Deadline: 01.11.2025
Nationale Identitäten und Nationalismus: Eine ewige Suche nach Zugehörigkeit, Echtheit, Selbstwert und Stärke?
Call for Papers für einen Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management. Deadline: 1. November 2025
Territoriale Zugehörigkeiten und Identitäten sind für viele Menschen ein zentraler Aspekt, wenn es darum geht, beschreibbar zu machen, was einen selbst oder andere wesentlich ausmacht. Beispiele für solche identitätsstiftenden Territorien sind Dörfer, Stadtteile, Städte oder Regionen. Das wirkmächtigste, die kleinteiligeren territorialen Identitäten häufig verbindende territoriale Konzept ist allerdings das politische Konzept der Nation. Obwohl diese Idee mit einigen hundert Jahren noch relativ jung ist, und obwohl es mit dem europäischen Einigungsprozess in der Vergangenheit durchaus Bestrebungen gab, die Basis für die Etablierung einer europäischen Identität zu schaffen, so haben nationale Identitäten innerhalb der EU noch immer „einen ganz wesentlichen Anteil daran, wie Menschen sich selbst oder andere verstehen“ (Antonsich 2009: 281). In fast ganz Europa deuten die Wahlergebnisse der letzten Jahre an, dass die Bedeutung nationaler Identitäten im letzten Jahrzehnt wohl eher noch zu- als abgenommen hat.
Im deutschsprachigen Diversitydiskurs spiegelt sich diese Bedeutung allerdings bisher nur sehr eingeschränkt wider. Wenn es um herkunfts- oder abstammungsbezogene Prozesse der Ab-, Aus- und Eingrenzung bzw. Ab- und Aufwertung geht, wird zumeist mit dem Konzept „Rassismus“ argumentiert. Dadurch werden die identitätsstiftenden und damit auch polarisierenden Potentiale nationaler Zugehörigkeiten komplett übersehen und stattdessen primär phänotypische Merkmale (wie z.B. Hautfarbe) als ausschlaggebend für diese Prozesse angenommen.
Nimmt man bspw. die zahlreichen bei der Euro 2024 der Männer abgelaufenen Diskussionen und Zuspitzungen, die thematisieren, inwiefern einzelne Spieler wirklich „echte“ Landsleute des Landes sind, für das sie spielen, so sind die dabei ablaufenden Dynamiken sicher zu einem bedeutenden Teil auch unter rassistischen Perspektiven einzuordnen, und damit auch basierend auf dem physischen Aussehen der Spieler. Nimmt man aber nun die deutlich mobilisierenderen und intensiveren Dynamiken, die im Umfeld der einzelnen Spiele innerhalb und zwischen den einzelnen Fangruppen ablaufen (und z.T. auch zwischen den Spielern und in der Interaktion zwischen Fans und Spielern), so sind dies eindeutig nationalitätsbezogene Dynamiken, die mit genau dem Konstrukt verbunden sind, das die Spieler in dem Moment repräsentieren, eben der Nation. Bestimmte religiöse Massenrituale einmal außen vor gelassen, gibt es heutzutage eigentlich keine rein im Diesseits verhafteten Veranstaltungen, die, auch über den konkreten Veranstaltungsort hinausgehend, ein größeres emotionalisierendes Potential für eine so große Zahl an Menschen haben als die großen Fußballturniere, in denen Nationen gegeneinander antreten. Diese Emotionalisierung – in welche Richtung auch immer gerichtet – ist dabei ganz stark verknüpft mit dem Gefühl von Zugehörigkeit und der Sehnsucht nach Selbstaufwertung, Einzigartigkeit und Stärke. Selbst einem stark mobilisierenden ganz anderen Wettbewerb wie dem Eurovision Song Contest kann man eine gewisse nationalistische Mobilisierung nicht absprechen, schon alleine, weil auch hier Repräsentant*innen von Nationen gegeneinander antreten.
Diese auf dem politischen Konzept der Nationen und Nationalitäten basierenden Dynamiken wirken natürlich nicht nur bei derart institutionalisierten Kumulationspunkten nationaler Identifikation, sondern auch im alltäglichen Leben und in alltäglichen Begegnungen, beispielsweise in Familien, Freund*innenkreisen, Vereinen und Beruf. Das Ziel dieses Themenheftes ist es, Perspektiven auf diese Dynamiken aufzuzeigen und damit auch die Besonderheiten und die Bedeutung der Vielfaltsdimension Nationalität im Diversitätsdiskurs stärker herauszuarbeiten. Der Call ist daher offen für alle Disziplinen und Verbindungen von Disziplinen, die zu dieser Debatte beitragen können, wie bspw. Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaft, Sprachwissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie, Pädagogik, Medienwissenschaft, Rechtswissenschaft, Kulturwissenschaft oder Geschichtswissenschaft.
Eingereicht werden können empirische, konzeptionelle oder theoretische Beiträge. Mögliche Fragestellungen, die aber nicht als ausschließlich zu verstehen sind, können beispielsweise sein:
- Wie manifestieren sich und wie wirken nationalitätsbezogene Dynamiken im Arbeitsalltag oder im Alltag allgemein? Welches sind die relevanten Kategorien zur nationalen Einordnung und Selbstvergewisserung und wie wirken sie (Sprache, Aussprache, Aussehen, Ansichten und Meinungen, Verweildauer, Vor- und/oder Nachname, Religion, Familiengeschichte, etc.)?
- Welche Bedeutung haben multi- bzw. transnationale (die zwei oder mehr Nationen umfassen), nationenfreie, europäische oder kosmopolitische/weltbürgerliche Identitäten? Wie laufen hier die Prozesse der Selbstvergewisserung und Abgrenzung ab? Welcher Gegen- und Rückenwind besteht in Alltag, Beruf, privatem Umfeld, Religionsgemeinschaft, Familie, etc.?
- Welche Rolle spielen die sozialen Medien in den nationalitätsbezogenen Dynamiken? Welche Rolle spielen die jeweils „nationalen“ Medien in den jeweiligen Nationalsprachen? Welche Rolle spielen diese Medien für Personen mit Migrationsgeschichte? Welche die Politik?
- Welche Rolle spielen Schulen, Kindergärten, Sportvereine, religiöse Bildungsstätten, etc.? Was sind die Besonderheiten dieser nationalitätsbezogenen Dynamiken und Prozesse an diesen Orten?
- Welche neuen bzw. alternativen theoretischen Erklärungsmodelle für diese Dynamiken sind denkbar?
- Wie hängen nationalitätsbezogene Dynamiken zusammen mit solchen, die auf anderen Diversitätsdimensionen basieren? Wie beeinflussen sich diese Dynamiken in Bezug auf Verschiebung, Verstärkung oder Abschwächung von Grenzziehungen oder von Auf- und Abwertungstendenzen?
- Welche Bedeutung hat eine formale Staatsbürgerschaft (der Besitz eines Passes) für die nationale Selbst- und Fremdidentifikation? Welche anderen Faktoren sind vielleicht wichtiger?
- Welchen Einfluss hat die rechtliche Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaften? Wie verändert das die nationalen Selbst- und Fremdidentifikationen? Welche Dynamiken führen dazu, dass Menschen sich mit einer Nation mehr oder mit beiden gleich oder mit keiner (mehr) identifizieren?
Für den doppelt blind begutachteten Teil dieses Schwerpunktheftes können wissenschaftliche Langbeiträge im Umfang von 35.000 bis max. 45.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) eingereicht werden. Zudem sind Kurzbeiträge aus Wissenschaft und Praxis willkommen: Skizzen zu Forschungsprojekten, pointierte Stellungnahmen und (gern provokante) Positionen sowie Praxisbeispiele und -berichte. Solche Beiträge sollen zwischen 12.000 und 15.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassen.
Die Frist zur Einreichung für wissenschaftliche Langbeiträge zum Schwerpunktthema ist der 01.11.2025. Kurzbeiträge aus Wissenschaft und Praxis können bis 01.02.2026 eingereicht werden.
Bitte reichen Sie Ihre Beiträge per E-Mail bei dem Herausgeber dieses Schwerpunktheftes ein. Auch Fragen zu diesem Schwerpunktthema richten Sie bitte vorab an thomas.koellen(at)unibe.ch.
Auf der Webseite https://zdfm.budrich-journals.de finden Sie weitere Hinweise für Autor*innen zur Gestaltung Ihres Beitrags sowie zur Manuskripteinreichung für themenoffene Beiträge zu diesem und weiteren Heften der ZDfm.
Ich freue mich auf Ihre Einreichungen!
Thomas Köllen, Universität Bern, Institut für Organisation und Personal
Literatur:
Antonsich, Marco (2009). National identities in the age of globalisation: The case of Western Europe. National Identities, 11(3), 281–299. doi: 10.1080/14608940903081085.