Deadline: 01.02.2026
Ethnographie der Dinge
Call for Papers für eine Konferenz vom 26. bis 27. Juni 2026 in Dortmund. Deadline: 1. Februar 2026
Für die Menschen als weltoffene Wesen ist es existenziell, dass sie ihren Leibkörper in der Habitualisierung von Dingen, Gegenständen, Objekten ergänzen und ihn so „ausdehnen“. Im Miteinanderhandeln richten sie die erforderlichen Dinge ein, kultivieren sie und stellen Weltzugänge her, mit denen ihre Handlungsmöglichkeiten erweitert und ihre sozialen Gefüge stabilisiert werden. Der Umgang mit den Dingen gestaltet sich in weiten Teilen so selbstverständlich, dass er beiläufig wird. Soziologisch ist das hochinteressant, lassen sich doch in der Beobachtung des Dinggebrauchs und der Ermittlung der Dingbedeutung subtile Einblicke in die kulturelle und gesellschaftliche Ordnung, in kleine Lebenswelten und Milieus, in die Materialität des Sozialen und in die Möglichkeiten seiner Erforschung gewinnen. Der Sinn für die Dinge ist der Soziologie allerdings in der Vergangenheit etwas – bis etwas mehr – abhandengekommen. So haben Dinge (wie Objekte, Artefakte, Dokumente, Bauwerke, Architekturen, Kulturlandschaften, Stadtstrukturen) auch in der Soziologischen Ethnographie – um die es uns hier geht – eine eigentümliche Präsenz. Einerseits bilden sie einen stets vorfindlichen und durchaus auch beachteten Gegenstand der Beobachtung. Andererseits laufen sie Gefahr, als lediglich stiller Hintergrund eines Feldes, vor dem sich die vermeintlich eigentliche sozial kommunikative Wirklichkeit entfaltet, aufgenommen zu werden. In der Rekonstruktion von subjektiv gemeintem, interaktiv ausgehandeltem oder sozialstrukturell vorgerahmtem Sinn geraten die materiellen Begleiter menschlichen Lebens leicht aus dem Blick. Sie werden zur Kulisse, zum kontingenten Material der sozialen Bedeutsamkeit, zu etwas, das „einfach da ist“, ohne methodische Geltung zu beanspruchen. So war z. B. die Soziologie als Symbolwissenschaft lange Zeit von einer weitgehenden Dingvergessenheit oder „Sachblindheit“ (Linde 1972; Bosch 2010) geprägt. Während und sofern also die ethnographische Aufmerksamkeit auf die handelnden Menschen im Feld, deren Handlungsweisen und wechselseitige Bezugnahmen gerichtet ist, sind Dinge zwar allgegenwärtig, aber dass und wie sie Situationen (mit)strukturieren, bleibt oftmals unbemerkt. Gleichwohl sind Felder keine bloßen Bühnen mentaler Repräsentationen, sondern stets materiell durchdrungene soziale Lebenswelten. Mit Dingen ausgestattete, gestaltete und darin sinnhaft aufgeladene Räume bzw. in Räumen verortete, platzierte Dinge sind Hinweise auf sedimentierte Wissensbestände und sich verändernde Wissensrelationen, auf Handlungsorientierungen, Relevanzen und Routinen sowie auf kulturelle Selbstverständlichkeiten, Gewissheiten und Ungewissheiten des Feldes (vgl. entsprechende Beiträge in Poferl & Pfadenhauer 2018 und in Dimbath & Pfadenhauer 2021). Die für das jeweilige Feld relevanten Dinge können sich im konkreten Gebrauch durch Feldteilnehmende zeigen. Sie können ein beiläufiger oder zentraler Gegenstand von Interaktionen sein. Sie können darüber hinaus in Ding-Arrangements eingefasst sein. Diese Arrangements sind wiederum in dinglich-materiale Räume eingefügt. Auch dann, wenn in diesen, mit Dingen als Gebrauchsgegenständen, Ressourcen, Requisiten und Bühnenbild ausstaffierten Räumen kein Mensch anwesend ist, lassen sich an den materialen Sedimentationen mögliche Bedeutungen von Dingen als Bestandteil sozialer Wirklichkeit und als routinisierte Praktiken ablesen. Die Feldarbeitstage 2026 in Dortmund wollen sich den Dingen in der ethnographischen Forschung widmen und deren kulturelle wie gesellschaftliche Relevanz in thematisch gebundenen ethnographischen Studien aufzeigen.
Über den Material Turn (vgl. Henkel 2018) ist mittlerweile eine deutliche Rückbesinnung innerhalb der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie auf die Dinge und materiellen Arrangements als Ko-Komponenten gesellschaftlicher Prozesse zu verzeichnen. Prägend war hier die von Daniel Miller (1987) initiierte Perspektive der „Material Culture Studies“ (vgl. Appadurai 1986), die Alltagsobjekte als verkörperte Sozialität begreift. Weitere Impulse kamen aus der techniksoziologischen Forschung zur „Social Construction of Technology“ (SCOT, Bijker & Hughes & Pinch 1987), die nach sozialen Bedingungen der Technikentwicklung und -diffusion fragt. Breite Aufmerksamkeit haben zudem (neo)materialistische Ansätze erlangt, die Materialität nicht als stabile Substanz, sondern als Prozess, Affekt oder Netzwerk konzipieren (Callon & Law & Rip 1986; Latour & Woolgar 1986). In neueren, soziologisch umstrittenen Entwürfen verschiebt z. B. Karen Barads (2007) „agentieller Realismus“ den Fokus von Objekten auf materielle Praktiken der Intraaktion, durch die sich Subjekte und Dinge wechselseitig hervorbringen (kritisch Ahmed 2008; Lynch 2014). Dergestalt ist eine Auseinandersetzung darüber entstanden, wie zwischen sozialwissenschaftlicher Deutung, theoretischen Perspektiven und methodischen Forschungsprogrammen vermittelt werden könnte. Während der Neomaterialismus tendenziell zu einer Entsubjektivierung sozialer Prozesse neigt, verweisen die hermeneutische Wissenssoziologie und interpretative Ansätze darauf, dass Dinge zwar Wirksamkeit entfalten, ihre Bedeutung aber nur in Bezug auf die Handlungssubjekte erfassbar bleibt, in deren Welt sie eingebettet sind (vgl. entsprechende Beiträge in Hitzler & Reichertz & Schröer 2020; Lueger & Froschauer 2018; Keller 2021).
Ethnographische Forschung erfolgt so in der Breite theoretischer Perspektivierungen von phänomenologischen Lebensweltanalysen über ethnomethodologische Interaktions- und Praxisanalysen bis hin zu neomaterialistischen und „post-qualitativen“ Ethnographien. Je nach theoretisch-methodologischer Grundlegung kommen dabei andere Datensorten, andere Formen der Datenerhebung und unterschiedliche analytische Aufmerksamkeitsschwerpunkte zum Tragen. Gemeinsam ist nahezu allen auf Dingbedeutsamkeit hin ausgerichteten theoretischen Perspektiven die Nähe zu ethnographischer Feldarbeit. In diesem Sinne sollen die Feldarbeitstage gerade auch dazu dienen, das Spektrum ethnographisch relevanter Sozialtheorien in ihrem Dingbezug zu befragen und methodologische Herangehensweisen des Einholens von Dingen und der Rekonstruktion der Dingbedeutsamkeit theoretisch und am Fall zu erörtern. Ebenso geht es in der Folge um den methodischen Zugriff: Ohne den Bezug auf Dinge würden Feldbeschreibungen (welch ethnographischer Ausrichtung auch immer) „leer“ und inhaltslos erscheinen (vgl. die Beiträge des Arbeitskreises Ethnographie in Raab & Keller 2016). Verfehlt wäre eine ethnographische Beschreibung von Dingen dann, wenn diese auf beiläufige Ornamente sozialwissenschaftlicher Forschung reduziert würden. Feldarbeit in materieller Kultur bedeutet, den Status von Dingen ethnographisch ernst zu nehmen und dem Umgang mit den Dingen mit angemessenen Haltungen und Verfahren zu begegnen. Gegenständlich ließe sich hierbei nach stofflicher Zusammensetzung, materialer Gestalt, instrumentellem Gebrauch, symbolischem Verweis (Eisewicht 2016) und leibkörperlichem Bezug (Poferl u. a. 2023) unterscheiden. Zu klären wäre nicht zuletzt, was – neben materialen Artefakten – unter dem Begriff der „Dinge“ verstanden und inwieweit auch Virales, Animales, Pflanzliches und Planetarisches einbezogen werden kann.
Ethnographische Feldarbeit ist seit jeher nicht nur eine Methode der „bloßen“ Beobachtung, sondern auch eine Technik der objektivierenden Aufzeichnung – und damit selbst auf Dinge, Apparate, Medien und deren Gebrauch angewiesen. Feldforschung beinhaltete schon in ihren früheren Phasen den Einsatz z. B. von Notizbüchern, Skizzenheften und Tonbandgeräten, um das Flüchtige des Sozialen zu fixieren, und entwickelte daraus eigenständige Formen ethnographischer Dokumentation. Mit dem Einzug von Foto- und Videotechnik hat sich diese materielle Dimension der Forschung rasant ausdifferenziert. Kameras und Aufnahmegeräte fungieren als Erweiterungen der Wahrnehmung, die neue Modi des Sehens, Hörens, Erinnerns und Auswertens ermöglichen – aber den Blick und die Aufmerksamkeit auch lenken, fokussieren und filtern. Ethnographie war und ist hier – im Vergleich zu anderen Ansätzen – oft innovativ und experimentell, weil sie technische Medien nicht bloß als Hilfsmittel versteht, sondern (reflektiert) als methodische Werkzeuge, die selbst Teil des Feldgeschehens werden und spezifische Erkenntnisweisen hervorbringen (vgl. MacDougall 2006; Pink 2007; Ginkel 2022; Tuma 2022; Mohn 2023). Insbesondere gilt dies auch für digitale Ethnographien (Kozinets 2019; Dellwing & Tietz & Vreca 2021; Kirschner 2022), da digitale Räume ohne Technik gar nicht betreten werden können. Wie die medientechnischen Möglichkeiten des Zugangs (durch eigene Accounts oder speziell angelegte Profile) Felderfahrungen prägen und rahmen, ist noch eher Problemstellung als Routine. Für die Feldarbeitstage wären in dieser Hinsicht Beiträge von Bedeutung, die zeigen, wie der Gebrauch bestimmter Dinge den ethnographischen Blick orientiert, den Erkenntnisstil prägt und Einfluss auf die Form des Berichtens nimmt; in welcher Weise darin methodologische Dispositionen zum Ausdruck kommen und entwickelt werden; und inwieweit der ethnographische Einsatz von Dingen beim Ethnographieren auf kulturelle, gesellschaftliche und technische Entwicklungen reagiert und in sie eingebunden ist.
Wir freuen uns über Beiträge, die sich mit den vielfältigen theoretischen, methodologisch-methodischen und empirischen Aspekten von Dingen und Materialität in ethnographischer Forschung befassen: über ethnographische Studien zum Dinggebrauch durch die „Feldbewohner*innen“ in deren jeweiligen Habitaten, über Beiträge zur Dingbedeutung in theoretischen und methodologischen Perspektiven sowie über Studien, die sich mit dem Ethnographieren als methodisch kontrollierter und reflektierter Handhabung von Dingen im Forschungsprozess beschäftigen. Richten Sie Ihren Vortragsvorschlag zur „Ethnographie der Dinge“ bitte in Form eines maximal 4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassenden Abstracts bis zum 01. Februar 2026 an Angelika Poferl: angelika.poferl(at)tu-dortmund.de und an Paul Eisewicht: paul.eisewicht(at)uni-muenster.de.
Call for Papers (PDF)