Deadline: 15.12.2025

Sensorische Re-Situierungen: Die Sinne in techno-ökologischer Veränderung

Call for Papers für eine Konferenz vom 11. bis 12. Juni 2026 in Essen. Deadline: 15. Dezember 2025

In der klassischen Aufzählung der Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten – haben Sehen und Hören lange eine Vorrangstellung eingenommen. Die sogenannten „niederen Sinne“ (Georg Simmel) wie Riechen, Schmecken und Fühlen – und andere Sinne wie der Temperatursinn (Thermozeption), der Gleichgewichtssinn oder der Bewegungssinn (Vestibular- und Propriozeption) – wurden oft abgewertet bzw. übersehen, sowohl in gesellschaftlichen Sinneshierarchien als auch in der soziologischen Theorie. Meist wurden die Sinne dabei in binären Schemata klassifiziert: als Nah- vs. Fernsinne, als körperlich vs. kognitiv verankert oder eben als „höhere“ vs. „niedrigere“ Fähigkeiten des menschlichen Körpers.

Dagegen mehren sich seit einiger Zeit sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge, die diese Hierarchien kritisch befragen und das Sensorium als Ganzes adressieren (Ong 2000; Howes 2006; Vannini et al. 2012; Mondada 2021). Insbesondere das interdisziplinäre Feld der „Sensory Studies“ hat dazu beigetragen, Sinnlichkeit jenseits klassischer Dualismen (Subjekt / Körper, Körper / Umwelt, Kultur / Natur, aktiv / passiv) zu konzipieren. Dabei kommt auch den traditionell vernachlässigten Sinnen neue Aufmerksamkeit zu: Unterschiedliche Studien haben sich dem Riechen und Schmecken (Corbin 1982; Fine 1995; Liberman 2022; Mondada 2024a, b), der Berührung und Bewegung (Classen 2005; Paterson 2007; Potter 2008; Meyer / Wedelstaedt 2018; Uzarewicz 2023) oder der Thermozeption (Ong 2012; Allen-Collinson / Hockey 2018; Beregow 2025) zugewandt.

Die Tagung möchte an diese Bemühungen anknüpfen. Im Zentrum steht dabei eine Re-Situierung der Sinne im Lichte technologischer und ökologischer Transformationen. Soziotechnische Entwicklungen wie Sensorik, Robotik, KI und VR, aber auch ökologische Krisenphänomene – z.B. Hitzewellen, Luft- und Lichtverschmutzung – stellen die Sozialität des Sinnlichen vor neue Bedingungen. Wir schlagen daher vor, die Sinne stärker in soziologische Debatten zu soziomateriellen Durchlässigkeiten und Relationen zu positionieren, um ihr sowohl theoriebildendes als auch empirisch-gesellschaftsanalytisches Potenzial weiter ausschöpfen zu können.

Dabei werden folgende Fragen wichtig: Was bedeutet es für unser Verständnis von Interaktion, diese nicht primär kognitivistisch vom Sinn her zu denken, sondern von der Materialität der Sinne? Welche neuen sensorischen Beziehungen entstehen durch maschinelle bzw. hybride Wahrnehmungsformen etwa durch Sensoren oder KI? Wie verändern ökologische Krisenphänomene die metabolischen und affektiven Austauschbeziehungen – wie riecht und schmeckt Klimawandel? Welche (neuen) Sinnes-Politiken entstehen dabei, und wie erzeugen und reproduzieren diese soziale Differenzen?

Der Fokus auf die techno-ökologische Relationalität des Sinnlichen verspricht zudem, die Sinne – durch, mit und gegen „klassische(n)“ Positionen – gesellschafts- wie sozialtheoretisch neu zu adressieren. Neben Simmels Soziologie der Sinne (1992 [1907]) bieten etwa Plessners philosophische Anthropologie der Leiblichkeit und Positionalität (2003 [1928]), Merleau-Pontys leibphänomenologische Theorie der Wahrnehmung (1976 [1945]), Gurwitschs Phänomenologie der Gestaltwahrnehmung (1964) oder auch Michel Serres’ anti-kartesische Theorie der fünf Sinne (1998) Anknüpfungspunkte.

Aufgegriffen und weiterentwickelt wurden diese etablierten Linien in ganz unterschiedlichen soziologischen Debatten um die Sinne. (Neo-)Phänomenologische Soziologien (Schütz / Luckmann 2003; Gugutzer 2012; Lindemann 2014) und die Wissenssoziologie (u.a. Raab 2001; Eisewicht et al. 2021; Singh 2022; Kirchner 2025) haben auf alltäglich-habituelle, aber auch professionalisierte und institutionalisierte Formen sinnlichen Wissens aufmerksam gemacht. Praxeologische und interaktionssoziologische Forschungen zur Multisensorialität (Göbel / Prinz 2015; Mondada 2021) sowie zu Interkorporalität (Csordas 2008; Meyer et al. 2017) haben in diesem Zusammenhang Perspektiven eröffnet, um die sinnlichen Verkörperungen sozialen Handelns als prozesshaft und performativ zu erforschen (vgl. auch Hirschauer 2008). Insbesondere Ethnomethodologie und multimodale Konversationsanalyse fokussieren dabei die Konstitution sinnlicher Wahrnehmungen in sozialen Interaktionen (Coulter / Parsons 1991; Gibson / vom Lehn 2021; Goico et al. 2021; Lynch / Eisenmann 2022).

Zentral für unser thematisches Interesse an techno-ökologischen Sinneskonstellationen sind zudem Arbeiten aus den Science and Technology Studies (Burri et al. 2011; Calvillo 2018; Mol 2021), in denen sich vielfältige Anschlüsse zur Analyse der (posthumanen) Materialität des Sinnesapparats finden (vgl. Ochsner / Stock 2016; Paterson 2025). Angesichts unterschiedlicher Betroffenheiten und Vulnerabilitäten, etwa durch die Folgen der Klimakrise, stellt sich schließlich die Frage nach der Rolle von Sinnesregimes für Asymmetrien, Ausschlüsse und Formen des umweltlichen Ausgesetztseins. In dem Kontext haben etwa marxistische Perspektiven auf sinnliche Arbeit und Entfremdung (Howes 2006), Stimmen zur Dezentrierung des westlichen Sensoriums (etwa Low 2019; Sekimoto / Brown 2020) sowie die feministische Kritik an der Hierarchisierung von Sinneswahrnehmung (etwa Classen 1997) ein kritisches Instrumentarium geliefert.

Wir freuen uns, neben vielfältigen theoretischen Beiträgen, über solche, die sich (zugleich) praxis- und materialnah der somatischen Arbeit der Sinne nähern und diese im techno-ökologischen Kontext adressieren.

Mögliche Themenfelder:

  • (Re-)Theoretisierungen der Sinne in ihrer Durchlässigkeit und Verflechtung: phänomenologisch, philosophisch-anthropologisch, (neu-)materialistisch, kritisch-theoretisch, post-humanistisch, materiell-semiotisch, affekttheoretisch, praxistheoretisch etc.
  • Soziologien des Riechens, Schmeckens, Tastens, Spürens, Bewegens, Temperaturerlebens
  • Sensorik jenseits des Menschen: KI, Sensoren, Algorithmen
  • Infrastrukturierung, Räumlichkeiten und die Umwelten des Sinnlichen: Atmosphären, Affekt, sozialer Sinn etc.
  • Das Sinnliche in Sport, Performance, (alltäglicher) Bewegung
  • Intersektionale Politiken der Sinne: Differenz, Exklusion, (De)Sensibilisierung, lokale Differenzen
  • Sinnliches Erleben techno-ökologischer Transformationen (Hitze, Luftveränderungen, chemische Infrastrukturen, Waldsterben etc.)
  • Techniken der Sinnesmodulation und -wiederherstellung: Training, Design, Meditation
  • Die leiblich-sinnliche Dimension von Gesundheit, Krankheit, Pflege, Therapie, (dis-)ability, Sexualität u.v.m.
  • Intersubjektivität, Interkorporalität und Interobjektivität sinnlichen Erlebens 

Einreichung von Beiträgen:

Bitte senden Sie Abstracts (max. eine Seite) bis zum 15.12.2025 an Elena Beregow (elena.beregow(at)college-uaruhr.de) sowie an Lisa Wiedemann (wiedemal(at)hsu-hh.de). 

Weitere Informationen (LINK)

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