Deadline: 06.10.2025
Grenzsoziologie revisited. Gegenstandsbereiche, empirische Einsichten und theoretische Fundierungen
Call for Papers für eine Tagung vom 26. bis 27. Februar 2026 in Essen. Deadline: 6. Oktober 2025
Grenzen stehen – nicht nur vor dem Hintergrund jüngster politischer Geschehnisse, wie der Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU – im Zentrum aktueller Auseinandersetzungen. Während der Alltagsdiskurs von einem Verständnis von Grenzen dominiert wird, das sie als lineare, politisch-territoriale Demarkationen im Dualismus offen/geschlossen thematisiert, wendet sich die Forschung vermehrt den darüber hinaus gehenden komplexen Beziehungen zu, in denen sich Grenzen gesellschaftlich wiederfinden. Das zwischenzeitlich enorm gewachsene interdisziplinäre Feld der Grenzforschung (international als Border Studies gefasst) betrachtet Grenzen als multidimensionalen und heterogenen Gegenstandsbereich, dessen Einflussgröße innerhalb zeitgenössischer gesellschaftlicher Entwicklungen kaum zu unterschätzen ist. Die Tagung setzt bei der Beobachtung an, dass Grenzen trotz einer lebendigen interdisziplinären Debatte – getragen von vielfältigen Perspektiven aus Geographie, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Sozialanthropologie/Ethnologie und Geschichtswissenschaft – bislang in der Soziologie eine marginale Rolle spielen. Der Vorschlag einer Etablierung der Grenzsoziologie (Eigmüller/Vobruba 2006) liegt beinahe 20 Jahre zurück und seitdem gab es nur vereinzelt darauf aufbauende Ansätze, die Grenzsoziologie programmatisch weiterzuentwickeln. Ziel der Tagung ist es, diesen Vorstoß innerhalb der Soziologie neu aufzugreifen und ein breites Verständnis von Grenzsoziologie zu entwerfen. Insbesondere die im akademischen Diskurs etablierte Unterscheidung zwischen ‚Grenze‘ (border) als räumlicher Markierung und ‚Abgrenzung‘ (boundary making) als kultureller und sozialer Unterscheidungspraxis wollen wir präzisieren, kritisch hinterfragen und Potenziale ihrer (Nicht)Verknüpfung diskutieren.
Die Tagung der Sektion Kultursoziologie möchte eine soziologische Auseinandersetzung mit der Grenze als Begriff, Gegenstandsbereich und Forschungsperspektive bündeln – und neue theoretische, empirische sowie methodologische Impulse für eine Grenzsoziologie bieten. Insbesondere eine kultursoziologische Perspektive stellt Anknüpfungspunkte bereit, um ein breites soziologisches Verständnis von Grenzen zu entwickeln, das neben politisch-territorialen Aspekten auch sozio-kulturelle Identitäten und Praktiken, sowie Formen der Hybridität und Materialität miteinander verbindet. Aus unserer Sicht muss ein soziologisches Verständnis von Grenzen sowohl politisch-territoriale Demarkationen wie auch sozio-kulturelle Differenzierungen umfassen. Über essentialistische Konzeptualisierungen hinausgehend, steht die Frage im Zentrum, wie Grenzen als kulturelle Formen, als Gegenstand von Wissensordnungen, als Emergenzort von spezifischen Praktiken produziert, verhandelt und transformiert werden. Abgeleitete Fragestellungen, die wir bei der Tagung diskutieren wollen, umfassen unter anderem:
In welchen Prozessen wird Grenze als kulturelle Form hervorgebracht, und wie interagiert dies mit politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnungen? Wie werden kulturelle Praktiken, Rituale und Narrative in der Konstruktion und Aufrechterhaltung von Grenzen wirksam? Wie manifestiert sich die Symbolisierung von Differenzen in der kulturellen Verfasstheit von Grenzen? Wie lassen sich die konstituierenden Prozesse und die Wirkmacht von Grenzen in ihrem praktischen Vollzug beschreiben? Wie manifestieren und transformieren Grenzen Machtverhältnisse, soziale Ungleichheiten und Konflikte? Welche Formen von Grenzüberschreitungen lassen sich identifizieren und welchen Beitrag leisten sie zur Aufrechterhaltung oder Auflösung von Grenzen?
Willkommen sind Beiträge, die die Vielschichtigkeit von Grenzen beleuchten – von der Kulturalisierung und Materialisierung von Differenzen über administrativ-bürokratische Praktiken von Grenzregimen hin zu sozialen Dynamiken in und um Grenzräume. Die Tagung bietet ein Forum, um unterschiedliche theoretische, methodologische und empirische Perspektiven zu diskutieren und ihr innovatives Potential für eine Soziologie der Grenze zu erörtern. Mögliche Themenfelder umfassen:
- Theoretische und methodologische Reflexionen zur Grenze als Grundbegriff der Soziologie
- Grenzen als kulturelle Formen und Prozesse und ihre Beziehung zur Ordnungsbildung
- Grenzen und Grenzräume als alltägliche Lebenswelten und Erinnerungskulturen
- Ästhetiken und symbolische Formen der Grenze
- Materialität, Design und Infrastrukturen von Grenzen und Grenzräumen
- Grenzüberschreitungen, Übergangszonen und Verhandlungsprozesse an Grenzen
- Verhältnisse von Grenzen, (Im)Mobilität und Staatlichkeit
- Verhältnisse zwischen lokaler Gestaltung und globaler Normen, Sicherheitspolitiken und Wissensordnungen bei der Produktion von Grenzen
- Grenzen als Distinktionspraxis: Kategorisierungen, Differenzierungen, und Intersektionalität
Beitragsvorschläge im Umfang von max. einer Seite können bis zum 6. Oktober 2025 gesendet werden an: vivien.sommer(at)leibniz-irs.de und dominik.gerst(at)uni-due.de.
Ziel der Veranstaltung ist nicht nur die soziologische Auseinandersetzung mit Grenzen, sondern auch die Vernetzung von Forschenden zu diesem Thema. Die Tagung soll eine Plattform bieten, um die Gründung eines Arbeitskreises Grenzsoziologie zu schaffen. Aus unserer Perspektive hat eine eigenständige Soziologie der Grenze das Potenzial, analytische und theoretische Perspektiven innerhalb der Soziologie zu erweitern. Dabei gilt es, die vielfältigen Facetten von Grenzen – von ihrer materiellen und räumlichen Ausgestaltung bis hin zu ihrer symbolisch-kulturellen und gesellschaftlichen Wirksamkeit – systematisch zu erfassen.
Die Tagung wird begleitet von Keynote-Vorträgen von Prof. Dr. Elżbieta Opiłowska (Universität Wrocław) und Prof. Dr. Rudolf Stichweh (Universität Bonn). Die Tagung der Sektion Kultursoziologie wird organisiert von Dr. Annett Bochmann (Humboldt Universität zu Berlin), Dr. Ulla Connor (Universität des Saarlandes), Dr. des. Dominik Gerst (Universität Duisburg- Essen) und Dr. Vivien Sommer (Leibnitz Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner).