug gefasst, um unterschiedliche Fallbeobachtungen plausibel vereinen zu können. So wirft Friederike Sattler mit ihrem Fokus auf Fälligkeiten von Staatsschulden im fünften Kapitel etwa ähnliche Verteilungsfragen auf wie Jakob Tanner in seiner Diskursanalyse zum Begriff der Generationengerechtigkeit bei der Abwägung zwischen Begrenzung der Staatsverschuldung und Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels. Nicht immer lassen sich trennscharfe Abgrenzungen zwischen den einzelnen Kapiteln und Beiträgen ziehen. Die Tatsache, dass einige Beiträge des Bands, auch über einzelne Kapitel hinaus, ohne Weiteres aneinander anknüpfen, unterstreicht jedoch die grundsätzliche Kohärenz des Sammelbands. Insgesamt ist „Schulden machen“ ein sehr gelungenes und empfehlenswertes Werk, das in seiner Pluralität und leicht verständlichen Sprache für alle spannende Einsichten in das Thema der Staatsverschuldung bereithält.
Fußnoten
- Mit über einem Drittel Autorinnen ist die Genderbalance des Bands für das Feld der Wirtschaftsgeschichte gar nicht mal schlecht.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill.
Kategorien: Demokratie Digitalisierung Geld / Finanzen Geschichte Internationale Politik Kolonialismus / Postkolonialismus Macht Ökologie / Nachhaltigkeit Politische Ökonomie
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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