Deadline: 10.10.2025
Politische Ontologie(n): Spielarten – Anwendungen – Kritiken
Call for Abstracts für eine Tagung vom 26. bis 27. Februar 2026 in Kassel. Deadline: 10. Oktober 2025
„[T]he relation between being and politics, which is the basis of political ontology, has been understood in very different ways.“ Dieser Satz Roberto Espositos umreißt den Ausgangspunkt dieser Tagung. Denn zum einen wird darin deutlich, was auf dem Spiel steht, setzt man sich – wie wir es vorhaben – mit politischer Ontologie auseinander: nicht weniger als das Verhältnis von Sein und Politik. Zum anderen macht Espositos Satz deutlich, dass unterschiedliche Vorstellungen davon existieren, wie dieses Verhältnis zu fassen sei. Offenbar gibt es derzeit, in den Worten Oliver Marcharts, so etwas wie ein „ontopolitical need“, ein Verlangen danach, die Konstitution sozialer Ordnung, ihre Disruption und ihren Wandel ausgehend vom Verhältnis von Sein und Politik aufzuschlüsseln. Wie genau das gelingen kann, auf diese Frage finden unterschiedliche Ansätze – von der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) über neue Materialismen und postkoloniale Theorien bis hin zur radikalen Demokratietheorie – unterschiedliche Antworten. Allen ist allerdings gemein, dass sie politische Ontologie prominent diskutieren.
Mit Blick auf die genannten Theorien kann das durchaus überraschen. Waren es nicht gerade diese Denkrichtungen, die den klassischen philosophischen Großbegriffen – wie eben Ontologie, aber auch etwa Metaphysik und Epistemologie – mit Skepsis begegneten, sie oftmals gar verabschiedeten? Und das nicht ohne Grund: Immerhin gelten Versuche, die Grundlagen des Seins eindeutig, universell und überzeitlich festschreiben zu wollen, als Inbegriff (problematischer) westlich-modernistischer bzw. rationalistischer Essentialisierungen, die in der Geschichte des Denkens enorme (auch enorm erkenntnisbehindernde) Machtwirkung entfaltet haben. Vertreter:innen des um die Jahrtausendwende zunächst vor allem in der Kulturanthropologie einsetzenden ontological turn wenden sich daher vehement gegen jeden Versuch der Bestimmung eines vermeintlichen ‚Sein an sich‘. Das Konzept der politischen Ontologie(n) entfaltet – entgegen der originären Gebrauchsweise des Ontologiebegriffs – offenbar dort besondere Anziehungskraft, wo Wirklichkeit gerade nicht als eine vorgestellt und erfasst werden soll. Politische Ontologie steht für ein transformatives Verständnis von (sozialer) Realität. Eine dezidiert politische Ontologie schärft den Blick dafür, dass der Status quo stets mit Alternativen konfrontiert wird, die (zumindest potentiell) andere Realitäten einrichten können – so lautet wohl der kleinste gemeinsame Nenner der gegenwärtigen Spielarten der politischen Ontologie.
Wie erklärt sich die große Anziehungskraft des Konzepts der politischen Ontologie? Welche empirischen und theoretischen Möglichkeiten bietet es, welche unterschiedlichen Verwendungsweisen lassen sich feststellen? Eröffnet es neue Erkenntnismöglichkeiten etwa mit Blick auf Politik und die Stellung des Politischen in der Gesellschaft? Verändert es beispielsweise den Blick auf klassische Themen der Politischen Soziologie – von Staatlichkeit über Governance und Gouvernementalität bis hin zu Politisierung und politischer Mobilisierung? Oder zieht man sich – auch solche Sorgen können adressiert werden – mit diesem Konzept nicht doch eher alte Probleme zu, schafft sich vielleicht sogar neue? Diesen und ähnlichen Fragen widmet sich die Frühjahrstagung 2026 der DGS-Sektion Politische Soziologie. Beantwortet werden können sie auf ganz unterschiedliche Weisen: Beiträge können das Potential (und die Grenzen) des Konzepts empirisch oder theoretisch ausloten, sie können sich an einer Kartierung verschiedener Verwendungsweisen versuchen oder sich in (kritische) Grundsatzdiskussionen vertiefen. Mögliche Anknüpfungspunkte skizzieren wir in der Folge entlang dreier korrespondierender Begriffe:
a) Realität:
Politische Ontologie ist ein Kampfbegriff, der gegen Vorstellungen in Stellung gebracht wird, (soziale) Unterschiede und Kämpfe wären Effekte bloß unterschiedlicher Perspektiven auf ‚die‘ Wirklichkeit. Solche „Perspektivismen“, wie Annemarie Mol sie kritisch nennt, können die Pluralität der (sozialen) Welt zwar erfassen, aber bloß als Oberflächenphänomen. Implizit steckt demnach in der Rede von ‚Perspektiven‘, ‚Kulturen‘ oder auch ‚sozialen Konstruktionen‘ die Vorstellung, dass es letztlich doch nur eine Form des ‚In-der-Welt-Seins‘ gebe und diese nur unterschiedlich betrachtet würde – der Verständigung scheinen dann keine Hürden im Weg zu stehen, die sich nicht diskursiv (durch rationale Gespräche), überwinden ließen. Der Ontologiebegriff dient in Abgrenzung davon dazu, die Vorstellung von der Pluralität der Welt sozusagen ‚eins tiefer‘ zu legen, sie in verschiedenen ‚Realitäten‘ oder eben Seinsweisen zu verankern und damit als Grundlagenphänomen ernst zu nehmen. „[P]olitical ontology embraces the notion of cosmopolitics, along with its proposal of a pluriverse of divergent existents and collectives that are constantly worlding themselves“, so Mario Blaser. Insbesondere in der ANT, den neuen Materialismen und verwandten Ansätzen (etwa Affekttheorien) geht dies einher mit einer Kritik an sinn-, symbol-, text- oder diskursvermittelten Wirklichkeitsvorstellungen; ihnen wird die Bedeutung sozio-materieller Gefüge entgegengehalten. An diese Bestimmungen schließen viele Fragen an:
Welche distinkten Seinsweisen lassen sich empirisch beobachten, und wie gelingt solche Beobachtung? Treten derartigen Seinsweisen vor allem in Abgrenzung zur (westlichen) ‚Moderne‘ in Erscheinung?
Kann die Nutzung des Konzepts der politischen Ontologie tatsächlich zur Dezentrierung bzw. Überwindung eurozentrischer Modernitätsvorstellungen beitragen? Wo liegen Potentiale, wo Grenzen?
Bringt der Begriff der Ontologie tatsächlich einen Mehrwert gegenüber der Beschreibung von (sozialer) Pluralität mit Begriffen wie etwa Kultur, die bereits in den Cultural Studies als whole way of life begriffen wurde?
In welchem Verhältnis steht das Plädoyer für eine konstitutive ontologische Pluralität zu der Vorstellung, dass der Kapitalismus als eine globale Ontologie (Vogl 2021) operiert, welche die Vorstellungsformen und Seinsweisen auf einer grundlegenden Ebene strukturiert?
b) Konstitution:
Die beschriebene ontologische Wende vollzieht sich jedoch nicht als Rückkehr zu naivem Positivismus oder transzendentaler Metaphysik, die Realität unterschiedlicher Seinsweisen tritt vielmehr in ihrem Geworden-Sein in den Fokus. An dieser Stelle ist das Politische der politischen Ontologie verortet: Vor dem Hintergrund der Einsicht, dass Wirklichkeit kontingent, also prinzipiell auch anders möglich ist, stellt sich die Frage, wie bestimmte Seinsweisen die Beharrungskraft und Unhintergehbarkeit gewinnen, die sie die Qualität einer Realität sui generis annehmen lassen. Während manche Theorien vor allem die Bedeutung hybrider Verknüpfungen oder sozio-materieller ‚entanglements‘ in den Vordergrund rücken, stellen zum Beispiel radikale Demokratietheorien auf die welterzeugende Bedeutung des Konflikts scharf. Dies führt zu neuen Fragen:
Welche Prozesse bringen Seinsweisen hervor, wie werden sie stabilisiert, wodurch geraten sie ins Wanken? Welche Rolle spielen dabei institutionelle Formen von Politik?
Welche Konsequenzen hat die Prominenz des Begriffs der politischen Ontologie für die Begriffe von Politik bzw. Politischem? Folgt daraus zwangsläufig die Vorstellung einer politischen Fundierung von Gesellschaft? Ist Politik immer gleichermaßen relevant für die Vorstellung multipler Ontologien? Kurzum: Was kennzeichnet die Kategorie der politischen Ontologie?
Tendiert der Begriff der politischen Ontologie zu jener Kontingenzhypostasierung, wie sie im Feld des Poststrukturalismus traditionell vorherrscht? Ob und wie können politische Ontologien auch Momenten der Ordnung und Sedimentierung sozialer Verhältnisse gerecht werden? In welchem Verhältnis steht der Begriff der politischen Ontologie zu jenem der Gouvernementalität, mit dem Praktiken der Welterzeugung und der (Selbst-)Regierung als konstitutiv gekoppelte gedacht werden?
Inwiefern ermöglicht die grundsätzliche Affirmation unterschiedlicher Seinsweisen die kritische Auseinandersetzung mit spezifischen, auch potentiell problematischen (z.B. autoritären) Formen des ‚worldings‘?[10] Welche Rolle spielt dabei die eigene politische Positionierung der Forschenden?
c) Differenz:
Die besondere Leistung des Konzepts der politischen Ontologie liegt, so hatten wir gesagt, in der Etablierung eines in verschiedenen Realitäten gegründeten Pluralismus. Das bedeutet aber zugleich, dass auch (soziale) Unterschiede und Kämpfe von einer grundlegenden Differenz her gedacht werden müssen, in postkolonialen Diskursen ist mithin von „radikaler Differenz“[11] die Rede – was den Blick dafür schärft, dass entsprechende Unterschiede eben nicht diskursiv einholbar sind. Insbesondere gilt das, so betonen gerade Kulturanthropolog:innen, für die Differenz zwischen modernen und nicht-modernen Existenzweisen. In der radikalen Demokratietheorie wird dagegen das Differenzprinzip an sich auf die ontologische Ebene verschoben, getreu Tardes Motto, „existieren heißt differieren“.[12] Für diese spezifische Ausprägung politischer Ontologie spielt daher die Idee einer ontisch-ontologischen Differenz eine zentrale Rolle, die das Politische (im Unterschied zur Politik[13]) auf ontologischer Ebene ansiedelt und als antagonistisches Moment der Einrichtung von Gesellschaft installiert.[14] So manifestiert sich möglicherweise auf epistemologischer Ebene eine radikale Differenz zwischen den Vertreter:innen verschiedener Spielarten von politischer Ontologie: Während sich postkoloniale, anthropologische und neo-materialistische Ansätze gegen jede Form der Festschreibung von Ontologie verwehren, weisen radikal-demokratische Ansätze dem Moment der (antagonistischen) Instituierung oder Infragestellung des Sozialen ein ontologisches Primat zu – und explizieren damit eine Prämisse, die andernorts als theoretische Entscheidung implizit bleibt.
Ob und wie kann – vor dem Hintergrund der Idee ‚radikaler Differenz‘ – die Vermittlung verschiedener Ontologien geschehen? Wie ist die Erzeugung gemeinsamer Welten zu verstehen? Lässt sich ein solcher Vorgang anhand von Fallstudien auch empirisch zeigen?
Welche Unterschiede in der theoretischen Bezugnahme auf die Leitkategorie „Differenz“ lassen sich konkret herausarbeiten, und welche – theoretischen und empirischen – Konsequenzen haben sie? Ist ein bestimmtes Verständnis zu bevorzugen, und wenn ja, warum?
Inwiefern kann der Fokus auf politische Ontologie tatsächlich auf einer normativen Ebene zur Herausbildung ‚besserer Welten‘ jenseits problematischer Formen von westlich-kapitalistischer Modernität beitragen?Kontakt
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Wir freuen uns über Beiträge, die auf diese oder verwandte Fragen im Terrain der Theorie, der Empirie oder des Empirie-Theorie-Dialogs nach Antworten suchen. Wir bitten um aussagekräftige Abstracts (bis 400 Wörter) in deutscher oder englischer Sprache bis zum 10. Oktober 2025 an: jennifer.brichzin(at)unibw.de und conrad.lluis(at)uni-kassel.de
Wissenschaftler:innen mit begrenzten finanziellen Ressourcen (aufgrund von Stipendien, Erwerbslosigkeit usw.) können die (partielle) Erstattung ihrer Reisekosten beantragen. Sollte dies für Sie zutreffen, dann ergänzen Sie das Abstract um eine kurze Begründung sowie eine Aufstellung der beantragten Kosten.
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